Hisian - Land der Sehnsucht. Andrea Zaia

Hisian - Land der Sehnsucht - Andrea Zaia


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Ziehen und denkst, das hat mit dir zu tun. Aber, liebe Amelie, dieses Gefühl kommt nicht immer aus dir heraus. Du kannst die bösen Gedanken der Menschen um dich herum spüren.“

      Amelies Augen wurden bei den Worten der Duse kugelrund. Das hatte sie noch nie gehört. Böse Gedanken gingen bis in ihren Bauch. Komisch, in Hisian leuchtete ihr das ein. Denn sie konnte die Duse und Maike sprechen hören, obwohl sie ihre Lippen nicht bewegten. Im Lande Hisian wurde kein Laut gesprochen, trotzdem verstand Amelie, was die anderen dachten.

      Sie grübelte. Wenn Vater oder Mutter etwas lauter zu ihr sprachen, hatte sie das Gefühl, dass Dolchstiche ihren Bauch durchbohrten. Dieses Gefühl war so unangenehm, dass sie es überhaupt nicht beschreiben mochte. Ihr Bauch war schon sehr empfindsam. Die Mutter hatte neulich gesagt: „Du nimmst deinen Bauch viel zu wichtig“.

      Von diesem Moment an war Amelie klar, dass ihr Bauch nur ihr wichtig war. Deshalb hatte sie sich fest vorgenommen, nie, nie wieder über ihren Bauch und das Gefühl darin mit jemandem zu sprechen.

      Das war schon seltsam. Am Ende verstanden weder ihre Eltern noch ihre Oma die kleine, von ihrem Gefühl geleitete Amelie.

      In Hisian war das anders. Hier war ihr Bauch wichtig und richtig. Eine absonderliche Sache. Wo war eigentlich ihre Heimat? Bei ihren Eltern, Franz und ihrer Oma oder hier in Hisian?

      Die Duse lächelte milde. Sie wartete bis Amelie zu Ende gedacht hatte. Dann mahnte sie zur Eile.

      „Nun komm mit mir. Wir gehen dort zu der großen uralten Eiche.“

      „Die Eiche ist riesig.“, rutschte es Amelie beim Anblick des Baumes heraus. „Sie ist mächtig, so jedenfalls fühle ich das in meinem Bauch.“ Amelie kostete es richtig aus, dass ihr Bauch nun wichtig war. Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen. „Das Grün ihrer Blätter ist so schön, wie der Frühling, wenn er erwacht. Ich fühle mich unter der Eiche wie in die Höhe gehoben.“

      „Fühlst du dich dann erhaben?“ Die Duse sah gespannt in Amelies Gesicht. Wie würde das Kind antworten? Welchen Gefühlen hing es nach? Der Duse war wichtig zu erfahren was Amelie dazu sagen würde, denn von ihrer Antwort hing viel ab.

      „Ich weiß nicht. Was heißt denn erhaben? Dieses Wort habe ich noch nie gehört.“ Amelies Gesicht sprach Bände, das Unverständnis, das sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, freute die Duse sehr. Das Kind war richtig in Hisian. Der Entschluss ihr den Weg hierher zu bahnen war gut gewesen. Über diese Gedanken hatte die Duse fast ihre Erklärung vergessen.

      „Erhaben heißt, dass du schwebst, wie wir beide im Lande Hisian. Nicht in Wirklichkeit natürlich, aber irgendwie ist es ein erhebendes Gefühl erhaben zu sein. So ein kleines Stück über den Dingen zu stehen. In dir drin ist alles leicht. Deine Gefühle beschweren dich nicht mehr. Sie machen dich frei. Erhabenheit ist aber auch ein gefährliches Gefühl. Ein Mensch, der damit nicht umgehen kann, wird schnell eingebildet.

      Du fühlst jetzt gerade die Güte der Eiche und das erzeugt das Gefühl der Erhabenheit in dir.“

      „Ach so ist das. Dann ist mein Empfinden genauso, glaube ich.“

      Amelie war nicht ganz sicher, ob sie alles verstanden hatte. Irgendwie waren die Erklärungen der Duse sehr schön. Obwohl sie so anders waren als die, die sie von zu Hause kannte. Das war eine mächtige Umstellung. Hier durfte sie sich unter einem Baum erhaben fühlen, ohne ausgeschimpft zu werden. Eine andere Welt war dieses Hisian. Ein Traum, ein wunderschöner, erlösender Traum, den Amelie nie austräumen wollte.

      Hier sollte sie einmal bleiben dürfen. Dieser Gedanke erzeugte ein warmes Gefühl rund um ihr Herz. Oh weh, schon wieder so eine schwierige Sache. Jetzt mischte sich auch noch ihr Herz ein. Darüber wollte Amelie nicht auch noch nachdenken. Denn sie hatte schon genug Scherereien mit ihrem Bauch. Amelie rief sich selbst zur Odrnung, denn die Duse forderte im nächsten Moment all ihre Aufmerksamkeit, Sie erzählte von der Eiche.

