Sturmzeit auf Island. Susanne Zeitz

Sturmzeit auf Island - Susanne Zeitz


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nie mit ihr gesprochen. Ängstlich drückt sie sich an die Wand. Ihr Vater und der Hausarzt verschwinden im Zimmer der Mutter und ziehen die Tür fest hinter sich ins Schloss.

      Kristin lässt sich weinend mit der Puppe im Arm vor ihrer Tür auf den Boden sinken. Etwas Schreckliches geht vor sich, das spürt sie tief in ihrem kleinen, wild pochenden Herz.

      Noch einmal ertönt ein lauter, durchdringender Schrei, dem kurz darauf ein heller Schrei folgt, wie der eines neugeborenen Lämmchens. Danach ist es unheimlich still. Plötzlich das laute Weinen der Großmutter. Die Tür wird aufgestoßen. Der Arzt tritt heraus, seinen Arm um den Vater gelegt. Der sonst so aufrechte, große Mann wankt. Kraftlos und gebeugt.

      „Eklampsie, ihr war nicht mehr zu helfen, aber wenigstens lebt der Junge. Es tut mir leid, Olafson.“ Der Arzt klopft ihm auf die Schulter und eilt die Treppe hinunter.

      „Muss mich beeilen, im Nachbarort ist die Grippe ausgebrochen. Da liegen einige im hohen Fieber.“

      KAPITEL 6

       Kristin

      Das Zuschlagen der Haustür lässt Kristin aus ihrem Tagtraum erwachen. Verwirrt schlägt sie die Augen auf. Sie braucht einen Moment, um sich zu orientieren. Sie streicht sich die nassgeschwitzten Haare aus der Stirn, dann steht sie auf. Ihre Hände zittern, als sie sich neue Kleider aus dem Schrank nimmt.

      Verwirrt blickt sie in den Schrankspiegel. Sie kann das eben Erlebte noch nicht richtig einordnen. Eine lange Reise zurück in ihre Kindheit. Wie real sie alles erlebt hat. Wie lebendig die einzelnen Szenen waren. Wie unendlich schmerzhaft!

      Auf dem Ablagetisch im Flur liegt ein Zettel. Carls Handschrift.

       Bin mit Leifur unterwegs. Warte nicht auf mich, es kann spät werden. Carl

      Kristin knüllt ärgerlich den Zettel zusammen und lässt ihn auf dem Tisch liegen. Was er wohl vorhat? Und warum nimmt er unseren Sohn mit, fragt sie sich leicht beunruhigt. Ob es etwas mit Elins Tochter zu tun hat? Sie bereut jetzt, dass sie ihm davon erzählt hat. Aber eigentlich kann nichts passieren, denn keiner weiß, in welchem Hotel sie untergebracht ist und wohin sie ihre Reise führt.

       Julia

      Als Julia den Speisesaal des Hotels betritt, hat sie die ungute Begegnung im Café bereits vergessen. Sie lässt sich vom Ober an ihren Tisch begleiten. Ein älteres Ehepaar und eine junge Frau sitzen bereits am Tisch.

      „Machen Sie die ganze Rundreise mit?“, fragt die junge Frau, die sich als Lisa Maier vorstellt.

      Julia nickt. „Im Anschluss habe ich noch eine Woche Reiten auf einem Hof in der Nähe von Akureyri gebucht.“

      „Oh, Sie Glückliche. Sie können reiten?“ Lisa blickt sie bewundernd an. „Ich würde mich nie auf ein Pferd trauen. Na ja, passt vielleicht auch von meiner Figur nicht ganz“, meint sie lächelnd. „Das arme Pferd“, fügt sie grinsend hinzu und steckt sich einen vollgehäuften Löffel Kartoffelbrei in den Mund. „Also das Essen hier ist bis jetzt prima. Nur schade, dass der Kuchen so teuer ist. Ich glaube, jetzt wäre die beste Gelegenheit abzunehmen.“ Sie kichert gutgelaunt in sich hinein.

      Julia findet sie sofort sympathisch und freut sich, mit der rundlichen Frohnatur Lisa die Mahlzeiten einzunehmen.

      Julia ist gerade im Begriff, ihr Zimmer im ersten Stock aufzusuchen, als sie ihren Namen hört. Sie dreht sich um und sieht Lisa auf sich zukommen.

      „Hätten Sie Lust, auf einen kleinen Spaziergang? Es ist so hell draußen, dass ich mir nicht vorstellen kann, jetzt schon ins Bett zu gehen. Wäre irgendwie schade.“

      „Ja, gerne. Ich hole mir eine Jacke und komme runter. Treffen wir uns in der Lobby?“

      Als Julia kurz darauf den Aufzug verlässt, tönt ihr Lisas fröhliches Lachen bereits entgegen.

