"Rosen für den Mörder". Johannes Sachslehner


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so zu tun, als ob es diesen Mann nie gegeben hätte, der einst auch den Ort in die Schlagzeilen der österreichischen und internationalen Medien brachte. Niemand weiß etwas, niemand will darüber sprechen.

      Das Schweigen, wir können auch von Verdrängen und Vergessen sprechen, ist nun für einen Ort wie Gaishorn am See nichts Außergewöhnliches, man setzt nur eine liebgewordene Tradition fort: die bevorzugte Form österreichischer „Vergangenheitsbewältigung“ in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende. Die Verweigerung von Erinnerung hat ja einen willkommenen Nebeneffekt: Man kann damit auch Verantwortung und Schuld weit von sich weisen. Inzwischen hat man vielerorts begonnen umzudenken, hat erkannt, dass es möglich ist, Nutzen aus der schmerzvollen Historie zu ziehen. Die Republik selbst bekennt sich zu dieser Haltung. Nicht so manche Kommunen – die Marktgemeinde Gaishorn am See mag hier exemplarisch für fragwürdige Gedächtniskultur stehen: Reflexartig verweigert man sich der Erinnerung. Ja, es ist lustiger, über den nächsten Narrenabend nachzudenken, Haligai!

      Ein Kind von Bauern

      Es ist Fasching und die steirische Hauptstadt feiert: In der Grazer Industrie-Halle findet die 2. Nobel-Redoute statt, nur „schönen, anständigen Masken“ ist der Zutritt gestattet, wer unmaskiert kommen will, muss im „Salonanzug“ erscheinen, eine Militärkapelle und das Schrammel-Quartett Reinholz spielen auf, der Eintritt an der Abendkassa kostet zwei Kronen, in den „wunderhübsch ausgestatteten Räumen“ hat erst einige Tage zuvor der glanzvolle Deutsche Jubiläums-Technikerball 1912 stattgefunden, unter den Ehrengästen Statthalter Graf Clary und Aldringen und Landeshauptmann Graf Attems. Im Grazer Orpheum treten die Schwestern Wiesenthal aus Wien mit ihren „Tanzdichtungen“ auf, das Edison-Theater des Herrn Direktor Löffler lockt mit dem „Sensations-Weltschlager“ Die Todesflucht, einem „Nihilisten-Drama in zwei Akten“, und wer möchte, kann sich im landschaftlichen Ritter-Saal im Landhaus einen Lichtbildervortrag über „Die Entwicklung der Luftschiffahrt in Österreich“ anhören, dargeboten von Ingenieur J. Mayer vom Flugtechnischem Verein in der Steiermark. Eine Notiz im Grazer Tagblatt über Ermittlungen gegen den serbischen Offiziers-Geheimbund „Die schwarze Hand“, der bereits zu einer politischen Macht geworden sei, wird kaum beachtet.

      Von all dem Trubel ist in den dörflichen Gemeinden der Obersteiermark kaum etwas zu spüren. Es ist die Nacht vom 23. zum 24. Januar 1912. Die Bevölkerung steht noch im Bann eines Erdbebens, das sich am 22. in einem „sekundenlangen heftigen Rollen“ bemerkbar gemacht hat. Am Pötscherhof, dem Haus Nr. 68 im kleinen Ort St. Lorenzen ob Murau, liegt die Bäuerin Maria Murer, geborene Seidl, in den Geburtswehen. Ihr Mann Johann hat aus Murau die geprüfte Hebamme Josephine Fürnschuss kommen lassen, alles ist vorbereitet. Eine halbe Stunde nach Mitternacht ist es dann so weit: Sohn Franz, das mittlerweile schon siebente Kind der Eheleute Murer, erblickt das Licht der Welt. Wie in der Gegend üblich, wird der neugeborene Sohn – nach Petrus (1903) und Albin (1908) ist es der dritte männliche Spross – noch am gleichen Tag, um vier Uhr nachmittags, getauft. Als Taufpatin ist die Bäuerin Genovefa Tschina, die Schwester Maria Murers, anwesend, das Sakrament spendet – wie allen Kindern der Pötscherhoffamilie – St. Georgens langjähriger Pfarrer Konsistorial- und Geistlicher Rat Andreas Prinz (1846–1929). Genovefa ist mit Friedrich Tschina, einem Bauern im nahen Marbach, verheiratet, die beiden Schwestern unterstützen sich gegenseitig in ihren familiären Pflichten – Maria Murer ist ihrerseits Taufpatin von Genovefas 1911 geborener Tochter Paulina. So ist es auch nicht ungewöhnlich, dass die Murer-Kinder Seraphina, Franz und Georg am 24. Juli 1922 gemeinsam mit ihrer Cousine Paulina gefirmt werden. Maria Murer bleibt nur eine kurze Zeit der Erholung – die Arbeit am Hof ruft, auch jetzt im Winter. Und bald ist sie wieder schwanger: Am 24. März 1913 wird Georg Murer, der vierte männliche Nachkomme, geboren. Noch ahnt niemand, dass beide Söhne, Franz und Georg, einmal für wenig erfreuliche Schlagzeilen sorgen werden …

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      Noch am Tag der Geburt wird Franz von Pfarrer Andreas Prinz getauft. Eintrag im Taufbuch der Pfarre St. Georgen ob Murau, Band 10, S. 160, Diözesanarchiv Graz-Seckau.

