Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster
Beide Kritiker sind nicht nur Absolventen der Universität, sondern der französischen Elitehochschule École normale supérieure. Ihre Reaktion zeigt eindeutig, dass 1949 der Unterschied von Natur und Kultur nicht einmal Gelehrten ihres Ranges geläufig ist. Darauf jedenfalls hat später die Sozialistin und Feministin Colette Audry, die in den dreißiger Jahren zusammen mit Beauvoir in Rouen unterrichtete, einen Teil der Missverständnisse zurückgeführt, von denen die Aufnahme des Buches bei der Kritik geprägt war.52
Die Veröffentlichung des 2. Bandes im November erregt erneut die Gemüter. Der Literaturkritiker des Figaro littéraire geniert sich für die »Bacchantin«, die ihre Grenzen überschritt, als sie es wagte, über die sexuelle Initiation zu schreiben. Er sucht im Übrigen verzweifelt um sich herum die »Herden von Sklavinnen, deren Existenz unter männlichem Imperialismus je zur Hälfte der Verrichtung niedriger Arbeiten und der Lustbarkeit der Männer gewidmet« sei: Sind die Frauen, so fragt er, denn in Wirklichkeit nicht befreit? Der »Penthesilea von Saint-Germain-des-Prés« bringt er die unendlichen Bereicherungen in Erinnerung, die die Selbsthingabe nach sich zieht, besonders für die Frau, wie er unterstreicht, denn diese sei durch ihre Natur stärker für die Hingabe prädestiniert als der Mann. Beauvoir will, wie er glaubt, die Liebe ruinieren, um an ihre Stelle den Plaisir, also schieren Sex zu setzen.53 Er war nicht der Einzige, der dies annahm, und Beauvoir hat sich in ihrer Autobiografie gegen diese Unterstellung gewehrt.54
»Die Rechte musste notwendigerweise mein Buch hassen«, schrieb Beauvoir im Rückblick. »Ich hoffte auf eine positive Aufnahme bei der extremen Linken«55 – d. h. bei den Kommunisten. Dies erwies sich als großer Irrtum. Die Rezensentin der führenden kommunistischen Wochenzeitung stellt sich vor, wie die Konsumenten von Pornoliteratur sich auf die Zeitungskioske stürzen, um frustriert über das unverständliche Kauderwelsch der Philosophin den Rückzug anzutreten. Sie malt ihren Leserinnen und Lesern auch den unbeabsichtigten Lacherfolg aus, den Beauvoir bei den Arbeiterinnen der Renaultwerke erringe, wenn sie ihnen ihr philosophisch hochgestochenes Befreiungsprogramm vortrage.56 In einer anderen kommunistischen Wochenzeitung wird die Besprechung des Buches mit einem Photo illustriert, auf dem ein als Frau verkleideter Mann einen Gorilla küsst.57 Die quasi offizielle Exekution Beauvoirs findet später in einer kommunistischen Kulturzeitschrift statt, dem Organ des militanten Marxismus, unter Rückgriff auf Leninzitate. Auch hier rezensiert eine Frau. Der Feind, so steht es zu lesen, ist nicht der Mann, sondern der Kapitalismus. Eine Rivalität zwischen Männern und Frauen heraufzubeschwören bedeute, den tatsächlichen Problemen auszuweichen, nämlich dem Elend der Arbeiterklasse und dem drohenden Krieg. (Hier muss man sich in Erinnerung rufen, dass sich der Konflikt zwischen den Blöcken seit 1947 verschärft hatte. Das andere Geschlecht erscheint mitten im sogenannten »Kalten Krieg«.) Wer die Reaktionen des Kleinbürgertums – so die Rezensentin weiter – durch den entstellenden Spiegel einer Philosophie des Ekels hindurch analysiere, verachte in Wirklichkeit das andere Geschlecht. Die Freiheit, die Beauvoir fordert, ist für die Stalinistin wie für die konservativen Katholiken identisch mit Willkür, die Liebe wird auf den Instinkt und die Animalität reduziert. Aber schlimmer noch: Die Ablehnung der Mutterschaft als selbstverständliches Schicksal dient der Kommunistin zufolge nicht nur der Kriegspropaganda – wo keine Kinder sind, sind keine Soldaten –; sie zeigt auch, wie sehr die Existenzialistin, in einem monströsen Individualismus verbarrikadiert, unfähig dazu ist, das natürlichste Gefühl aller Frauen zu kennen. Die wirkliche Befreiung der Frau, man ahnt es, ist nur im Sozialismus möglich.58
Für die französischen Kommunistinnen im Kalten Krieg stellt die Situation der Frauen keinerlei Problem dar. In der Partei liest fast niemand das Buch, wie sich eine bekannte kommunistische Intellektuelle erinnert, die früh die Zeichen der Zeit erkannte und zum Liberalismus überwechselte. »Das hat mich überhaupt nicht interessiert«, sagte sie einer Autorin, die ein Buch über die Frauen in der französischen KP schrieb. »Für unsere Generation [sie war 1926 geboren] waren diese Emanzipationsprobleme völlig überholt: Wir waren nicht das andere Geschlecht«.59 Auch Beauvoir fühlte sich selbst ja keineswegs unterdrückt. Die demokratischen Instrumente des französischen Republikanismus hatten ihr einen Rang gesichert, den auch ihre männlichen Freunde achteten – in Deutschland wäre das nicht so leicht möglich gewesen.60 Beauvoir hatte ihre Studie auf rein theoretischer Ebene intendiert, aber als sie begann, Material zu sammeln, merkte sie bald, dass ihr etwas entgangen war in ihrer bisherigen Wirklichkeitswahrnehmung, das regelrecht in die Augen sprang, nämlich der systematische Verweis der Frauen ins zweite Glied.61 Genauso wie die Kommunisten setzte sie 1949 auf den Sozialismus, aber was sollte aus den Frauen werden, solange es die klassenlose Gesellschaft noch nicht gab?
