Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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mit ihm auf Grund. »Wie geht es ihm?«, fragten die Nachbarn sie. Wie es ihr ging, sah man ja. Gesund, immer gesund.

      Der Briefträger kam mit der Morgenpost die Straße herauf. Sie wartete auf ihn und entfernte sorgfältig den Schnee von den Rhododendren. »Wie geht es Ihnen heute, Msch Coates?« Aus Taktgefühl vernuschelte er ihre Anrede, denn der Briefträger empfand ihren ledigen Stand als eine Schande, die er nicht betonen mochte.

      Sie wurde für ihre Nettigkeit zu den Rhododendren mit einem Brief von ihrem einzigen Bruder Jeff belohnt, inmitten einer Handvoll Briefe aus Europa von Bekannten, die Einwanderungsbürgen oder Hilfe suchten. Vielleicht hatte Jeff auch dem Vater geschrieben, aber er wusste, dass sie täglich die Post in Empfang nahm, und schrieb ihr getrennt.

La Colina Roja
Taos, New Mexico 30. November 1941

      Liebster Brachvogel,

       es ist kalt hier oben. Letzte Woche hatten wir ein paar Stäubchen Schnee, aber am meisten vermisse ich Neuengland im Herbst und dann wieder schmerzlich, wenn die Feiertage nahen. Es tut mir leid, dass ich zu Thanksgiving nicht heimkommen konnte, aber offen gestanden kann ich nicht zweimal fahren – keine $$ wie üblich, deshalb dachte ich, ich komme zu Weihnachten. (Ich bin halb versucht, nicht hierher zurückzukehren, aber wir werden sehen.)

      Sie las nicht weiter und faltete den Brief sorgfältig in ihre kleine, praktische Umhängetasche (was musste sie, gattenlos, kinderlos, beruflos, schon dabeihaben außer ihrer Brieftasche, der Geldbörse, den Schlüsseln und einem kleinen, praktischen Kamm zur Erste-Hilfe-Leistung, wenn der Wind ihren kurzen, praktischen Haarschnitt zerzaust hatte?). Die Zeilen hatten sie aufgewühlt. Jeff war wieder einmal auf dem Absprung in eine neue Richtung. Der Professor würde verärgert, sarkastisch reagieren. Sie hingegen war neidisch auf die Freiheit, die Jeff vielleicht nicht gewinnbringend nutzte, aber immer hatte.

      Die Freiheit, eines Morgens seine Sachen zu packen und sich davonzumachen, abzuhauen. Er hatte Freiheit in Hülle und Fülle, und sie hungerte nach einem Krümel davon. Sie empfand auch eine Handbreit Zorn, ein Gefühl, dass sie keine Schwierigkeiten gehabt hätte, sich nützlich in der Welt niederzulassen und ihre Energie, ihre Intelligenz, ihre Kraft einer würdigen Aufgabe zu widmen. Ihr fielen fünfzig Unternehmungen ein, zu denen sie nur zu gerne aufgebrochen wäre.

      Sie sollte ihre aufgehäuften Schreibarbeiten beenden. Bernice tippte Manuskripte anderer Fakultätsmitglieder ab und gab das damit verdiente Geld prompt auf dem nahen Flugplatz aus. Der Flugplatz war den Winter über eingeschneit, und so sparte sie ihr Geld, um einen Anteil an einer Maschine zu erwerben, einer Piper Cub mit 60 PS, die ihr Freund Steve abbezahlte. Wenn sie bis zum Frühjahr zweihundertfünfzig Dollar sparen konnte, dann gehörte ihr ein Viertel des Flugzeugs und dann konnte sie zehnmal so oft fliegen. Seit die Regierung im Jahr zuvor ein Trainingsprogramm für die Luftwaffe am College eingerichtet hatte, wartete sie oft den ganzen Tag am Flugplatz und bekam trotzdem kein Flugzeug. Sie strebte eine Verkehrspilotenlizenz an, aber bei dem Tempo, in dem sie sich bisher Zeit in der Luft leisten konnte, würde sie dafür noch Jahre brauchen. Jeff hatte einen Pilotenschein wie sie, aber mit der Fliegerei nie weitergemacht.

      Als könnte er ihre Gedanken lesen, schrieb er – als sie in der überheizten Bibliothek beim typischen Schlangenzischen der Heizkörper darauf wartete, dass die Bibliothekarin die Bestellungen des Professors heraussuchte, und den Brief wieder entfaltete –:

      Ich frage mich immer, warum ich es hier nicht aushalte. Das Licht ist grell, die Landschaft monumental. Die Tiwa nennen den Berg hinter Taos heilig, und sie haben bestimmt recht. Vielleicht ist es die entwürdigende Schinderei, für Quinlan zu arbeiten, aber das trifft es nicht. Ich kann, so scheint es, nichts Eigenständiges tun. Ich fühle mich, als schaute ich durch die Augen von Malern, die hier schon gemalt haben. Ich kann, so scheint es, der Landschaft nicht frisch begegnen. Bei all ihrer Großartigkeit und Wildheit und Faszination bin ich nicht fasziniert.

