Hisian - Land der Sehnsucht. Andrea Zaia

Hisian - Land der Sehnsucht - Andrea Zaia


Скачать книгу
hätte geschehen können? Du bist unvorsichtig und leichtsinnig gewesen als du dich auf diese Entdeckungstour eingelassen hast.“

      Amelie schlug die Augen nieder. Sie war aber auch dumm gewesen. Ihr Streben nach der Zugehörigkeit zu den anderen Mädchen hatte sie ziemlich in Bedrängnis gebracht.

      „Ich war dumm“, gab sie deshalb kleinlaut zu.

      „Das ist noch untertrieben. Aber wir wollen uns mit diesen Dingen nicht länger aufhalten. Du bist nun einmal hier und so beginnen wir bereits heute mit deiner ersten Lektion.“

      Die Duse schaute Amelie tief in die Augen.

      „Die Grundlage des Zusammenlebens von Menschen solltest du zuerst kennen.“

      Amelie sah zur Duse auf und wusste sofort, dass sie nun sehr aufmerksam zuhören musste. Mit einem Nicken begann also ihre erste Lektion:

      „Die Menschen sind manchmal ohne es zu wollen hart zu dir. Sie sehen dich nicht so, wie du sie. Nicht jeder Mensch hat so ein großes Herz wie du. Jeder ist einmalig und ihr alle habt das Gute und die Liebe in euch. Aber, mein liebes Kind, die anderen Kinder und die Erwachsenen können das Gute manchmal nicht sehen. Sie haben Angst vor der Liebe, denn Liebe erfordert Vertrauen.“

      „Wie können Kinder und Erwachsene einem anderen vertrauen, wenn sie sich selbst nicht lieb haben?“

      Amelie hatte diese Frage ohne lange darüber nachzudenken ausgesprochen. Wie war sie nur auf diese Frage gekommen? Dieses Hisian schien sie vollkommen verändert zu haben. Sie war gespannt was die Duse weiter zu erzählen hatte. Die Liebe schien in diesem Land eine große Rolle zu spielen. Amelie spürte noch immer die Klarheit in ihrem Kopf. Wie war das nur möglich? Normalerweise schweifte sie ab. Nun hörte sie aufmerksam zu was die Duse weiter zu erzählen hatte.

      „Die Liebe zu sich selbst und den anderen Menschen ist die Grundlage des Lebens! Trotzdem vergessen das viele Menschen immer wieder.

      Das ist leider immer noch so. Wir haben sehr viel dafür getan, dass sich das ändert.

      In Hisian warten alle darauf, dass sich in der Welt der Menschen etwas wandelt. Vielleicht schaffen es die Menschen jetzt.“ Die Duse schmunzelte geheimnisvoll.

      Amelie hing wie gebannt an den Lippen dieser Frau. Sie hatte keine Spur von Angst und konnte sich überhaupt nicht erklären wieso das so war. Das Land Hisian war für sie ihre eigene Welt von dem Moment an als sie es erreicht hatte.

      Gerade hatte sie diesen schrecklichen Sturz in die dunkle Tiefe erlebt. Nun saß sie hier und lauschte dieser Frau, die über die Liebe sprach.

      Eine komische Sache. Doch für Amelie war es das Natürlichste der Welt. Ab heute gehörte die Duse zu ihrem Leben.

      Was sie über die Liebe sagte, konnte Amelie in ihrem Herzen aufnehmen und sie würde zu Hause sicher genau spüren, wenn die anderen Mädchen oder die Eltern Angst hatten. So klein Amelie auch war, in Hisian konnte sie ihre Gefühle verstehen und ihre Gefühle machten sie stark und frei.

      Wie das zu Hause werden würde, darüber dachte sie jetzt, in dieser wunderbaren Welt nicht nach. Hier war alles leicht und licht für sie.

      In Hisian konnte sie sein, mit all ihrem Gefühl und ihrer Unsicherheit, die sie unter den Menschen oft zum Außenseiter werden ließ.

      Wie oft hatte sie schon gedacht, dass sie störte. Das sie nicht dazu gehörte. Ja; dass sie anders sei.

      In diesem Land verstand sie, dass alle Menschen nach der Liebe suchten und sie nicht fanden, weil sie manchmal schmerzhaft sein konnte. Wer wollte schon gern Schmerzen leiden? Auch Amelie litt nicht gern. Sie war in diesem Gebäude am Rande des Dorfes eingestiegen, um etwas Aufregendes zu erleben. Wie außergewöhnlich dieses Erlebnis werden würde, das hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Das konnte sie doch überhaupt niemanden erzählen. Bei diesem Gedanken schaute Amelie zur Duse hinauf. Auf deren Gesicht ein beruhigendes Lächeln schwebte.

      „Ich bringe dich jetzt zurück nach Hause. Für dich ist die Zeit für immer hier zu bleiben noch lange nicht gekommen.

