365 Schicksalstage. Johannes Sachslehner

365 Schicksalstage - Johannes Sachslehner


Скачать книгу
25. Jänner bringt noch einmal eine Kampfpause, doch am nächsten Tag macht die Rote Armee ernst: Geschütze fahren auf, belegen die Stellungen mit Trommelfeuer, Panzer und Infanterie greifen in breiter Front an; am 26. Jänner wird der Kessel in drei Teile zerschlagen. Tausende sterben täglich, doch Friedrich Paulus lehnt eine Gesamtkapitulation ab und überlässt es seinen Kommandeuren, den Kampf einzustellen – er will nun zumindest formal dem Durchhaltebefehl Hitlers gehorchen. Am 31. Jänner geht Paulus, von Hitler noch rasch zum Generalfeldmarschall ernannt, zusammen mit dem Armeestab in Gefangenschaft; vom Nordkessel, so Hitler in einem Funkspruch an das XI. Armeekorps am 1. Februar um 17.25 Uhr, erwarte er sich, dass er sich „bis zum Letzten“ halte – apokalyptischer Wahnsinn, so ganz nach dem Geschmack des „Führers“: Zwei Tage später, am 3. Februar, wird die zynische Verklärung des „Heldenkampfs“ um Stalingrad zum „größten Heldenlied der deutschen Geschichte“ beginnen, sinnloses Sterben wird umgedeutet zur „historisch europäischen Mission“.

      Den Autoren österreichischer Schulbücher ist Stalingrad heute kaum mehr eine Erwähnung wert; in einigen dürren Zeilen wird über den Untergang der „deutschen“ 6. Armee berichtet, die Schlacht als angeblicher Wendepunkt des Krieges und Symbol der Niederlage herausgehoben. Vergessen und verdrängt wird, dass es vor allem auch österreichische Soldaten waren, die die Fehler Hitlers und seiner Generäle mit dem Leben bezahlen mussten. Das Sprechen über die Tragödie fällt offenbar schwer, ja, es scheint nicht opportun zu sein – zu groß ist die Angst, in bedenkliche alte „Erinnerungsmuster“ zu verfallen. Die Mythisierung Stalingrads durch das NS-Regime wirkt so noch immer nach.

       Eine „eiskalte Wüste des Wahnsinns“ (Franz Dopf): Am 3. Februar 1943 meldet das Oberkommando der Wehrmacht: „Sie starben, damit wir leben.“

       Das Rohrbomben-Attentat von Oberwart

      Es ist knapp vor Mitternacht. Vier Männer der Oberwarter Romasiedlung, der 40-jährige Josef Simon und seine jüngeren Freunde Peter Sarközi (27) sowie Karl (22) und Erwin Horvath (18), befinden sich noch auf einem kleinen Rundgang. Da entdecken sie auf einer Kreuzung, etwa 250 Meter von der Siedlung entfernt, ein merkwürdiges „Ding“, etwas, das aussieht wie ein Verkehrszeichen. Als sie näher treten, erkennen sie, dass das vermeintliche Verkehrszeichen keines ist: Aus einem Kunststoffsockel ragt ein etwa 1,20 m hohes Rohr empor, an dem eine Tafel befestigt ist: „Roma zurück nach Indien“, steht da zu lesen. Eine rassistische Schmähung, die sie nicht dulden können – sie versuchen das Rohr mit dem Kunststoffsockel hochzuheben und von der Kreuzung zu entfernen. In diesem Moment löst ein Zündmechanismus aus, der im oberen Drittel des Rohres befindliche Sprengstoff – 150 Gramm gedämmtes Nitroglycerin – explodiert, die Splitter töten die vier Männer auf der Stelle. Der Knall der Explosion wird zwar von den Bewohnern der Romasiedlung gehört, die vier verstümmelten Leichen werden aber erst am Morgen gefunden. Das Entsetzen über die Morde ist im Lande groß.

      Die polizeilichen Ermittlungen können bald einen Zusammenhang mit den Briefbomben herstellen, die seit 1993 von einer mysteriösen „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ (BBA) verschickt werden, u. a. auch an den Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, der am 5. Dezember 1993 an der linken Hand schwer verletzt wird: Es ist der gleiche Sprengstoff. Über den oder die Täter tappt die Polizei jedoch lange im Dunkeln, dann ist es eine Routinekontrolle, die endlich zur Festnahme eines Verdächtigen führt: Am 1. Oktober 1997 stoppen Gendarmeriebeamte den Wagen des aus Gralla in der Südsteiermark stammenden Franz Fuchs – anstatt seine Papiere zu zeigen, zündet Fuchs, der sich entlarvt glaubt, eine Rohrbombe, die Explosion reißt ihm beide Unterarme weg, zwei Beamte werden verletzt. Am 2. Februar 1999 beginnt am Grazer Landesgericht der Prozess gegen Franz Fuchs, der mit dem lauten Schreien von Hasstiraden gegen Staat, Justiz und „Ausländer“ auf sich aufmerksam machen will und daraufhin durch Richter Heinz Fuhrmann von den Verhandlungen ausgeschlossen wird. Weitere Indizien haben inzwischen seine Täterschaft beim Oberwarter Attentat erhärtet – so kann nachgewiesen werden, dass das beim Bombenbau verwendete Wasser aus der Gegend von Gralla stammt. Ein Geschworenensenat verurteilt ihn wegen vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher – am 26. Februar 2000 begeht Franz Fuchs in der Justizanstalt Graz-Karlau Selbstmord.

