Hisian - Land der Sehnsucht. Andrea Zaia

Hisian - Land der Sehnsucht - Andrea Zaia


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Dunkelheit schreckte sie und zog sie gleichzeitig magisch an.

      Die anderen Mädchen riefen immer noch.

      Amelie ging weiter, sie war vollkommen entrückt.

      Ihre tastenden Schritte veränderten sich mit jedem Zentimeter, den sie in die Dunkelheit hinein ging. Festen Schrittes ging sie weiter und plötzlich trat sie ins Leere.

      Sie fiel und das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr: „Hier ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung!“

      Im Fallen dachte sie: Ich schwebe!

      Ihr Gefühl veränderte sich unterwegs wieder einmal. Sie spürte eine Leichtigkeit, die sofort ihren Bauch entlastete. Der Schmerz war verschwunden.

      Und plötzlich wusste sie, sie würde ankommen.

      Wo sie ankommen würde, war in diesem Moment total unwichtig. Das wohlige Gefühl in ihrem Bauch gab ihr eine Ahnung von einer Sicherheit, die sie nicht kannte. Sie war gefasst, obwohl sie fiel. Diese innere Ruhe befreite ihren Kopf von den Nebelschwaden, die sich beim Betreten des dunklen Gebäudes dort ausgebreitet hatten.

      Es war finster um sie herum und sie spürte trotzdem überhaupt keine Angst.

      Sie war geborgen!

      Sie war nicht allein!

      Das wurde ihr unterwegs in die Tiefe klar. Etwas Überirdisches hatte sie ergriffen. Sie war selbst in dieser unheimlichen Dunkelheit und im Fallen geborgen von einer unsichtbaren Hand.

      Kein Schrei entschlüpfte ihrem Mund. Das Gefühl der Sicherheit in ihr wuchs und wurde zur Gewissheit. Sie würde ankommen und geborgen sein …

      Mit dieser Überzeugung erschien ihr die Dunkelheit plötzlich nicht mehr bedrohlich. Oder war es nun nicht mehr so dunkel?

      Die Dunkelheit war als sie aufgefangen wurde, verschwunden und Amelie schien angekommen zu sein. Sie fühlte es genau. Hier war die Heimat ihres Herzens.

      Wie war das möglich?

      Sie war doch in die Tiefe gestürzt.

      Ihr musste doch etwas wehtun!

      So etwas gab es doch überhaupt nicht.

      Die Gedanken wirbelten nur so in ihrem Kopf herum.

      Amelie schüttelte die chaotischen Gedanken ab. Eigenartig, wie leicht ihr das an diesem Ort gelang. Das Denken war nicht ausgesetzt durch den Sturz. Sie konnte, nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung ganz normal denken.

      „Wo bin ich?“ Dieser Gedanke beherrschte nun ihr ganzes Sein.

      Was geschah nur mit ihr?

      Wieso war sie an diesem wundervollen Ort?

      Das war für Amelie überhaupt keine Frage. Für sie stand fest, dieser Ort war wundervoll!

      Sie versuchte es noch einmal mit der drängendsten Frage.

      „Wo bin ich?“ Diese Frage wiederholte sie eingenommen von dem Gefühl, das sich bei ihrer Ankunft eingestellt hatte.

      Sie bekam keine Antwort und ging weiter. In diesem Land ging sie nicht. Das bemerkte sie als sie nach unten sah. Amelie schien einige Zentimeter über dem Boden entlang zu gehen.

      Als ihr klar wurde, dass sie überhaupt keinen festen Boden unter den Füßen hatte, erschrak sie ein wenig. Diese Schrecksekunde wurde sofort von einem heißen Schwall tief unten aus ihrem Bauch heraus begleitet. Sofort war sie wieder beruhigt. In dieser Gegend schien sie nichts schrecken zu können.

      Doch ihre drängende Frage war immer noch nicht beantwortet. Wo war sie hier eigentlich hingekommen?

      Amelie wurde ziemlich mulmig zumute. In ihrem Bauch rumorte es ganz gewaltig und die Frage wurde immer drängender.

      Bin ich hier ganz allein? Amelies Bauch hatte sich bei diesen Gedanken wieder einmal gemeldet. Der beruhigende, heiße Schwall war dieses Mal ausgeblieben.

      Warum, verflixt noch einmal, kam denn niemand?

      Sie war doch noch ein kleines Mädchen und konnte nicht allein in dieser fremden Umgebung bleiben.

