Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster

Simone de Beauvoir und der Feminismus - Ingrid Galster


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damit die Teilnahme der Frauen an der Erwerbsarbeit; 2. die Möglichkeit der Geburtenkontrolle, die dem Zwang der Reproduktion ein Ende setzt, den Beauvoir vor allem als Ursache für die Randstellung der Frau ausgemacht hat. 1949 sieht Beauvoir die zunehmende Assimilation der Frauen an die Männerwelt am Horizont aufleuchten. Freilich gibt es noch Hindernisse wie die Doppelbelastung der Frauen durch Familie und Beruf und die geringeren Chancen, die Frauen – so Beauvoir – bei Konkurrenz um dieselbe Stelle als Männer haben. Beides ist auch heute noch gültig, wie man mühelos beobachten kann. Auch wenn Ansätze bestehen, ist die Befreiung nicht erreicht. 1949 war sie es weniger als heute. Viele Frauen, so Beauvoir, trauen sich daher nicht, selbständig aufzutreten, und bleiben lieber bewusst in der Abhängigkeit der Männer. Sie versuchen, dem Bild zu entsprechen, das die Männer von ihnen haben, um für sie akzeptabel zu sein.

       Mythen

      Das ist das Scharnier, mit dem Beauvoir zum nächsten Teil ihrer Arbeit überleitet, dem Teil, den sie mit »Mythen« überschreibt und der mehr Raum einnimmt als die vorangegangene Darstellung der Geschichte. Dieser Teil war der Ausgangspunkt ihrer ganzen Arbeit gewesen; er erschien auch zuerst (von Mai – Juli 1948) im Vorabdruck in den Temps modernes. Während der geschichtliche Teil sich immer stärker auf die Ökonomie als Rahmen hin bewegte – was vielleicht auch von den Quellen abhing, die sie benutzte –, geht es hier wieder wesentlich philosophisch zu. Beauvoir zeigt, dass die Frau für den Mann eine Doppelnatur besitzen muss, die er in Mythen, Legenden, im religiösen Kult, aber auch in der Literatur von ihr entwirft. Wenn ich zu Beginn sagte, dass die Bewegung der Selbstüberschreitung im Entwurf auf die Zukunft hin der ontologischen Begründung, der Selbstsetzung, dienen soll, dann wird diese Begründung wesentlich häufiger auf andere Weise gesucht, nämlich im Blick des anderen, meines Gegenübers, das mich so widerspiegeln soll, wie ich mich sehe, in meiner Freiheit, aber mir zugleich die Festigkeit eines Dings geben soll. Wer dem Mann diese Selbstbegründung verschaffen soll, ist – Sie haben es erraten – die Frau. Sie soll, wie ich sagte, eine Doppelnatur besitzen, denn zum einen soll sie fügsames Objekt sein. Die gewünschte Begründung kann ihm jedoch nur ein freies Subjekt verschaffen. Dieser Widerspruch führt dazu, dass der Mann die Frau auf immer neue Weise phantasiert, weil der Begründungsversuch, die Suche nach Anerkennung in den Augen der Frau als Freiheit, zum Scheitern verurteilt ist. Ich zitiere: »[Die Frau] ist alles, wonach der Mann verlangt, und alles, was er nicht erreicht.«24 Die Frau ist zwar so konditioniert worden, dass sie den Mann anerkennt, wie er sich selbst sieht, aber sie entzieht sich auch immer wieder diesem Zweck, ist nicht absolut beherrschbar. Beauvoir untersucht ausführlich am Werk von fünf Autoren, wie sie die Frau konstruieren, und führt die Konstruktion auf das jeweilige Weltbild des Schriftstellers zurück. Damit liefert sie ein Modell für die vielen Studien, die sich seit den siebziger Jahren mit dem Frauenbild in der Literatur beschäftigen, und zwar aus kritischer feministischer Sicht.25 Sie führt zugleich eine Praxis vor, die in der westdeutschen Literaturwissenschaft der siebziger Jahre zu Popularität gelangen sollte: das Entmythologisieren. Dazu äußert sie sich auch theoretisch. Der Mythos, so schreibt sie, ersetzt die empirische, lebendige Erfahrung durch eine Idee, die überzeitliche Geltung beansprucht. Anders gesagt: Die real existierende Heterogenität wird in Homogenität überführt, den Mythos des ewig Weiblichen. In Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse wird die Wirklichkeit am Mythos gemessen: Wer ihm nicht entspricht, fällt durch das Raster, das je nach Epoche unterschiedlich ausgeprägt ist. Es gilt, so schreibt sie, den Mythos auf das Interesse jener abzuklopfen, die ihn errichtet haben. Aber taucht hinter dem zerstörten Mythos etwas auf, was die Frau »eigentlich« wäre? Sie kennen die Antwort: Es gibt nach existenzialistischer Auffassung keine Identität, die etwas anderes wäre als das Sediment des eigenen Handelns. Das Handeln vollzieht sich jedoch innerhalb bestimmter Bedingungen, innerhalb einer Situation. Der besonderen Situation, die die Frau antrifft – d. h. der condition féminine –, ist der zweite Band des Anderen Geschlechts gewidmet, bevor am Ende – ich sagte es – Perspektiven der Befreiung aufgezeigt werden.

