Zauberreise. Sonja Spitteler

Zauberreise - Sonja Spitteler


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und Geburt und Tod so dicht beieinanderlagen. Das Lied erlebte eine unvergleichliche Freude und Liebe zu jedem Augenblick, den es beim Bienenvolk verbringen konnte.

      Und es spürte, dass es den Bienen ebenso ging. Sie wussten, dass von ihrem Tun so viel mehr als nur ihre eigene Zukunft abhing. Mit jedem neuen Morgen wuchs die Liebe des Liedes für das Bienenvolk. Langsam begann seine Stimme zu heilen. Hin und wieder konnte es sogar singen und jedes Mal wurde danach neues Leben geboren.

      In den höchsten Tönen schwärmend stimmte es ein Lied für sie an:

       Kleine Prinzessin im gestreiften Kleid,

       trägt ihre sechs gelben Stiefel mit Stolz.

       Entzückt ist die Blumenwelt, wenn sie naht,

       ein leises Summen auf den Lippen, verzaubert sie die Welt mit einem Herz aus Gold.

      Während all dieser Zeit hatte der Dieb verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, die Erde zu betreten. Aber Mutter Erdes Schutzschild ließ ihn einfach nicht passieren. Nach endlosen Runden und Versuchen gab es für den Dieb nur noch einen Ausweg: Er musste zurück zu Großvater Sonne.

      So machte sich der Dieb auf den Heimweg. Nicht nur, dass er die Schönheiten des Universums auf seiner Reise gar nicht mehr wahrnahm. Es war ihm auch entgangen, dass die Schwingungen sich verändert hatten. Das Leben war stehengeblieben, die Fruchtbarkeit verschwunden, die Lieder stumm.

      Niemand sah ihn an oder sprach gar nur ein Wort mit ihm, als er nach Hause kam. Wortlos schlich er sich zu Großvater Sonne und konnte nur tatenlos zusehen, wie dieser versuchte, das Gleichgewicht in seinem Sonnenreich wiederherzustellen.

      In Erwartung von Zorn und Strafe zog der Dieb den Kopf ein, doch nichts geschah. Der Großvater stand nur da und sah ihn an. In seinen Augen erblickte er Sorge und Mitgefühl. Da weinte der Dieb bittere Tränen.

      „Mein Sohn“, sagte der Großvater leise, „ich habe mir nie gewünscht, dass du mir dienst. Natürlich bin ich alt und weiß vieles, aber eines Tages, da werde auch ich nicht mehr hier sein. Deswegen hat die Urmutter uns die Lieder geschenkt.

      Sie werden alles überdauern, auch uns. Sie kennen das Leben und wenn wir mit dem Herzen hören, dann lassen sie uns an ihrem Wissen teilhaben. Deshalb wirst du mich jetzt auch auf der Suche nach dem Lied begleiten.“

      Dank Großvater Sonne konnten sie den Schutzschild von Mutter Erde mühelos durchdringen und je näher sie dem Boden kamen, umso größer wurde ihr Staunen. Mutter Erde strahlte in allen erdenklichen Farben und schon von weit her konnte man das fröhliche Summen hören. Ein großer Bienenschwarm tanzte ausgelassen um das Lied herum und das Lied, es sang. Es sang mit solch betörender Schönheit, dass die Fruchtbarkeit sich ausdehnte, weit über die Grenzen von Mutter Erde, hinaus ins endlose All. Neue Wesen und Orte wurden geboren und die anderen Lieder tanzten wieder frei durch das Universum.

      Da entdeckte das Lied Großvater Sonne und den Dieb. Aufgeregt winkte es die beiden zu sich heran. Inmitten der Bienen glänzte etwas golden und je näher der Großvater kam, umso heller begann es zu strahlen.

      „Seht“, rief das Lied freudig aus und zeigte auf das Nest der Bienen. „Die Bienen, sie haben meiner Stimme einen Körper gegeben.“

      Und tatsächlich. Dort aus den noch frischen Waben tropfte eine goldene Flüssigkeit. Ein süßer Duft ging von ihr aus.

      „Das Herz“, meinte das Lied. „Ich habe mein Herz geöffnet und die Bienen haben dies daraus gemacht. Sie nennen es Honig und sie ehren damit dich, lieber Großvater Sonne, und das Leben.“

      Vorsichtig steckten sich Großvater Sonne und der Dieb etwas von der klebrigen Flüssigkeit in den Mund. Sie probierten und blickten sich verzückt an.

      „Etwas so Köstliches habe ich wahrlich noch nie gegessen“, bemerkte der Großvater strahlend.

      Der Dieb aber war ungewöhnlich still geblieben. Langsam ließ er den süßen Honig auf seiner Zunge zergehen.

