Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2). Detlev Sakautzky
großen Eisengittertor und drohten mit ihren Gewehren. Der Bauer lief zum Hoftor und brachte Würste. Für die Russen waren es zu wenige, die der Bauer ihnen brachte. Nach wiederholten Drohungen lief der Bauer zurück ins Haus und holte noch weitere Würste.
„Der Geizkragen, uns hat er nur eine Wassersuppe gegeben“, sagte Frau Solltau leise zu den Kindern, die vom Lärm am Hoftor wach geworden waren und vor Angst nicht mehr einschlafen konnten.
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Am folgenden Tag meldete sich Frau Solltau mit den Kindern beim Bürgermeister. Andere Flüchtlinge waren schon hier gewesen. Sie erhielt für ihre kleine Familie Lebensmittelkarten, Milchkarten, Brotkarten, Bezugsscheine und Kohlenkarten. Die ausgewiesenen Waren konnte sie in einem Dorfladen des Nachbardorfes gegen Bezahlung erwerben, sobald das Geschäft beliefert worden war. Die festgelegten bescheidenen Rationen reichten nicht aus zum Überleben, das wusste Frau Solltau. Die Kinder kannten den Hunger. In den Flüchtlingslagern wurde gehungert. Ältere Menschen und Kinder starben in großer Anzahl geschwächt durch Hunger und Typhus. Hans und Robert waren abgemagert, die Wangen in den Gesichtern waren eingefallen, die Körper waren mager, die Beine dünn, sie wirkten äußerlich kraftlos. Frau Solltau ging von Hof zu Hof und bot den Bauern ihre Arbeitskraft für Nahrungsmittel an. Sie arbeitete, sobald sie gebraucht wurde. Die beiden Kinder waren häufig sich selbst überlassen.
„Hans, du musst auf Robert aufpassen. Er ist noch klein und braucht deine Hilfe. Du bist groß genug. Ich gehe arbeiten, damit wir etwas zu essen haben“, sagte Frau Solltau und drückte ihren „Großen“ fest an ihren ausgemergelten Körper. Hans versprach auf Robert aufzupassen. Frau Solltau streckte bei der täglichen Zubereitung der Mahlzeiten die vorhandenen Nahrungsmittel. Die Kartoffelschalen des Großbauern und buschige Brennnesseln, die an den Straßengräben wuchsen, ergänzten die bescheidenen Mahlzeiten.
Nach der Getreide-, Kartoffel- und Zuckerrübenernte wurden die Felder durch die Bauern zum Stoppeln freigegeben. Es wurden Ähren aufgesammelt, die auf den Feldern liegen geblieben waren.
Die Körner wurden mit den Händen aus den Ähren herausgedrückt, mit einer Kaffeemühle grob gemahlen und weich gekocht. Aus gestoppelten Zuckerrüben wurde Sirup gekocht. Die gestoppelten Kartoffeln, häufig sehr klein, wurden mit den Schalen gegessen. Das Fallobst der Straßenbäume wurde gesammelt, gewaschen und in Scheiben geschnitten. Diese wurden auf Fäden gezogen und getrocknet. Die Blüten der Lindenbäume wurden gepflückt, getrocknet und auf dem Kleiderschrank ausgebreitet und gelagert. Frau Solltau und die Kinder hungerten, aber verhungerten nicht. Den anderen Familien ging es ähnlich. Hunde und Katzen wurden durch die Bauern weggesperrt. Es kam vor, dass die Flüchtlinge die Katzen der Bauern fingen, schlachteten und danach verzehrten.
Das zugeteilte Brennmaterial war knapp. Frau Solltau sammelte mit Hans vertrocknete Äste im Wald, zerhackte diese an der Fundstelle zu Stücken und trug diese im Sack auf dem Rücken nach Hause. Hans sammelte Bucheckern und Haselnüsse, die er unter den Buchen und Haselnusssträuchern fand. Die öligen Kerne schmeckten und stillten für eine kurze Zeit den Hunger. Gut schmeckten auch die Walderdbeeren und Blaubeeren, die an Sträuchern am Waldrand wuchsen. Oft aß Hans unreifes Obst, das er von den herunterhängenden Ästen der Bäume am Straßengraben abgepflückt hatte. Bauchschmerzen und Durchfall machten ihm dann zu schaffen.