      „Wussten Sie, dass Hafnarfjördur eine Elfensiedlung ist?“ Lisa wedelt mit dem Reiseführer vor Julias Nase herum. „Habe ich gerade gelesen. Und es gibt sogar einen Elfengarten. Den müssen wir unbedingt besuchen und den kleinen Hafen müssen wir auch anschauen.“ Lisa hängt sich bei Julia ein und spult weiter ihr angelesenes Wissen ab. „Das Städtchen ist auf Lavafeldern gebaut. In den kleinen Hügeln und Steinansammlungen leben die Elfen. Hier gehen alle respektvoll miteinander um. So funktioniert das Zusammenleben ganz gut, habe ich gelesen. Die Elfen werden nur ungemütlich, wenn man sie bedrängt und ihre Burgen zerstört.“

      Julia fühlt sich plötzlich unbehaglich. Den Elfengarten wird sie sicher nicht besuchen. Allein schon der Gedanke daran, vermittelt ihr Unbehagen. Sie hüllt sich fester in ihren breiten Wollschal und steckt die Hände in die Taschen. Irgendetwas ist da, das sie unangenehm berührt. Eine Kühle hüllt sie ein, die nicht nur von der feuchten Meeresbrise herrührt.

      „Ich glaube, ich möchte langsam ins Hotel zurück. Ich bin ziemlich müde“, murmelt sie. Lisas ständiges Reden und Lachen gehen ihr mit einem Mal auf die Nerven.

      Als sie an einem hellblauen Haus vorbeikommen, meint sie noch dazu, wieder die spitzen Blicke von heute Mittag im Rücken zu spüren. Als sie sich umdreht und zu den Fenstern hinaufblickt, werden hastig Gardinen zugezogen.

      Julia beschleunigt ihre Schritte. Nichts wie weg! Die erstaunte Lisa folgt ihr mit kleinen Trippelschritten. Ein bisschen außer Atem erreicht sie nach Julia die Drehtür des Hotels.

      „Habe ich Sie irgendwie verärgert?“, fragt sie verunsichert. „Ich weiß, manchmal rede ich zu viel. Das dürfen Sie mir ruhig sagen.“ Sie blickt Julia treuherzig an.

      „Nein, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich bin einfach nur müde und möchte mich jetzt hinlegen. War doch alles ein wenig viel heute. Bis morgen dann.“ Julia hastet die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Mit zitternden Händen schiebt sie die Karte in den Schlitz. Ihr Herz klopft und sie spürt einen unangenehmen Druck im Magen. Sie knipst, trotz der Helligkeit der Mittsommernacht, die kleine Nachttischlampe an und zieht die Vorhänge fest zu. Die Elfen und die bösen Blicke sind jetzt erst einmal ausgesperrt.

      Julia lässt sich aufs Bett fallen. Vielleicht hätte sie auf ihre Mutter hören und nicht hierherkommen sollen. Wer weiß, was hier noch alles geschehen wird?

      Sie kuschelt sich unter die Bettdecke und löscht das Licht.

      „Morgen ist ein neuer Tag und wir werden mit dem Bus unterwegs sein. Da bin ich in der Gruppe und in Sicherheit“, redet sie sich selbst gut zu. „Wahrscheinlich bin ich wirklich übermüdet. Schluss mit der blöden Angst.“ Langsam beruhigen sich ihre Gedanken, der Druck lässt nach und eine angenehme Müdigkeit hüllt sie ein.

       Kristin

      Ein paar Häuser weiter, lässt sich das Ungute nicht so einfach vertreiben.

      Kristin steht am Fenster und genießt den Ausblick. Sie liebt das helle Sonnenlicht, das, obwohl es schon auf zehn Uhr abends zugeht, die Lupinen vor ihrem Haus mit einem warmen Schimmer überzieht und in ein violettes Meer verwandelt. Zwei Frauen spazieren an ihrem Haus vorbei. Wahrscheinlich Touristinnen aus dem nahen Hotel. Eine klein und rundlich, die andere zierlich mit leuchtend roten Haaren. Kristin lehnt sich weiter aus dem Fenster. Das kann doch nicht wahr sein! Tatsächlich! Elins Tochter!

      Jetzt starrt sie auch noch zu ihr herauf! Kristin zieht mit einem Ruck die Gardinen zu und tritt schnell vom Fenster weg. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Sie wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

      Was will sie hier? Möchte sie Kontakt zur Familie? Ist Elin auch auf Island? Fragen über Fragen.

      Kristin läuft wie ein gefangener Tiger in ihrem Wohnzimmer hin und her. Sie spürt förmlich, wie das Schicksal näher und näherkommt. Bald wird es erneut zuschlagen. Und Carl ist auch noch nicht zurückgekommen, denkt sie ärgerlich. Was der wohl treibt?

      Kristin kramt aus dem hintersten Eck ihrer Schreibtischschublade einen Flachmann hervor. Kurz zögert sie, dann setzt sie die Flasche an den Mund. Es ist


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