      Ein Kind brauchte Begleitung. Erst recht in einer fremden Welt.

      Amelie wollte an diesem Ort nicht allein sein. Ganz bestimmt nicht. Allein in einem fremden Land fand sie sich doch nicht zurecht. Das war nicht ihr Dorf, in dem sie sich auskannte. Obwohl sie gerade noch in dem verbotenen Gebäude am Rande des Dorfes gewesen war, wusste sie genau, dass sie nicht mehr dort sein konnte.

      Als der Druck in ihrem Bauch ziemlich schmerzhaft wurde, erschien als wäre sie aus dem Boden gewachsen eine beeindruckende Frau.

      Diese imposante Erscheinung ließ allen Schmerz und das Gefühl von Verlassenheit vergehen.

      Die Duse gehörte von diesem Moment an zu Amelies Leben. Ihre drängenden Fragen hatten Gehör gefunden.

      Sie war in diesem Land nicht allein.

      Sie wurde begleitet, wie sie es sich gewünscht hatte.

      Nun verflüchtigte sich der Nebel um sie herum langsam und sie konnte so die Duse deutlich sehen. Wenn sie sich nicht so allein gefühlt hätte, wäre sie sicher vor dieser furchteinflößenden Erscheinung davon gerannt. Aber in dieser unsagbaren Welt war Amelie froh, dass jemand auftauchte, der nur annähernd aussah wie ein Mensch. Denn die Duse sah natürlich nicht aus wie die Menschen, die Amelie bis dahin kennengelernt hatte.

      Die Duse schwebte vor ihr und ließ ihr Zeit, sie eingehend zu betrachten. Amelie konnte erkennen, dass die Duse weißes langes Haar hatte, das ihr bis zu den Knien reichte.

      Sie trug keinen Zopf und die Haare störten sie trotzdem nicht. Das war ein Phänomen, das Amelie immer wieder begeisterte. Wie konnten die Haare so lang herunterhängen und doch jede Bewegung elastisch begleiten. Ein wundervoller Anblick, an dem sich Amelie auch später nie satt sehen konnte.

      Als sie zur Duse hinüberschaute, blickte sie direkt in deren grüne Augen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht beruhigte sie sofort.

      Anders kannte sie die Duse bis heute nicht. Wenn sie schon einmal streng sein musste, lächelte sie nach einer Lektion die mulmigen Gefühle in Amelies Bauch einfach weg. Das war wohltuend und stärkend.

      Ob die Duse schön war, konnte Amelie nicht sagen. Sie war einfach eine alte Frau, mit einem merkwürdig durchscheinenden Leib, der von einem wunderschönen Kleid umhüllt war.

      Das Kleid der Duse hinterließ bei Amelie einen besonderen Eindruck, denn sie konnte es mit keinem Kleid vergleichen, das sie jemals zu Hause gesehen hatte. Das Gewand, das in vielen Falten an ihr herunterfiel, war wunderschön. Solche Kleider hatte Amelie manchmal an griechischen Statuen gesehen.

      Wo nahm sie nur dieses Wissen her?

      Hatte sie überhaupt schon eine griechische Statue gesehen?

      Wie kam sie nur darauf?

      Diese Gedanken waren durch ihren Sinn geschwebt. Doch in diesem Augenblick, an dem unbekannten, nebelverhangenen Ort waren sie überhaupt nicht wichtig! Amelie rief sich selbst zur Ordnung und wandte sich in Gedanken wieder dem Kleid der Duse zu. Komisch fand sie, dass die Duse so lange Amelie sie kannte, noch nie auf ihr Kleid getreten war. Das lag wohl daran, dass sie schwebte. Sie glitt vorwärts; ja alles an der Duse sah leicht und locker aus. So als wäre sie schwerelos. Es war einfach wunderbar, denn mit der Duse gemeinsam konnte Amelie schwerelos durch die Luft schweben. Nach diesem Gefühl der Freiheit und des Losgelöstseins von der Welt könnte sie regelrecht süchtig werden.

      Sie war schon wieder abgeschweift. Das sie aber auch nie etwas zu Ende denken konnte.

      Wie war das noch?

      Amelie konnte an diesem Ort einfach nicht verhindern, dass sie ihren Gefühlen mehr Platz einräumte als dem, was sie direkt vor sich sehen konnte. Sie hatte doch das Aussehen der Duse beschreiben wollen. Warum gelang ihr das nicht. In diesem Land der übermächtigen Gefühle schaffte sie es einfach nicht vernünftig zu


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