Besser als nix. Nina Pourlak

Besser als nix - Nina Pourlak


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Strand. Vielleicht zehn Jahre oder so ist das her, und wenn ich das schon sagen kann, dann bedeutet es, es ist mehr als mein halbes Leben her.

      Jetzt bietet mir Carsten nur noch manchmal an, mich ins Trainingslager mitzunehmen, in den Ferien. Aber das ist ja keine Erholung oder so was – wer als Zwerg wie ich zwischen Hammerwerferinnen, Boxern und Bobfahrern in einem Leistungszentrum Urlaub machen will, der muss schon ein ziemliches Selbstbewusstsein haben.

      Auf der Fahrt zurück, kurz vor Schwarzbeck, treffe ich ausgerechnet auf die Referendarin, Sarah. Wir beide sind anscheinend die einzigen Fahrradfahrer der ganzen ausbildungsplatzlosen Oberstufe. Sonst ist mir unterwegs jedenfalls keiner begegnet.

      Ihr klappriger Drahtesel hat einen Platten. Das Bike sieht sowieso aus, als ob sie es irgendwann mal zum Kindergeburtstag geschenkt bekommen hat, mit buntem Speichenschutz und einer großen Klingel. Fehlen nur noch die Stützräder.

      Sie fragt mich, wo ich denn jetzt grad herkomme, aber natürlich sag ich nichts vom Solarium.

      Unter der neuen Bräune werde ich rot. Ich glaube, ihr Hinterreifen ist richtig kaputt, und wir schließen ihr Rad schließlich an einen Zaun an, irgendwo mitten auf der Strecke. Es kommt mir vor als würden wir es wie einen hinkenden Wanderkameraden kurz vor dem Berggipfel im Stich lassen. Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir beide schieben. Hatte gehofft, mich so noch ein bisschen mit ihr unterhalten zu können.

      Aber es kommt noch viel besser: Sie will sich allen Ernstes vor mich auf mein Rennrad setzen, auf die Stange, noch bevor ich mich darauf einstellen kann, springt sie wie selbstverständlich auf, und da ist sie mir so nahe, dass ich kaum fahren kann, geschweige denn mich locker und unbeschwert mit ihr unterhalten. Das ist echt ein bisschen zu viel für mich.

      Sie kriegt das anscheinend gar nicht mit, dass das eher ein ungewöhnlicher Platz ist für ‘ne Lehrerin oder so – was weiß ich, Frau Frevert würde das jedenfalls nicht machen, aber sie hält sich am Lenker fest, riecht nach Pfirsich und erzählt ganz entspannt, dass dieses Fahrrad noch aus ihrer Jugend stammt, wie auch ihr altes Pferd und alle Sachen in ihrem Zimmer, die sie hier zurückgelassen hat, bei ihren Eltern, als sie nach Berlin gezogen ist, mit neunzehn.

      Mit blauen Haaren und kaputten Jeans und einer Gitarre – genau, wie man sich das vorstellt, wenn man zum ersten Mal richtig von zu Hause weggeht. Abhauen mit Ansage. Und dass es seltsam sei, jetzt wieder in diesem Zimmer zu wohnen und dieses Leben aufzunehmen, als hätte es gar keine Lücke gegeben, und als sei sie immer noch dasselbe junge Mädchen, das damals aufgebrochen ist, ungefähr in meinem Alter. Sie guckt versonnen vor sich her, während ich das Rad balanciere.

      Und dann sei hier auch noch alles so überschaubar und ständig würden einem alle Ortsbewohner über den Weg laufen und nach der Familie fragen und wie es einem geht und warum man damals denn weggegangen wäre und warum man jetzt zurückgekommen sei und so. Total ungewohnt, ergänzt sie.

      Ich hab irgendwie den Eindruck, als ob sie eigentlich mehr zu sich selbst spricht, als mir das alles zu erzählen. Als ob sie so voll von ihren ganzen Gedanken vom ersten Schultag und so ist, dass sie es einfach sofort loswerden muss, egal bei wem, um nicht zu platzen.

      »Ich will auch so schnell wie möglich abhauen hier«, verrate ich ihr. Hab ich noch keinem so erzählt. »Manchmal weiß ich gar nicht, was ich hier soll, ich hab immer das Gefühl, das Leben würde anderswo passieren. Vielleicht in Berlin?«

      Ich lenke das Gespräch in Richtung Hauptstadt, damit sie was zu erzählen hat. Dachte, das wäre geschickt. Aber Fehlanzeige. »Berlin. Da ganz bestimmt nicht!«, wehrt sie abrupt ab, ist auf einmal hellwach und macht so plötzlich Anstalten, vom Rad zu springen, dass ich fast das Gleichgewicht verliere.

      An der nächsten roten Ampel verabschiedet sie sich hastig, ohne mich überhaupt noch mal richtig anzusehen, und verschwindet. Seltsam.

      Zu Hause fällt mir auf, dass ich immer noch die zerknüllten Zettelchen in der engen Jeanstasche habe. HEIMKEHR BESTATTUNGEN und DISCOUNT BESTATTUNGEN. Vielleicht sollte ich doch anrufen? Ich werfe noch mal einen Blick auf das Berufsprofil. »Einbettung von Verstorbenen?« Brrrhh.

