Karl -ausgeliefert. Bernhard Giersche

Karl -ausgeliefert - Bernhard Giersche


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Es war ein Kleidungsstück. Ein Overall. Schnell zog er das einteilige Kleidungsstück an und fand in den Taschen ein Paar graue Wollsocken, die er ebenfalls anzog.

      »Danke, danke!«, rief er und freute sich wirklich sehr über das Geschenk. Er strahlte über das ganze Gesicht und rief immer wieder.

      »Danke Anke, Anke, danke, auf, auf. Doch. Auch.« Das war hier nicht so übel. Er hatte seine Liege, und wenn er schlief, gab ihm jemand zu Trinken und zu Essen. Und man hatte ihm nun auch noch diesen schönen, warmen Anzug geschenkt. Und Socken. Das Schlafmittel, das dem Wasser zugesetzt war, begann zu wirken und er schlief bereits, als das Licht wieder erlosch. Auf, auf. Auch. Doch.

      Sieben

      »Faszinierend.« Gerald Picard sah in den offenen Abwasserkanal. Der Polizeioberkommissar war nun schon seit einer Stunde am Tatort, und als Leiter des SEK gab es für ihn eigentlich nicht mehr viel zu tun. Es gab derzeit keine Informationen über Identität oder Aufenthaltsort des Täters oder der Täter. Dennoch hatte ihn der Chef der neu gegründeten SOKO »Karl« gebeten, hierzubleiben. Paul Gruhlich und er waren seit Jahren befreundet und hatten in ihrer gemeinsamen Zeit im Kriminalkommissariat unzählige Fälle bearbeitet und die meisten aufgeklärt. Dabei war ihre Arbeit stets von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Als man Picard die Stelle des Leiters eines Spezial-Einsatzkommandos anbot, hatte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge angenommen. Freunde waren Paul Gruhlich und er dennoch geblieben, und manchmal trafen sie sich, um aktuelle Fälle zu besprechen oder einfach nur, um über alte Zeiten zu palavern.

      »Was denkst du?«, fragte Gruhlich seinen alten Partner.

      »Sieht mir nach Vollprofis aus. So etwas derartig genau zu planen und durchzuführen, ohne dass es Zeugen gibt, ist fast unmöglich. Ich meine, dieser Grothner war doch besser bewacht als Fort Knox. Die wussten genau, was passieren würde, wenn der Wagen mit den Leibwächtern angegriffen würde. Dabei haben die nichts weiter gemacht, als den zu ankern. Und die von der Spurensicherung finden nicht den geringsten Hinweis. Um so eine Nummer abzuziehen, brauchst du Profis, wenn du mich fragst.«

      Gruhlich nickte. Ein Streifenbeamter wagte sich an die in zivil gekleideten Polizisten heran und blickte den Leiter der SOKO fragend an.

      »Was ist?«, fragte Gruhlich.

      »Als wir zum Tatort fuhren, kam uns ein Fahrzeug entgegen. Kann sein, dass das die waren, die das hier gemacht haben, oder? Ich hatte die Sicherungskamera an, wollen Sie mal sehen?«

      Picard sah Gruhlich an.

      »Was für ein Schaf. Zeigen Sie mal, Sie Top-Ermittler!« Die drei gingen zu dem Streifenwagen, der neben etwa dreißig anderen Einsatzfahrzeugen vor Grothners Villa geparkt war. Der uniformierte Beamte wies auf den Beifahrersitz und setzte sich selbst hinter das Lenkrad. Auf einem kleinen Display konnte man die Aufnahme, die die Bordkamera in Fahrtrichtung gemacht hatte, betrachten. Gruhlich hatte auf dem Sitz neben dem Streifenbeamten Platz genommen und sah auf das Display. Die Sequenz dauerte nur zwei Sekunden. Man sah einen dunklen Kombi entgegenkommen. Scheinbar nur ein Insasse.

      »Bringen Sie das unverzüglich ins Kommissariat und übergeben es den Kollegen der Technik. Ich will Halter und Adresse. Zeit läuft!«, sagte Gruhlich in strengem Ton und stieg aus dem Einsatzfahrzeug.

      »Der muss doch an der Unfallstelle vorbeigekommen sein«, sagte Picard.

      »Nein, da ist niemand vorbeigekommen, die Straße war völlig blockiert durch den Laster«, entgegnete Gruhlich.

      »Dann ist er erst danach auf die Landstraße gekommen. Wahrscheinlich ein Bauer, der nichts mitbekommen hat.«

      »Oder einer der Täter«, schloss Gruhlich.Gerald Picard saß zu Hause auf seinem Sofa und war damit beschäftigt, seinem Laptop beizubringen, wie man Urlaubsfotos zu einer Dia-Show zusammenstellt, als sein Telefon schellte.

      »Was!«, sagte er in den Hörer, anstatt seinen Namen zu nennen.

