Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy
konstatierte sie, dass sie seine Reden nun weniger mitreißend fand als zuvor. Nur gut, dass die allermeisten Leute wenig über die sexuellen Gepflogenheiten ihrer Politiker wussten.
»Ach, Jack schon wieder. Der Junge ist doch ein hohlköpfiger Langweiler«, nölte Karen Sue in ihrem zerdehnten Südstaatendialekt. Abra spekulierte, ob diese Ernüchterung auf ähnlicher Erfahrung beruhte, doch sie hatte nicht die Absicht, ihr Geschlechtsleben mit Karen Sue zu besprechen. Abra hielt sehr darauf, sich gentlemanlike zu geben.
»Na, hast du schon angefangen, für den großen Mann zu arbeiten?«, fragte Djika und beugte sich vor Karen Sue.
»Morgen ist der Erste des Monats, und da wird Professor Kahan mit mir zu arbeiten anfangen.«
»Ist doch absurd«, sagte Djika säuerlich, vielleicht auf die Anstellung eifersüchtig. »Du fängst am ersten Dezember an, und dann brichst du ab wegen der Ferien. Warum nicht bis zum ersten Januar warten?«
»Vielleicht macht ihr Professor die Ferien nicht mit«, sagte Karen Sue. »Schindet seine Assistenten zweiundfünfzig Wochen im Jahr zu Tode.«
»Ich möchte lieber so bald wie möglich die Arbeit kennenlernen«, sagte Abra. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.« Sie war Oscar Kahan auf einer Tagung über den Faschismus vorgestellt worden, wo er einen – wie sie fand – redegewandten Vortrag gehalten hatte über die Spannungen zwischen der kleinbürgerlichen Basis des deutschen Faschismus und der wachsenden Freundschaft der Nazipartei mit der deutschen Industrieelite. Ihr eigener Doktorvater, Professor Blumenthal, war deutscher Flüchtling und kam aus der Frankfurter Schule. Kahan war einer der wenigen in Amerika geborenen Redner auf der Tagung, der Anspruchsvolleres zu bieten hatte. Und so hatte sie sich sehr gefreut, als Blumenthal sie Kahan empfahl.
»Ist er verheiratet, mein süßes Kind?«, fragte Karen Sue. Das war immer ihre erste Frage.
»Ich lasse mich nie mit jemandem aus meinem Fachgebiet ein. Ich habe eine exogame Persönlichkeitsstruktur.« Sie war ihren Satz doch noch losgeworden.
»Worüber redet ihr dann?«, fragte Djika verächtlich. Sie hatte seit zwei Jahren eine unglückliche, aber erfüllende Affäre mit einem verheirateten Professor, Stanley Beaupere. Wo Abra mit Einzelheiten geizte, drängte Djika beiden die genauen Worte von Stanley Beaupere auf und erheischte intensive intellektuelle Betrachtung und Analyse. Während der Verschleiß seiner Ehe fortschritt, wurde sie an den fadenscheinigsten Stellen Stich um Stich für Djikas zweiköpfiges Publikum aufgetrennt.
Djika war Flüchtling aus Danzig, obwohl es schwerfiel, sie so zu sehen. Djika lebte ihrer Überzeugung nach zwar nahezu im Elend, war aber besser situiert als Abra, wenn auch nicht ganz so wohlsituiert wie Karen Sue. Djika vereinte inbrünstigen Katholizismus mit inbrünstigem Sozialismus, Ersterer wurde von ihrer Familie geteilt, Letzterer nicht.
Djika war gescheit, und Abra schätzte sie um der harten, europäisch geschulten Intelligenz willen, die zugleich zugespitzter und breiter fundiert schien, als Abra es von ihren Kollegen gewohnt war; außerdem fand sie es recht praktisch, mit der einzigen anderen Frau in ihrem Fachbereich auf freundschaftlichem Fuße zu stehen. Wenigstens brauchte sie nicht immer allein auf die Damentoilette zu verschwinden. Karen Sue hatte sie auf politischen Partys kennengelernt und erst nach einer Weile als die Gastgeberin erkannt. Karen Sue schien nicht nur sehr viel von Kleidern, Modeschöpfern, Schnitten und Stoffen zu verstehen, sie war auch die einzige Abra bekannte Frau, die jeden Morgen The Wall Street Journal las, in Aktien und Obligationen spekulierte und zu verstehen schien, was sie da tat. Der Kontrast zwischen Karen Sues oberflächlichem Gehabe der Südstaatenschönen und ihrem Geschäftssinn reizte Abra, die Sachverstand als solchen bewunderte. Sie hatte sogar John gerne zugehört, wenn er über Hummerfischerei sprach, bis ihr schließlich die interessanteren Fragen wichtiger wurden.