      Wenn es noch etwas gibt, was mich mehr schockiert hätte als Kaufhaus-Detektiv, Fahrkartenkontrolleur oder Gerichtsvollzieher, dann ist es sicherlich das. Tote anfassen. Nur mit »Hinterbliebenen« zu tun haben. Jeden Tag von Neuem Abschied nehmen. Niemals würde ich das machen. Echt nicht. Auf keinen Fall.

      Ich schalte den Fernseher ein. Privatfernsehen. »Drei Kandidaten – ein Job« läuft da. Drei sendungsbewusste Anwärter kämpfen um einen Job, um den sie sich vermutlich auch ohne TV hätten problemlos irgendwo bewerben können. Bitter. Ich stell mir vor, dass ich dort antreten müsste. Die letzte Chance. Wer kann am schnellsten das Grab ausschaufeln? Los geht’s. Mein Vater mit seiner Stoppuhr stünde hinter uns.

      Auf dem Weg zur Fahrschule wollte ich noch Oma besuchen. Es ist nicht so, dass sie meinen Besuch besonders dringend nötig hätte: Sie hat ständig Gäste. Es kommt immer jemand vorbei, der ihr Blumen bringt, sodass es in ihrem Zimmer fast jeden Tag so aussieht, als würde sie grade Geburtstag feiern. Falls jemand im Haus eine Vase sucht, dann kommt er direkt zu ihr. Sogar Alkohol sammelt sich bei ihr mittlerweile in rauen Mengen, weil sie die geschenkten Schnäpse, Weinbrände und Cognacs nicht konsumiert, sondern auf ihrem Schrank hortet.

      Wenn ich sie ansehe, dann wäre ich auch gerne so wie sie, wenn ich alt bin. Manchmal wäre ich dann sogar gerne sofort so alt wie sie, echt jetzt, dann hätte ich den ganzen Stress mit dem Leben schon hinter mir und könnte gelassen auf meine Erinnerungen zurückblicken. Die Frage: »Was soll nur aus dir werden?« würde mir dann keiner mehr stellen, denn dann wüssten ja alle schon, wie es gelaufen ist.

      Oma sieht einem sofort an, was einen grade beschäftigt, und schafft es in jeder Lage, das Beste zu erkennen. Und sie findet absolut für jeden Knopf, den man verloren hat, den richtigen Ersatz in ihrem Nähkästchen. Ein Phänomen.

      Sie ist anders als alle, die ich kenne und das liegt vermutlich daran, dass Wally gar nicht meine leibliche Oma ist ... Aus verschiedenen tragischen Gründen habe ich keine echte, lebende Oma. Auf der einen Seite der Krebs, auf der anderen Familienzwist, mehr sag ich dazu nicht.

      Papa hat sich früher wegen dieser ganzen Familiensache Sorgen gemacht, glaub ich, so von wegen: der arme Junge, ganz ohne Großeltern, kann nie jemanden besuchen, der für ihn nach einem uralten Rezept Apfelkuchen bäckt, ihm vom Krieg erzählt oder irgendwelche Traditionen vermittelt, die Kinder so von ihren Omas und Opas übernehmen.

      Als er schon nicht mehr aktiver Fußballer war und kurz bevor er seinen Trainerschein gemacht hat, hing er ein bisschen in der Luft und ist Taxi gefahren, um Geld für die Familie zu verdienen. Einmal hat er dann meine Oma gefahren, Wally. Sie sah schon damals so aus wie jetzt, wie eine Bilderbuchoma, mit geflochtenen weißen Zöpfen und bunten Blumenkleidern an. Und da hat er sie spontan gefragt, ob sie nicht vielleicht meine Oma werden will. Hat er mir so ungefähr erzählt.

      Sie dachte natürlich erst, er meint es nicht ernst, will ihr was verkaufen oder sie sonst wie übers Ohr hauen, und war eher zögerlich. Aber er hat ihr dann anscheinend sehr überzeugend von mir berichtet – dem einzigen gänzlich großelternlosen kleinen Jungen im ganzen Landkreis. Buhuhu. Da muss man auch erst mal drauf kommen, oder? Heute würde er das bestimmt nicht mehr machen. Aber damals hat er sich alles Mögliche für mich ausgedacht.

      Er hat mir sogar mal zum Geburtstag ein eigenes kleines Holzhäuschen gebaut, da konnte man sich richtig reinsetzen. Mit Klingel und Namensschild an der Tür. Das stand bei uns im Garten.

      Na ja, vielleicht lag es auch nur daran, dass er damals Zeit hatte, dass er auf solche Ideen kam.

      Jedenfalls, ich war damals noch ganz klein und wusste nicht, dass mir eine Oma fehlt. Und dann kam sie zu Besuch, Papa hat sie mit dem Taxi abgeholt, Du hattest anscheinend den Kuchen gebacken, und sie hat gesehen, dass es bei uns wirklich jemanden gibt, der bis jetzt noch keine Oma hat, nämlich mich. Und seitdem ist sie meine Oma. Und auch wenn Carsten und ich so gänzlich verschieden sind und wir uns eigentlich nie über irgendwas einig sind, in der Auswahl meiner Oma hat er einen absoluten Volltreffer gelandet.

      Mittlerweile


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