Bei der Rechten und der extremen Linken aneckend, war Beauvoir, wie ich denke, klar ihrer Zeit voraus. Heute kann man sich fragen, welches Verdienst wohl größer gewesen ist: erkannt und geschrieben zu haben, dass »die Frau« immer nur das ist, wozu die jeweilige Gesellschaft sie konditioniert – oder eine Sprache gefunden zu haben, um Tabu-Themen öffentlich verhandelbar zu machen. Neben jenen, die vor der Krudität ihrer Begriffe zurückschrecken oder sich über ihren philosophischen Jargon lustig machen, unterstreichen andere, die sie verteidigen, den völlig neuen Ton, den sie anschlägt. Besonderes Interesse für diesen Ton zeigt die einzige Frau im Lektürekomitee des Pariser Verlags Gallimard, die wenige Jahre danach unter einem Pseudonym die Histoire d’O publizieren sollte, einen Roman, der als Pornografie verboten wurde. Dominique Aury analysiert näher die Ursachen des Skandals, den Beauvoirs Buch hervorrief:
Wenn eine Frau ausführlich und in sogenannten wissenschaftlichen Begriffen über die konkreten Vorgänge des Liebesaktes diskutiert, bricht sie das größte aller Tabus und verstößt gleichzeitig gegen die Regeln des Anstands und der guten Erziehung. Sie macht sich in gewisser Weise zum Ausstellungsstück, sie kompromittiert sich und damit zugleich die anderen Frauen, die nicht zu den Letzten gehören, die wütend auf sie sind. Von daher das Gelächter, denn die Umwege der philosophischen Sprache haben manchmal komische Wirkung; Gelächter aber vor allem, weil diese Sprache im Allgemeinen ohne Umschweife ist und weil es eine Frau ist, die sie benutzt. Die Klarheit ist jenen vorbehalten, die das Berufsgeheimnis zum Schweigen zwingt: den Ärzten und den Beichtvätern. Von einer Frau kommend und über dieses Thema, ist eine klare Sprache eine Anmaßung, ein Skandal. Darum ist das Buch Simone de Beauvoirs epochemachend, weniger durch seinen Inhalt als durch seine natürliche Ausdrucksweise. Aggressiv geschrieben, hätte es weniger Skandal erregt. Aber es ist so geschrieben, als wäre es ganz selbstverständlich, es zu schreiben. Von Scham oder Peinlichkeit, christlicher oder nichtchristlicher Art, nicht die geringste Spur bei Simone de Beauvoir.62
Um festzustellen, wie groß der Abstand zwischen der Sprache des Anderen Geschlechts und den Konventionen ist, dem also, was üblich und zulässig war, braucht man nur die Rezensionen zu lesen, die voller Euphemismen stecken. Schon das Wort »Sexualität« ist für die Mehrzahl unaussprechbar; stattdessen ist von »Erotik« die Rede. Um den Begriff »Lesbianismus« zu vermeiden, benutzt ein Kritiker die Umschreibung »weibliche Verirrung der Leidenschaften der Liebe«. Prüde in der Öffentlichkeit, schreckte man im privaten Gespräch freilich vor deutlichen Worten keineswegs zurück. Beauvoir hat selbst darauf hingewiesen, als sie in ihrer Autobiografie den seither immer wieder zitierten Satz Mauriacs festhielt, den dieser an einen Mitarbeiter der Zeitschrift Les Temps modernes geschrieben habe: »Nun weiß ich alles über die Vagina Ihrer Chefin.«63 Als Mauriac dieses »furchtbare Wort« – wie er schrieb – in Beauvoirs Memoiren entdeckte, meinte er, es sehe ihm überhaupt nicht ähnlich.64 Aber es gibt andere Texte, die belegen, dass er mit Worten nicht besonders zimperlich war. Eines seiner Bücher war von einer der brillantesten Intellektuellen ihrer Zeit, die Beauvoir in nichts nachstand, von der wir aber heute kaum etwas wissen, weil ihre Geschichte nicht geschrieben wurde, verrissen worden. In einem Brief beklagt er sich über sie bei einem Freund. Dieser Brief wurde nicht lange nach Erscheinen des Anderen Geschlechts geschrieben:
Ihre Seiten trösten mich über die Niedertracht des Weibs Magny hinweg. Diese gebildeten Idiotinnen, die ihre Louis XV-Absätze in alle Wege bohren, die uns hoch und heilig sind, diese pseudogelehrten und kreischenden Arschlöcher, man sollte sie in einen Kindergarten stecken, wo sie die Hintern abwischen und die Töpfe ausleeren müssten bis zu ihrem Tode.65
Hätte Mauriac einen schöneren Beleg dafür liefern können, wie dringend Beauvoirs Buch