      Für ihn hätte dieser Moment ewig währen können, denn dank des Honigs verflogen all seine Sorgen und er konnte klarer sehen als jemals zuvor. Er dachte an seinen Bruder. Ihm würde der Honig sicherlich auch ganz wunderbar schmecken. Unauffällig schlich er näher an die Bienenwabe heran und während Großvater Sonne und das Lied mit den Bienen Konversation betrieben, steckte sich der Dieb etwas Honig in die Tasche.

      „Dies ist das letzte Mal, dass ich stehle, und dieses Mal ist es auch nicht für mich selbst“, sagte er zu sich.

      Bald darauf machten sie sich auf den Heimweg, denn auch wenn das Lied bei den Bienen sehr glücklich war, gehört es doch zu seinen Geschwistern. Es beschloss, das Bienenvolk und Mutter Erde von nun an regelmäßig zu besuchen. Denn nichts, was es zuvor erlebt hatte, war vergleichbar mit der Begegnung mit den kleinen summenden Wesen.

      Und so wurde der Honig auf einem kleinen Umweg geboren. Sein goldener Glanz erinnert an Großvater Sonne, und da er aus den Blütenpollen gewonnen wird, symbolisiert er die Fruchtbarkeit und das Leben. Große Heilung und noch größere Fröhlichkeit ruhen in der goldenen Flüssigkeit. Die Bienen ehren seinen Ursprung, indem sie den Honig das Lied der Sonne nennen.

      Noch ein paar Worte zum Dieb:

      Es kam, dass er auf dem Nachhauseweg über eine Wurzel stolperte und der Länge nach hinfiel. Dabei ging ihm der Honig verloren. Kurz darauf kam ein kleiner Bär des Weges und fand die goldene Flüssigkeit. Was er da vertilgte, schmeckte ihm so außerordentlich gut, dass er sich gleich auf die Suche nach mehr von der süßen Speise machte. Und damit war er nicht der Einzige.

      Die Krieger der Donnerwesen

Donnergott

      „Ich habe gelernt, dass Mut nicht die Abwesenheit von Furcht ist, sondern der Triumph darüber.“

      Nelson Mandela

      Es wird erzählt, dass einmal vor langer, langer Zeit die Donnerwesen einen fürchterlichen Streit hatten. Ihr Zwist soll so verheerend gewesen sein, dass selbst Mutter Erde nicht mehr zu schlichten versuchte. Rücksichtslos jagten die Donnerwesen über Berge und Täler, ließen Flüsse über die Ufer treten und verwandelten das Gras in Eis.

      Tage um Tage währte ihre Auseinandersetzung bereits, als in dem ganzen Chaos plötzlich eines der Donnerkinder den Halt verlor und fiel. Der kleine Donnergeist war noch viel zu jung und schwach, um wie seine Eltern auf dem Wind zu reiten oder sich entgegen der Kräfte zu bewegen. Hilflos raste er auf den Erdboden zu, bis er aufschlug. Zu seinem Glück braucht es weitaus mehr, um einen Donnergeist ernsthaft zu verletzten. Dennoch hatte er große Angst und rief so laut er konnte nach seiner Familie, aber niemand hörte ihn. Über seinem Kopf tobten die Donnerkrieger weiter und entfernten sich langsam aber unaufhaltsam von dem kleinen Donnergeist.

      Verzweifelt versuchte er Schritt zu halten, er rannte und rannte, so lange bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte.

      Schlussendlich saß er mitten im Nirgendwo auf der Erde und weinte bittere Tränen. Selbst wenn er noch ein ganz junger Donnergeist war, so klang sein Weinen bereits wie der Beginn eines Sturmes. Hin und wieder schossen kleine Blitze aus seinem Leib, was dazu führte, dass sämtliche Tiere das Weite suchten. Er fühlte sich schrecklich alleine.

      Es war später am Tag, als eine Pferdeherde des Weges kam. Die Tiere versuchten dem Sturm zu entfliehen. Doch kaum erblickten sie den Donnergeist, ergriffen sie die Flucht.

      Sie blieben aber nicht allzu weit entfernt stehen, denn eine der Stuten war zurückgeblieben. Sie war nicht mehr die Jüngste, gehörte aber immer noch zu den Schnellsten und wurde sehr als Ratgeberin geschätzt. Viele Fohlen hatte sie zur Welt gebracht, aufwachsen sehen und sie fühlte, dass der kleine Donnergeist Hilfe brauchte. Nach kurzem Zögern überwand sie ihre Furcht und trat neben ihn.

      Geduldig hörte sie sich seine Geschichte an und am Ende hatte sie beschlossen, den Donnergeist zu seiner


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