      Johann und Maria Murer sind erst seit kurzem stolze Besitzer des Pötscherhofes, davor liegen lange Jahre harter Arbeit. Maria, geboren am 4. August 1877, ist die Tochter des Bauern Wenzel Seidl und der Katharina, geborene Gams; der Hof von Franz Murers Großvater mütterlicherseits befindet sich im zu St. Georgen ob Murau gehörenden Dorf Feldern. Wie so viele Bauerntöchter in dieser Zeit muss sich auch Maria Seidl als Dienstmagd verdingen, die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben ist es, einen Mann zu finden, der zur Heirat bereit ist. Wohl um die Jahrhundertwende lernt sie den um knapp zwei Jahre jüngeren Johann Murer näher kennen und beginnt mit ihm zusammenzuleben. Immerhin: Der junge Mann, geboren am 7. März 1879, darf sich „Grundbesitzer“ nennen – von seinem Vater Martin Murer, Sägemeister in St. Lorenzen, hat er eine „Keuschen“ übernommen, das Haus Nr. 31 in St. Lorenzen. Der Vater hat sich als „Auszügler“ ins Ausgedinge zurückgezogen, die Mutter Maria, geborene Schaffer, ist bereits früh verstorben.

      Ende 1902 wird Maria Seidl erstmals schwanger, für eine Hochzeit scheint es dem „Keuschler“ Johann Murer jedoch offenbar zu früh. So kommt im Juni 1903 Sohn Petrus als „uneheliches“ Kind zur Welt, beim Eintrag ins Taufbuch der Pfarre St. Georgen fehlt vorerst die Nennung des Vaters – der wird am Tag der Hochzeit, dem 7. Mai 1906, nachgetragen: In Gegenwart von zwei Zeugen bekennt sich Johann Murer zur Vaterschaft, die damit ins Taufbuch eingetragen wird. Jetzt erst übersiedelt Maria aus Lutzmannsdorf 11, wo sie bisher offiziell gemeldet war, in die Keusche ihres Mannes. Inzwischen ist ihr zweites Kind, ein Mädchen namens Katharina, wenige Wochen nach der Geburt verstorben, im Jänner 1907 erblickt Tochter Maria das Licht der Welt, nach Sohn Albin folgen die Töchter Katharina (1909) – noch einmal vergeben die Eltern diesen Namen – und Seraphina (1910). Insgesamt wird Maria Murer ihrem Mann 13 Kinder gebären.

      Mit der Übernahme des Pötscherhofes, St. Lorenzen Nr 68, gelingt der Familie Murer ein gesellschaftlicher Aufstieg: Johann Murer wandelt sich vom Keuschler zum Bauern, ein feiner Unterschied, den die bäuerliche Gesellschaft der St. Georgener Welt wohl zu schätzen weiß. Ein Aufstieg, der jedoch bald vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges und vom Beginn einer „schweren Zeit“, wie die Festschrift zur 800-Jahr-Feier der Pfarrkirche von St. Georgen ob Murau es formuliert, überschattet wird. Noch fehlt auf den Bergbauernhöfen der elektrische Strom, man ist auf Pferde- und Ochsenfuhrwerke angewiesen, die Motorisierung ein ferner Luxus.

      Im September 1918 kommt der 6-jährige Franz in die Volksschule St. Georgen, seine älteren Schwestern Katharina und Seraphina begleiten ihn täglich am Schulweg. Während er mit den Buchstaben des Alphabets kämpft und lesen und schreiben lernt, bricht die Monarchie zusammen und in Wien wird die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Die Männer kommen zurück aus dem verlorenen Krieg, gezeichnet vom Erlebnis des Tötens, viele sind selbst zu lebenden Toten geworden, wie dies Joseph Roth in seinen Romanen über den Nachkrieg beschreibt. Unsicherheit und Angst bestimmen den Alltag, bald auch die fortschreitende Inflation, Arbeitslosigkeit und die zunehmende Verschuldung vieler Kleinbauern.

      Nach fünf Jahren Volksschule wechselt Franz im Herbst 1923 in die „Steiermärkische Landes-Bürgerschule“ in Judenburg – für einen Bauernbuben ein ungewöhnlicher Schritt, ist doch Judenburg über 50 km von St. Lorenzen entfernt. Das bedeutet, dass der 11-Jährige den Hof der Eltern verlassen und in einem privaten Quartier in Judenburg leben muss. Anton Schreibmaier, Postunterbeamter und Briefträger im Ruhestand, wohnhaft in der Gartengasse 1, sorgt nun als „verantwortlicher Aufseher“ für den Buben. Es sind wohl die guten Schulnoten, die Johann und Maria Murer dazu veranlassen, ihren Sohn „in die Fremde“ zu schicken – bedeutet die Schule für sie doch auch eine finanzielle Belastung: Sie müssen für ihren Sohn sechs Semester lang Schulgeld zahlen und die Kosten für den Quartiergeber begleichen. Hinter dieser Entscheidung steht die Hoffnung, dass es dem „Franzi“, dem gescheiten Buben, gelingen möge, etwas „Besseres“ zu erreichen, wegzukommen aus der ärmlichen Enge des heimatlichen Dorfes. Seine bäuerliche Herkunft wird Franz Murer dennoch nie verleugnen. Noch vor Gericht 1963 wird er dem Untersuchungsrichter stolz sagen: „Ich bin als Kind von Bauern in St. Georgen ob Murau aufgewachsen.“ (Zitiert nach Gerichtsakt Franz Murer, Steiermärkisches Landesarchiv.)

      Franz


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