      Überdies ist die Geschichte mit Dolores heikel geworden. Mein mündliches Spanisch – und mein mexikanisches Spanisch, das ich im Gegensatz zum Professor für ein fabelhaft geschmeidiges und spritziges Idiom halte, dem lispelnden, tuntigen Tonfall des Kastilischen weit überlegen – hat rasche Fortschritte gemacht, leider ebenso Dolores’ Wunsch, in mir den zukünftigen Spender von Ringen, Haciendas und Babys zu sehen.

      Mit der Dolores-Situation könnte ich allenfalls noch fertig werden, wenn ich das Gefühl hätte, in meiner eigenen Landschaft angekommen zu sein, aber sosehr mich diese hübsch kolorierten Mesas und Berge, die in starken Farben gestrichene Wüste, die uralten Pueblos auch rühren, letztlich ist dies nicht mein gelobtes Land.

      Jedenfalls freue ich mich auf unsere Zeit zusammen. Zweifellos wirst du mir wie immer mein Ich erklären und alles klarstellen. Ich träume von etwas Tropischerem. Ich muss der Sonne folgen, aber zu etwas Üppigerem, Saftigerem. Die Berge sind am Ende doch nicht meine heiligen Orte. Dies ist nicht mein Gusto. Zu viel Ocker vielleicht, zu viel gebranntes Siena. Oder vielleicht einfach ein anderer Gesellschaftskreis. Warum empfinde ich mich in Europa ganz selbstverständlich, ganz ohne Frage als Maler und hier nicht?

      In Liebe wie immer

      Jeff

      Sie selbst mochte Erdfarben, die Welt vom Flugzeug aus gesehen. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als Zach sie mit hinaufgenommen hatte, sie allein, denn Jeff malte und wollte nicht mit. Zuerst hatte er ihr Bentham Center von oben gezeigt, ordentlich, klein, bald verschwunden, und dann hatten sie sich emporgeschwungen, hinauf und über den Jumpers Mountain und dann weiter zum Connecticut River, angeschwollen und schlammig vom Frühlingstauwetter. Als Nächstes hatte Zach versucht, sie zu hänseln, ihr Angst einzujagen, zog die Maschine in große träge Loopings und dann in kurze abrupte Rollen, in Sturzflüge. Schließlich hatte er gemerkt, dass sie überhaupt nicht schrie, nicht angstgelähmt war, sondern begierig, verzückt, und mindestens so viel Spaß daran hatte wie er. Er hatte sich zu ihr herübergelehnt, ihr Haar verwuschelt und es mit der Faust gepackt. »Möchtest du es lernen, Bernie?«

      Sie hatte heftig genickt, unfähig, etwas zu sagen, unfähig, ihr Verlangen zuzugeben.

      »Sag bitte.«

      Da endlich sprach sie. »Bitte, Zach. Bitte! Bring es mir bei.«

      Er schien es lange, unter Stirnrunzeln zu bedenken, verlängerte und genoss ihre Qual, gab ihr das Verlangen zu schmecken und die Spannung. »Vielleicht tu ich’s, vielleicht auch nicht.« Aber er hatte es getan.

      »Komme schon«, platzte sie zu laut heraus. Mrs. Roscommon hatte ihr zugeflüstert. Bernice eilte zum Tresen, wo ein Stapel der bestellten Bücher zu wackeliger Höhe aufgetürmt war.

      Es war ihr peinlich, so weggetaucht zu sein, hinaus in die Welt. Nun war sie wieder im tristen Einerlei. Wenn sie sich an jene Tage mit Zach und Jeff erinnerte, dann glichen sie dem Moment in Der Zauberer von Oz – ein Film, den sie dreimal gesehen hatte –, wenn Dorothy aus Kansas hinaus nach Oz gelangt und Schwarz und Weiß zu herrlichem und strahlendem Technicolor erblühen. Da sie für Musicals wenig Begeisterung aufbrachte, hatte sie kaum Technicolorfilme gesehen; dieser Übergang berührte sie zutiefst. Genauso war es, aus Bentham Center hinaus ins Abenteuer zu gelangen. Sie hatte sich jene Tage so oft in Erinnerung gerufen, dass sie schließlich nicht mehr sicher war, wie die Ereignisse sich wirklich zugetragen hatten, denn durch immer reichlichere Ausschmückung waren sie inzwischen zur Hälfte Phantasieprodukte. Sie kam sich manchmal verrückt vor, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie damit zubrachte, Ereignisse immer wieder zu durchleben und zu überarbeiten, die Zach und Jeff zum großen Teil vergessen haben mussten, sie so lange zu überarbeiten, bis sie selbst nicht mehr sicher war, was sie erinnerte und was sie dazuerfunden hatte.

      Während sie nach Hause trabte, um die Bücher abzuladen, und dann zum Fleischer um Lammkoteletts und zum Gemüsehändler um Broccoli, wenn es welchen gab, und Blumenkohl, wenn nicht, dachte sie, dass es vielleicht sogar noch einen Hauch erträglicher war, neben Errol Flynn mit einem Säbel zwischen den Zähnen von Pirat zu Pirat zu springen, als ständig zu jenem Paradies zurückzukehren, als sie sich ihrem Bruder und Zach kurzzeitig anschließen durfte. Oft träumte sie, dass sie flog. Sie


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