Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein

Rasse, Klasse, Nation - Immanuel Wallerstein


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Gegenwart des Themas der Hierarchie ist nicht neu: In durchaus gleicher Weise musste der offen anti-egalitäre Rassismus der vorhergehenden Epoche, um die wesentliche Konstanz der rassischen Typen postulieren zu können, eine differenzialistische Anthropologie voraussetzen, ganz gleich ob diese nun genetisch oder auf Völkerpsychologie begründet wurde. Heute jedoch kommt das Thema vor allem in Gestalt des Vorranges des individualistischen Modells zum Ausdruck: als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen die die »individuelle« Initiative, den sozialen und politische Individualismus, besonders hoch bewerten und fördern, im Gegensatz zu denjenigen Kulturen, die ihn hemmen und einengen. Die überlegenen Kulturen wären demnach diejenigen, deren »Gemeinschaftsgeist« von nichts anderem als vom Individualismus gebildet würde.

      Es kann durchaus sein, dass die gegenwärtigen Varianten des Neo-Rassismus nur eine ideologische Übergangsformation bilden, der es bestimmt ist, sich in Richtung auf soziale Diskurse und Techniken weiterzuentwickeln, in denen die Dimension der historischen Erzählung genealogischer Mythen (und damit das Spiel der Substitutionsverhältnisse von Rasse, Volk, Kultur und Nation) relativ zurücktritt gegenüber der Dimension psychologischer Bewertungen intellektueller Fähigkeiten und der »Disposition« zu einem »normalen« gesellschaftlichen Leben (oder umgekehrt zu Kriminalität und Abweichung) sowie zu einer (in gefühlsmäßiger ebenso wie in gesundheitlicher oder eugenischer usw. Hinsicht) »optimalen« Reproduktion. Diese Fähigkeiten und Dispositionen würden dann von einer ganzen Armee sich dafür anbietender kognitiver, sozialpsychologischer oder auch statistischer Wissenschaften gemessen, selektiert und kontrolliert, indem die jeweiligen Anteile von Vererbung und Umwelt richtig dosiert würden …

      Eine solche Entwicklung ginge in Richtung auf einen »Post-Rassismus«. Und zwar meiner Überzeugung nach um so mehr, je mehr die sozialen Beziehungen sich zu Beziehungen auf globaler Stufenleiter entwickeln und die Ortsveränderungen ganzer Bevölkerungsgruppen im Rahmen eines Systems von Nationalstaaten dazu führen werden, den Begriff der »Grenze« neu zu denken und seine Anwendungsweise auf die Funktion einer gesellschaftlichen Prophylaxe zu beschränken, die auf eine zunehmend individualisierte Ebene bezogen wird: Die technologischen Strukturveränderungen werden dazu führen, dass ungleiche Schulausbildungen und intellektuelle Hierarchien eine immer wichtigere Rolle im Klassenkampf spielen, in der Perspektive einer verallgemeinerten techno-politischen Selektion der Individuen. Vielleicht stehen wir erst vor einem wirklichen »Zeitalter der Massen« in einer Epoche von Unternehmer-Nationen.

      Anmerkungen


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