       Gelebte Erfahrung

      Der zweite Band beginnt mit dem meistzitierten Satz der gesamten feministischen Literatur. Er ist so griffig, dass viele meinen, er enthalte die Quintessenz des gesamten Werkes: »On ne naît pas femme: on le devient.« Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht – wie die erste deutsche Übersetzung, die sich eingebürgert hat, lautete. Im Grunde ist es nur eine neue Paraphrase dessen, was Beauvoir unausgesetzt wiederholt: Es gibt keine weibliche Essenz, kein Schicksal, das die Anatomie auferlegt. Wenn es in der Geschichte so war, dann, weil es Nutznießer gab, die es so wollten. Wie die Frau von der Kindheit bis zum Alter in ihren einzelnen Lebensphasen von der Gesellschaft programmiert wird und wie sie selbst diese Programmierung empfindet, diese Darstellung macht den überwiegenden Teil des zweiten Bandes aus. Es ist eine Bestandsaufnahme der gelebten Erfahrung als Voraussetzung für ihre Überwindung. Beauvoir benutzt hier die unterschiedlichsten Quellen: psychologische Untersuchungen, Memoiren, fiktionale Literatur, Erfahrungen, die Frauen ihr anvertraut haben, und Beobachtungen, die sie selbst machte. Wegen der Fülle des ausgebreiteten Materials kann ich hier nur einige Punkte herausgreifen, die ihre Position charakterisieren.

      Generell herrscht der Tenor vor, dass die Frau ihre Körperlichkeit als unangenehm empfindet. Ich muss hier gleich wieder in Erinnerung rufen, dass dies nicht so sein muss, sondern dass dies so ist wegen der gesellschaftlichen Konditionierung der Frauen, ihrer Zurichtung für heteronome Zwecke. Beauvoir geht mit einer Deutlichkeit und zum Teil klinischen Genauigkeit, die kein Tabu respektiert, Themen wie Menstruation, sexuelle Initiation, Penetration, Schwangerschaft, Niederkunft und Wechseljahre an. Dabei sieht sich die Frau wesentlich als Ort eines Geschehens, dessen Urheberin sie nicht ist. Die Penetration wird als gewaltsame Besitzergreifung bezeichnet, abscheulich, weil aufgezwungen. Wenn Beauvoir die innere Befindlichkeit der Schwangeren beschreibt, betont sie zwar die Ambivalenz des Gefühls. Dennoch haben sich bestimmte Formulierungen eingeprägt, die auch Frauen aufschreien ließen, etwa, wenn sie von dem Fötus als einem Parasiten spricht, einem Polypen, der sich in der Frau mästet.26 Um die Krudität dieser Beschreibungen zu erklären, reicht es nicht festzustellen, dass Beauvoir selbst nie Mutter war und eingestandenermaßen für Kinder nichts übrighatte, obwohl dies sicherlich eine Rolle spielt. Es genügt auch nicht, darauf hinzuweisen, dass sie als Phänomenologin die Gegenstände, denen sie sich beschreibend annäherte, ohne jene Gefühlsduselei erfassen wollte, was ohne Zweifel der Fall war. Die Radikalität ihrer Formulierungen muss, wie ich denke, vor dem Hintergrund des Mutterkults der Vichy-Regierung gesehen werden, deren Werte in der Öffentlichkeit diskreditiert waren, so dass Beauvoir die Legitimität auf ihrer Seite vermuten konnte. Auch die Entmythologisierung der Mutterliebe, des Mutterinstinkts, versteht man besser in diesem Kontext. Für Beauvoir ist Mut- terliebe ein soziales Konstrukt, ein Mythos, der dazu dient, die Frau an Haus und Herd zu fesseln. Sie hält es für paradox, dass man der Frau öffentliche Betätigung verweigert – wir sind in den vierziger Jahren –, aber zugleich den schwersten Beruf anvertraut, der überhaupt denkbar ist: Menschen zu erziehen! Sie fordert, dass Frauen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mitwirken dürfen, um die Gestaltung der Realität mitzubestimmen, in die sie ihre Kinder entlassen.

      Von der Institution der Ehe hält sie nichts. Sie überführt, wie sie meint, in Rechte und Pflichten, was spontan als Austausch gelebt werden müsse und sich nicht reglementieren lasse: Keine Liebe ohne Freiheit! Wer dennoch Ehe und Familie als stabile Struktur wähle, auch um den Kindern ein Zuhause zu geben, soll zumindest das Recht auf Sexualpartner außerhalb der Ehe haben. Diese Praxis war ohnehin bei den Männern gang und gäbe; den Frauen wurde sie dagegen als Fehltritt angekreidet. Beauvoir schlägt vor, die praktizierte Heuchelei durch einen Pakt der Freiheit und Aufrichtigkeit zu ersetzen. Dass diese Form des Zusammenlebens auch nicht ganz unproblematisch war, wissen wir aus ihren Briefen und Tagebüchern.

      Am Ende ihres Durchgangs durch die Lebenschronologie der Frau steht ein Kapitel, das sie mit »Situation und Charakter der Frau« überschreibt. In ihm hält sie die wichtige Erkenntnis fest, dass Eigenschaften, die üblicherweise als Charaktermerkmale der Frau gelten, weder genetisch bedingt noch durch Hormone gesteuert sind. Vielmehr sind sie historisch erworben worden, weil die Situation, in der zu leben der Frau vorbehalten war, ein bestimmtes Verhalten nahelegte. Um zu erkennen, wie neu diese Einsichten in den vierziger Jahren waren, muss man sich in Erinnerung


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