      So wirr das Geschichts- und Weltbild des Franz Fuchs auch sein mögen – in manchen Versatzstücken spiegelt es in erschreckender Weise Gedankengut wider, das noch immer in manchen Köpfen präsent ist. Franz Fuchs mag als Einzeltäter gehandelt haben, seine Parolen sind leider so manchen Österreichern nicht völlig fremd …

       Olympiagold für Franz Klammer

      Die Situation im ÖSV-Abfahrtsteam vor den Olympischen Spielen in Innsbruck 1976 ist nicht einfach: Die Niederlage von Grenoble gegen Jean-Claude Killy und die „Schmach“ von Sapporo, bedingt durch den Ausschluss von Karl Schranz, sind noch in bester Erinnerung – die Last des Siegenmüssens liegt nun auf einem Mann: auf Franz Klammer, dem „Teufelsbuam“ aus Mooswald in Kärnten, der die letzten beiden Saisonen im Weltcup dominiert hat. Startzeit am Patscherkofel ist 12 : 30 Uhr und alle wollen dabei sein, wenn der Franz „es macht“. Titelverteidiger Bernhard Russi, der Sieger vom Mont Eniwa in Sapporo 1972, legt mit Startnummer 3 eine beinahe fehlerlose Fahrt hin: 1 : 46,06 lautet die neue Bestzeit, eine Marke, an der die nachfolgenden Läufer klar scheitern: Mit Nummer 12 startet Österreichs Nachwuchshoffnung Anton „Jimmy“ Steiner. Als für den 17-jährigen Draufgänger die beste Zwischenzeit gemeldet wird, scheint Russis Führung erstmals gefährdet – doch dann stürzt Steiner knapp vor dem Ziel, eine mögliche Medaille in Sichtweite. Auf den zweiten Platz schiebt sich der Südtiroler Herbert Plank, aber auch er liegt deutlich hinter Russi zurück.

      Alle rot-weiß-roten Hoffnungen ruhen nun auf der Startnummer 15, Franz Klammer. Er kennt die Zeit von Russi und schwört sich, eine 1 : 45er-Zeit zu fahren. Gleich der erste Streckenabschnitt gelingt dem Kärntner jedoch nicht optimal und die erste Zwischenzeit weist dies auch unbarmherzig aus: 19 Hundertstel Rückstand auf Russi, 3 Hundertstel auf Herbert Plank: Die Zuschauer halten entsetzt den Atem an, als Klammer beim dritten Tor im „Ochsenschlag“, einem Rechtsschwung, zu direkt fährt und beim darauf folgenden Sprung nur mit wildem Rudern der Arme einen Sturz vermeiden kann. Er muss querstellen, verliert neuerlich Zeit. In diesem Moment scheint die Goldmedaille bereits verloren, doch Franz Klammer behält die Nerven: Er wählt im unteren Streckenabschnitt eine neue Linie, fährt zwei Kurven höher an und „sticht“ dann, das höhere Tempo perfekt mitnehmend, Richtung Ziel hinunter – ORF-Reporter Edi Finger zählt die Sekunden laut mit, es ist ein unbeschreiblicher Moment der Spannung, dann der erlösende Schrei: „1 : 42, 1 : 43, 1 : 44, 1 : 45 – jawohl! Bestzeit!“ Franz Klammer schaut nur ins Publikum, sieht die Menschen jubeln und weiß in diesem Augenblick, dass er gewonnen hat – mit ihm triumphieren „wir Österreicher“.

       Deportation nach Riga

      In den späten Abendstunden herrscht am Aspangbahnhof wieder einmal hektische Betriebsamkeit: Der „16. Transport“ wird verladen, Fahrziel des „Sonderzugs“ ist das „Reichsjudenghetto“ Riga. Die Gestapobeamten sorgen dafür, dass alles ruhig und konzentriert abläuft: 1.003 Menschen, alle aus Wien, besteigen die Waggons dritter Klasse, unter ihnen 23 Kinder, die unter zehn Jahre alt sind, die Frauen und drei Männer, die älter als achtzig sind, das Durchschnittsalter der Deportierten: 54 Jahre. Es ist nach den Zügen vom 3. Dezember 1941 (1.001 Deportierte) sowie vom 1. Januar (1.000 Deportierte) und 26. Januar 1942 (1.201 Deportierte) bereits der vierte „Transport“ von Wien nach Riga. Kommandiert wird der „Transport“ dieses Mal von Eichmanns Mitarbeiter Alois Brunner selbst, der besonders einen der deportierten Juden an Bord im Visier hat: den ehemaligen Bankier und Börsenspekulanten


Скачать книгу