Sie dachte mehrere Male daran, Karen Sue und Djika von ihrem Heiratsantrag zu erzählen, hielt aber jedes Mal den Mund. Warum? Sie mochte das Thema von Hanks Antisemitismus nicht zur Sprache bringen. Sie musste unbedingt mit Djika auskommen, und sie hatte einen gewissen Verdacht, was deren Einstellungen betraf. Sie fand es auch nicht besonders geschmackvoll, sich über Hank lustig zu machen, der ihr schließlich, egal, wie sie seinen Heiratsantrag empfand, eine Ehre hatte erweisen wollen. Nach reiflicher Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass es sich schickte, ihren Sonntag für sich zu behalten.
Abras erster Eindruck von Oscar Kahan war, dass er kleiner war, als sie von der Tagung erinnerte, und dass er durch seine Energie mehr Raum einzunehmen schien, als er wirklich tat. Als er nun aufstand, um ihr die Hand zu schütteln, war sein Händedruck fest und warm, die Haut rosig gesund, der Handrücken behaart.
»Wir führen eine Reihe von Umfragen unter Flüchtlingen durch, die in den Gewerkschaften oder sonst in Europa politisch aktiv waren. Ihr Deutsch ist ausreichend?«
»Ausreichend ist das richtige Wort.«
»Wir werden es ausprobieren. Ich brauche jemanden, um die Frauen zu befragen. Einige der Fragen, die ich gerne beantwortet hätte, sind recht persönlicher Natur, und ich vermute, wir kommen weiter, wenn eine Frau sie stellt.«
»Darf ich fragen, warum Sie nicht einen Flüchtling dazu anstellen? Ich meine, es freut mich sehr, dass Sie mir eine Chance geben wollen …«
Viel stärker als ihr eigener Professor Blumenthal mit der hochaufgeschossenen Regenschirmgestalt machte er den Eindruck, einen Körper zu haben. Oscar Kahan war breitschultrig, mittelgroß mit leichtem Bauch. Sein Haar war dicht, kräftig und lockig, recht lang getragen. Er lächelte ihr zu, verschmitzt, wie sie fand. »Eine gute Frage. Aber jeder Flüchtling, der kundig fragen könnte, hat gleichzeitig einen eigenen Standpunkt. Es handelt sich um eine knifflige politische Situation, und ich möchte niemanden die Fragen stellen lassen, der meint, die Antworten zu kennen. Ich brauche eine naive Fragestellerin – relativ naiv, meine ich. Unberührt ist vielleicht das bessere Wort – unberührt von eigenen Aktivitäten und Ansichten im Gewirr der deutschen Parteien vor und nach Beginn des Dritten Reiches.«
Er trug eine rote Krawatte, die so schief saß, als hätte ihn eben jemand damit erwürgen wollen. Sein Jackett war aus hochwertigem irischem Tweed, sah aber aus, als schleppte er eine halbe Bibliothek und seine Pausenbrote in den Taschen. Sie beschloss, Djika nach Klatsch und Tratsch über ihren neuen Dienstherrn auszufragen. Sie spürte in sich ungehemmte Neugier, wenn sie ihm in die glitzernden dunklen Augen sah, dunkler noch als sein Haar. »Wann soll ich anfangen?«
»Jetzt. Heute. Ich möchte, dass Sie sich diese Anleitung zum Vorgehen bei der Befragung durchlesen und dann mit Ihren Fragen zu mir zurückkommen.« Er wies auf sein Vorzimmer. »Lesen Sie da draußen und klopfen Sie an, wenn Sie fertig sind.«
Zwei Studenten saßen dort, eifrige junge Männer, die sie mit dem tragischen Blick jener bedachten, die auf das Objekt ihres Verlangens hatten warten müssen. Durch die Tür seines Zimmers hörte sie den lebhaften Tonfall seiner Stimme, tief, klar, ein wenig gehetzt, als er mit dem Ersten sprach. Zu dem verbliebenen Studenten gesellte sich ein weiterer. Von Zeit zu Zeit wurde sie eifersüchtig beäugt, denn sie schien hierher zu gehören. Die Tür ging auf, und der erste Student wurde hinauskomplimentiert, mit feuereifrigem Ernst noch über die Schulter redend.
Während sie die Anleitung las, die er ihr gegeben hatte, wohlgeordnet und noch als Richtlinie spannend, kamen und gingen die Studenten, männliche und weibliche, groß und klein, gut und ärmlich gekleidet, aber alle leidenschaftlich auf die Zeit ihres Helden erpicht. Auf jede und jeden richtete er für einen Moment den Strahl seiner Aufmerksamkeit, gab ihnen das Gefühl, klug und einmalig zu sein. Dies war seine Sprechstunde. Er widmete sich ihnen und stieß sie dann hinaus in die kalte, eintönige Welt. Sie stolperten davon, immer noch in das Gespräch vertieft, das in ihren Köpfen weiterging und in dem sie seine Aufmerksamkeit nicht für fünf Minuten fesselten, nicht für zehn, nein, auf Dauer. Abra verstand das. Sie war selbst fasziniert. Es versprach, viel aufregender zu werden, als sie gedacht hatte.
Naomi 1
Naomi/Nadine ist nur die eine Hälfte
Die Stiefel knallten im Gleichschritt aufs Pflaster. Maman drängte Rivka im Hauseingang an die Wand, damit sie nichts sah.