      „Die Eiche ist über tausend Jahre alt und stand vom ersten Tag an hier.“ Amelie staunte sehr. So alt war die Eiche schon.

      „Dann weiß die Eiche sicher viel zu erzählen.“

      „Ja, mein liebes Kind. Jede Eiche bei euch kann dir viel erzählen, wenn du mit ihr sprichst. Sie wird dir Trost schenken und deine Worte nach Hisian schicken. Über die Bäume bei dir zu Hause bist du mit Hisian verbunden. Auch wenn du mich und all die schönen Orte in diesem Land vergessen hast.“

      „Aber, liebe Duse meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mit Tieren und Bäumen nicht reden kann. Sie wachsen zwar und gedeihen, aber wir Menschen verstehen sie nicht. Das gibt es doch nur im Märchen!“

      „Dann, liebe Amelie sind wir jetzt im Märchenland. Vielleicht solltest du einmal probieren mit der Eiche zu sprechen?“

      Amelie schaute an der Eiche hoch. In ihr stieg ein Gefühl auf, dass ihr sofort klar machte, so groß würde sie selbst bestimmt nie werden. Die Eiche war riesengroß und stand felsenfest verwurzelt im Boden.

      Amelie fühlte ein Grummeln in ihrem Bauch als ihr die Frage herausrutschte: „Wie lange stehst du schon hier?“

      Die Eiche lächelte. Eigentlich unmöglich. Ein Baum konnte nicht lächeln. Amelie sah jedoch genau , dass die Eiche lächelte. Genau in der Mitte des Stammes erkannte sie das Gesicht der Eiche. Genau dort saß auch das Lächeln, das sie in diesem Moment sah. Gerade als ihre Gedanken spazieren gehen wollten, begrüßte die Eiche Amelie mit ihrer dunklen, freundlichen Stimme:

      „Ich stehe schon tausend dreiundfünfzig Jahre an diesem Ort und habe viel Schönes und Trauriges gesehen. Die Ringe in meinem Stamm zählen all die Zeit und dokumentieren gute und schlechte Jahre. Ich bin hoch hinaus gewachsen und kann weit über die Wiesen schauen.“

      In Amelies Augen spiegelte sich Erstaunen. Was für eine beruhigende und freundliche Stimme. Sie gab Amelie, da sie sich voll auf ihr Gefühl konzentrierte, eine Vorstellung von Geborgenheit in der Natur. Die große Eiche war in diesen vielen, vielen Jahren stark geworden und hoch gewachsen. Diese Stärke und Größe spürte Amelie körperlich als sie vor diesem imposanten Baum schwebte.

      „Wenn man so alt ist wie du, was ist dann am Schönsten?“ Diese Frage stellte sie ohne lange zu überlegen.

      Die Eiche schaute ihr freundlich in die Augen. Das Lächeln schien verschwunden zu sein. In der Stimme des Baumes schwang ein Ernst, der Amelie ein Gefühl von Wichtigkeit gab, das sie noch nie gespürt hatte. Schon gar nicht in der Nähe eines so stattlichen Baumes. Sie drohte durch dieses Gefühl schon wieder abzuschweifen. Alle ihre Kräfte aufbietend konzentrierte sie sich auf die Worte der Eiche.

      „Am Schönsten ist der Wechsel der Jahreszeiten. Ich freue mich im Frühling, wenn die Blätter meine Äste wieder grün werden lassen. Es ist auch eine große Freude, wenn ich im Herbst dieses lästige Laub wieder loswerden kann. Dann kann ich mich von dem befreien, was nicht mehr stark genug ist, um zu bleiben. Das Wachsen, Werden und Vergehen gehört schließlich zum Kreislauf des Lebens.“

      Amelie blieb der Mund offen stehen. Sie hatte nicht erwartet, dass die Eiche genauso einleuchtend erklären konnte wie die Duse. Die Worte, die über ihre Lippen sprudelten kamen tief aus ihrem Inneren.

      „Das ist klug und schön zugleich. So habe ich das noch nicht gesehen. Ich fand immer traurig, dass ihr Bäume im Winter so kahl ausseht. Ist es denn nicht sehr kalt ohne deine Blätter?“

      „Im Winter bricht für mich die schöne Zeit der Ruhe an. Dann kann ich von der Anstrengung des restlichen Jahres ausruhen. Der Winter gibt mir Gelegenheit, Kraft zu sammeln. Denn ich brauche im Frühjahr viel Kraft, um neue Blätter zu bilden. Im Sommer trage ich Früchte und im Herbst fallen die Früchte und die Blätter von mir ab. So haben alle Jahreszeiten für mich einen Zweck. Ich wachse und konnte so über die vielen Jahrzehnte hinweg ein großer starker Baum werden.“

      „Das ist schön. Bist du böse, wenn die Menschen und Tiere deine Früchte und Blätter benutzen?“ Amelie war verlegen bei der Frage, denn auch sie benutzte ganz selbstverständlich die Früchte der Bäume.

      Die Eiche schaute das Mädchen verständnislos


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