Die Kleidung der Dörfler war abgenutzt, hatte Löcher und Risse. Kleidung gab es im Dorfladen nicht zu kaufen. Diese wurde in geringen Mengen auf Bezugsscheinen zugeteilt. Die Bauern tauschten sich Kleidung für Lebensmittel, die sie immer hatten, ein. Frau Solltau ging zu den Bauern im Dorf und bot ihnen das Ausbessern ihrer Kleidung an. Sie hatte Näherin gelernt und nähte bis zur Flucht aus Ostpreußen Uniformen für die Wehrmacht. Die Singernähmaschine machte es möglich. Die Bauern und Landarbeiter des Dorfes nahmen das Angebot an und bezahlten ihre Dienstleistung mit Lebensmitteln. Hans brachte die ausgebesserte Kleidung zu den Bauern zurück und erhielt die von der Mutter geforderten Lebensmittel. Die Bauern bezahlten mit Milch, Eiern, Speck und Kartoffeln in kleinen Mengen. So nähte sie Flicken auf die zerschlissene und zerrissene Kleidung, kürzte und verlängerte die Ärmel der Jacken, Hosen und Hemden, besserte die Hemden aus, nähte Knöpfe an, stopfte Strümpfe und Handschuhe. Die Uniformteile der heimkehrenden Soldaten schneiderte sie zur Arbeitskleidung um. Das erforderliche Nähgarn und die Flicken erhielt sie von den Bauern. Die zusätzlichen Nahrungsmittel ermöglichten der Familie, in diesen für alle schwierigen Zeiten, zu überleben. Auf Bezugsscheinen erhielt Frau Solltau für die Kinder Holzschuhe. Die Sohlen der Schuhe waren aus Holz, der obere Teil aus Stoff gefertigt. Später gab es auf Bezugsschein Schuhe und Stiefel aus Schweinsleder und Igelit in einer zugeteilten Menge.
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Anfang September wurde Hans eingeschult. Er erhielt von den einzuschulenden Kindern die größte Zuckertüte. Die Spitze der Tüte hatte Frau Solltau mit Packpapier gefüllt. Falläpfel, eine Umhängetasche mit einer Papptafel, Schieferstifte und einen von der Mutter gefertigten Wischlappen mit gehäkeltem Befestigungsband fand Hans in der Tüte. Sein Gesicht strahlte. Hans freute sich auf den täglichen Schulbesuch. Er wollte lesen und schreiben lernen. Die Schule war im Nachbarort. Die Kinder der ersten bis vierten Klasse wurden in einem Raum unterrichtet. Der Lehrer war ein älterer, freundlicher Mann. Die Schüler saßen auf Bänken. Jede Bankreihe hatte vier Plätze. Davor war eine Tischplatte mit leicht schräger Tischfläche und Öffnungen zum Einsetzen von Tintenfässern. Unter der Tischfläche war Platz für die Schulutensilien der Schüler.
Hier lernte Hans den ersten Buchstaben, das große A schreiben und lesen. Jeden Tag aß Hans in der großen Pause eine Scheibe trockenes Brot und einen halben Apfel. Beides hatte die Mutter in eine Wehrmachtsdose gelegt. Die Kinder der Bauern aßen dick mit Wurst belegte Frühstücksbrote. Die Spucke lief Hans im Mund zusammen.
„Lässt du mich einmal abbeißen?“, fragte Hans den „Wurstesser“, der Mops genannt wurde und neben ihm auf der Bank saß. Er verneinte schadenfroh. Hans hatte nur einen verächtlichen Blick für den Mops und drohte ihm mit der Hölle. In den Pausen standen die Flüchtlingskinder abseits von den Einheimischen und tauschten persönliche Sachen gegen ein Stück Brot. Hans hatte keine Mittel zum Tauschen. Er ging gerne in die Schule, trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die es während des Schulalltages gab. Nachdem er das ABC beherrschte, las er alles, was irgendwie lesbar war. Indianerbücher und Soldatenhefte wurden gerne gelesen und untereinander getauscht. Die Mutter kontrollierte jeden Tag seine mündlichen und schriftlichen Hausaufgaben. Die schon gebrauchte Fibel hatte er mehrmals gelesen. Hans hatte das Lesen schnell gelernt, seine gute Aussprache und Betonung wurde durch den Lehrer wiederholt gelobt. Seine Mitschüler sahen das anders.
„Hans, du buckelst bei Herrn Hedwig“, sagte Franz, sein Banknachbar, neidisch und wütend. Er trat Hans mit der Schuhsohle ins Knie. Hans wehrte sich und schlug zurück. Der Lehrer für die Pausenaufsicht trennte beide. Er erzählte abends der Mutter den Vorfall.
„Die vorgegebenen Aufgaben zu erfüllen, hat nichts mit Buckeln zu tun“, sagte die Mutter und unterstützte sein Verhalten.
„Du kannst ihm ja helfen, bis er gut lesen kann“, sagte die Mutter. „Vielleicht erhält er keine Hilfe durch seine Eltern“, vermutete sie und bereitete das bescheidene Abendessen, Kartoffeln in „Malzkaffee“ gebraten, vor.
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Frau Solltau hatte wiederholt Suchanfragen aufgegeben. Die Eltern waren mit zwei Pferden und einem mit Haushaltssachen bepackten Leiterwagen aus Ostpreußen, in Richtung Westen, geflüchtet.
Auf der Flucht
Vor der Flucht aus Ostpreußen vereinbarte Frau Solltau mit den Eltern eine Kontaktadresse. Von Tante Paula, die in Berlin wohnte, die Kontakte vermitteln sollte, hatte sie bis jetzt noch keine Nachricht erhalten. Heute jedoch war ein Brief von Tante Emma angekommen. Sie teilte mit, dass die Eltern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Grevesmühlen in Mecklenburg wohnten.
Hans freute sich. Sein Opa lebte. Jeden Tag war er in Neukirch, einem kleinen Ort in der Elchniederung, mit ihm zusammen gewesen. Im Stall oder auf dem Feld, er war immer dabei. Ohne Opa ging nichts, mit Opa ging alles. Sofort schrieb Hans