      »Paul hier. Der Wagen, der den Streifen entgegenkam, ist von einem Schrottplatz gekauft worden. Das Kennzeichen ist geklaut. Der Besitzer des Schrottplatzes ist vollkommen blöd. Kann sich nicht erinnern an den Kerl, der das Ding kaufte. Er sagt, dass jeden Tag irgendwelche Typen irgendwelche Teile kaufen, und ob denn die Kassiererin im Aldi wüsste, wie die Frau aussah, die um halb neun drei Liter Milch gekauft hat. Wir haben ihn in der Mangel, aber ich denke, dass dieser Schrotthändler das wirklich nicht mehr weiß. Vom Fahrer des Autos haben wir nur das Kinn. Der hatte die Sonnenblende heruntergeklappt.«

      »Warum erzählst du mir das? Ich bin beim SEK, schon vergessen? Wenn du weißt, wer er ist und wo er steckt, sag mir Bescheid, dann hole ich ihn dir.« Ein wenig bedauerte Picard diese Antwort.

      »Naja, ich dachte, du könntest hier mit einsteigen. Das ist eine Riesensache und die Presse überschlägt sich deswegen. Wir haben hier mächtig Dampf unterm Hintern und der Alte ist bestimmt dafür, wenn du nur für diese Sache zurückkommst. Man könnte dich abkommandieren, bis wir den Mann da rausgehauen haben.« Paul Gruhlichs Stimme klang fast flehentlich. Gerald Picard brauchte nicht sehr lange, um eine Entscheidung zu treffen.

      »Warum nicht. Frag den Alten, und wenn der abnickt, bin ich dabei. Mal was anderes.«

      Acht

      Die Verletzungen waren nicht schlimm, schätzte Marius. Eine Platzwunde am Kopf und vielleicht eine Gehirnerschütterung. Er hatte Karl Grothner in das halb verfallene Pförtnerhäuschen auf der Industriebrache der »Buttwanger«-Fabrik geschafft. Der Flachbau war zum Teil unterkellert, und Kleinhans hatte eine Pritsche und einen Eimer in den Vorratskeller des Gebäudes gebracht. Zur Sicherheit hatte er eine Kette an die Wand gedübelt, die seinem Gefangenen zwar erlauben würde, in dem kleinen Raum umherzugehen, die aber kurz genug war, um zu verhindern, dass er die Eingangstür des Kellers erreichte. Es gab hier weder Strom noch fließendes Wasser, und Marius hatte einen Stromerzeuger und Wasservorräte herschaffen müssen, um für die Dauer der Entführung ausgerüstet zu sein. Das Aggregat hatte er in einem kleinen Nebenraum platziert und sich davon überzeugt, dass keine nennenswerten Geräusche nach außen drangen. Danach hatte er provisorisch mithilfe von Verlängerungskabeln ein kleines Stromnetz installiert. Er hatte mehrere Lichtquellen, die er mit Strom versorgen musste, und ein Radio, um Nachrichten hören zu können. Außerdem musste er ja sein Mobiltelefon jederzeit laden können. Grothner in seinem Keller würde sich mit einer vierzig Watt Glühbirne als einzigen Luxusgegenstand begnügen müssen. Dafür gab es die Mahlzeiten frei Haus, die er auf einem Campingkocher zubereiten wollte. Es würde kein Lichtschein nach außen dringen, denn die Fenster in dem Gebäude waren mit Brettern zugenagelt. Das meterhohe Unkraut gab Zeugnis davon, dass hier schon seit Monaten niemand mehr gewesen war. Die stillgelegte Fabrik lag zu weit außerhalb der Stadt, um Jugendliche anzuziehen, die hier irgendwelche Feten feiern wollten oder Liebespärchen, die ein verstecktes Örtchen suchten. Marius kannte die Fabrik noch aus seiner Kindheit. Damals wurden hier große Tanks und Getreidesilos hergestellt. Wegen der Übergröße mancher Produkte machte es Sinn, die Herstellung der Riesenbehälter außerhalb der Stadt zu betreiben, damit sie auch problemlos abtransportiert werden konnten. Irgendwann hatte die Globalisierung die Käufer vertrieben, und die Fabrik schloss die Pforten. Ein guter Ort nun, um seinen Plan zu Ende zu führen, dachte Marius, als er diese Stelle wählte, die nur acht Kilometer vom Ort der Entführung entfernt war. Er ging davon aus, dass die Polizei ihn niemals so nah am Tatort vermuten würde. Die Vorbereitungen, die er getroffen hatte, kosteten ihn seine gesamten Ersparnisse. Marius betrachtete das als Investition. In der Ferne hörte er einen Hubschrauber, und wie ein Stromstoß durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass der Renault, mit dem er Grothner hergebracht hatte, aus der Luft zu erkennen sein würde. Und auch die Reifenspuren, die er nicht hatte vermeiden können, als er das Unkraut vom Eingangstor bis zu seinem Unterschlupf niedergewalzt hatte. Ohne auf Karl zu achten, der noch immer besinnungslos auf der Pritsche lag, rannte Marius aus dem Gebäude, um die Spuren zu verwischen und den Wagen irgendwie zu tarnen, bevor die Leute in dem Hubschrauber ihn entdecken konnten. Noch war das charakteristische Geräusch der Rotorblätter weit entfernt, aber Marius ahnte, dass die Polizei jeden Quadratmeter in einem Radius von etlichen Kilometern aus der Luft absuchen würde. Die Spuren, die der Renault in das Unkraut


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