      Doch sei gewiss; ich werde dich in deinen schlimmsten Tagen begleiten und immer dann zu dir kommen, wenn eine neue Lektion für dich vorgesehen ist.

      Nun wirst du alles vergessen, was du hier gehört und gesehen hast. Du wirst in deiner Welt unverletzt aufwachen.“

      „Wie ist das möglich? Ich bin doch in die Tiefe gestürzt.“ Amelie staunte, denn sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie das sein konnte. Sie sollte unverletzt zu Hause ankommen?

      „In Hisian ist alles möglich. Es kommt nur darauf an ob es vorgesehen ist. Du wirst also völlig unversehrt zu Hause ankommen. Warum das so ist, wirst du erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

      Der Gesichtsausdruck der Duse verbot jede weitere Frage. Sie schob Amelie von ihrem Schoß und im nächsten Augenblick schwebten sie gemeinsam mit Maike in die Höhe. Maike leckte noch einmal kurz über Amelies rechte Hand und verschwand. Die Duse strich über ihre Schulter und entschwebte ebenfalls.

      Kaum waren diese Bilder verschwunden, kam das Bewusstsein wieder zu Amelie zurück. Sie öffnete langsam ihre Augen. Sie schien in kalter Dunkelheit gefangen. Gerade wollte sie schreien, als sie in der Nähe einen Lichtstrahl erblickte. Der Lichtstrahl wurde breiter und breiter. Voll Erleichterung entdeckte Amelie in diesem Licht einen Schatten. Sie spürte keine Angst. Voll Vertrauen schaute sie hinüber zum Licht. Endlich, als der Lichtsschein breit genug war, entdeckte sie in ihm eine Gestalt.

      Die Gestalt im Licht machte ihr klar: Sie war nicht allein in diesem dunklen Gebäude. Ihre Rettung nahte!

      Der Mensch im Licht war nicht so groß wie ihr Vater. Ein Junge aus dem Dorf hatte sie gefunden. Amelie fiel ein Stein vom Herzen. Was wäre geschehen, wenn das Tor verschlossen geblieben wäre? Sie wäre dazu verdammt gewesen in der Dunkelheit auszuharren. Wie schrecklich! Eine grausige Vorstellung. Ihr Hals war so trocken, dass sie nur sehr leise rufen konnte.

      „Hilfe!, Hilfe!“ Amelie spürte den Schmerz in ihrem Hals als sie die Worte über die Lippen hauchte. Würde der Junge sie hören können? Sie bangte nur kurz. Der Junge hatte sie rufen hören und kam näher.

      Nick, so hieß der Junge fragte sie, was geschehen sei.

      Amelie konnte sich nicht erinnern. Hatte sie Angst gehabt oder wurde sie wie magisch von der Dunkelheit angezogen?

      Sie konnte sich einfach nicht mehr an alles erinnern.

      Wie war sie nur hier unten hingekommen?

      Der Beton unter ihr war kalt und hart. Alles um sie herum fühlte sich bedrohlich an. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie wohlbehalten und gesund war. In ihrem Inneren war sie aufgewühlt.

      Wo war sie nur gewesen?

      Nachdenken half nicht. Sie konnte sich einfach nicht erinnern was geschehen war. Ihre Erinnerung endete in dem Augenblick in dem sie den Fuß über die Kante setzte und ein unbeschreibliches Gefühl in ihrem Bauch ihren Sturz begleitete. An diesen Augenblick wollte sie sich lieber nicht erinnern und auch nicht darüber nachdenken was ihre Eltern zu ihrem wagemutigen Ausflug sagen würden.

      Nick reichte ihr die Hand, damit sie aufstehen konnte. Amelie erfasste sie und rappelte sich auf. Sie fragte Nick nach den anderen Mädchen, die mit ihr in dieses verbotene Gebäude gestiegen waren. Von anderen Mädchen wusste Nick nichts. Er hatte auf dem Weg hierher niemanden getroffen. Kopfschüttelnd schaute er sich dieses unvorsichtige Mädchen an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass auch andere kleine Mädchen so unvorsichtig waren. Nicht einmal er hätte sich allein in dieses dunkle Gebäude gewagt und er war schließlich ein Junge. Was fiel diesem Mädchen nur ein in das Gebäude einzusteigen, das für alle Kinder des Dorfes tabu war? Nur gut, dass er vorbei gekommen war. Ein unbestimmtes Gefühl hatte ihn dazu veranlasst hinter dem großen Tor nachzusehen. Wenn das Tor abgeschlossen gewesen wäre, hätte niemand dieses unvorsichtige Mädchen finden können. Das hätte eine qualvolle Nacht für sie werden können. Schließlich war es jetzt schon später Nachmittag. Nick war froh seinem Gefühl


Скачать книгу