Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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Mühe gegeben zu haben, sich in die französische Gesellschaft einzufinden. Sie sprechen mit ihren Freunden nur Jiddisch oder Polnisch und sind unübersehbar Ausländer, sogar auf der Straße. Wenn man in einem anderen Lande lebt und sich so auffällig verhält, ist das für mein Gefühl nahezu arrogant. Trotzdem tun mir die Balabans unendlich leid.

      2 octobre 1940

      Jetzt ist Anordnung ergangen, dass wir alle zum zuständigen Polizeirevier gehen müssen, wo wir registriert werden wie Prostituierte oder Verbrecher und ein großes, hässliches JUIF auf unsere Ausweise gestempelt bekommen. Ich habe am Frühstückstisch angekündigt, dass ich einfach nicht hingehen werde. Ich dachte, Papa und Maman würden entsetzt sein, doch nein, Papa sagte, er wolle darüber nachdenken, was passieren könnte, wenn wir nicht gehorchen. Er findet es keine schlechte Idee, die Registrierung zu verweigern, wenn uns nur etwas einfällt, wie wir sie umgehen können. Ich weiß, es hat keinerlei Bedeutung, aber derart ausgesondert und gekennzeichnet zu werden finde ich einfach demütigend.

      Marie Charlotte war in letzter Zeit äußerst merkwürdig zu mir. Die letzten beiden Male, die wir verabredet waren, ist sie einfach nicht gekommen. Sie hat mich schlicht sitzen lassen. Schließlich habe ich mich gestern mit ihr ausgesprochen. Sie sagte, sie habe mich immer noch sehr lieb, habe aber gehört, dass andere sie für eine Jüdin halten, weil sie immer mit mir zusammen ist, und dass sie Angst habe. Sie wolle kein solches Kennzeichen tragen, zumal sie als gute französische Katholikin geboren sei und ihre Mutter meine, es sei ihre eigene Schuld, weil sie sich mehr mit mir abgebe als mit ihresgleichen.

      9 octobre 1940

      Wir sind alle vorschriftsmäßig registriert, eine der demütigendsten Erfahrungen in meinem Leben. Seit Marie Charlotte abtrünnig geworden ist, habe ich mich mit einigen jüngeren Leuten angefreundet, die ich vor einem Jahr noch für Rowdys gehalten hätte. Sie sind gewiss keine achtbaren bürgerlichen Elemente, aber sie sind nicht unintelligent, und sie scheinen keinerlei Vorurteile zu haben, anders als viele Leute, von denen man dachte, sie stünden über solchen Dingen. Sie hören viel Jazz, besonders amerikanischen Jazz, und kleiden sich wie Bohémiens.

      Es fasziniert mich, dass sie keine strenge Alterstrennung kennen. Einige von dieser neuen Clique sind auf der Universität, einige wie ich im letzten Jahr vom lycée und einige nicht mehr in der Schule, aber auch noch nicht im Beruf. Es ist nicht die Besonderheit ihres Stils, die es mir angetan hat, sondern ihre Toleranz. Sie scheinen nicht von der Angst besessen, die deutschen Erlasse zu befolgen, und es kümmert sie nicht, was ich bin, nur, wer ich bin. Dafür achte ich sie. Sie denken, ich bin zu ernsthaft, aber sie würden mir schon den Kopf zurechtsetzen. Das bezweifle ich, aber es tut gut, ins Café Le Jazz Hot zu gehen, wo sie meistens sind, und mich zu Freunden zu setzen und willkommen zu fühlen. In diesen Tagen ist es selten geworden, sich willkommen zu fühlen, und hinter ihrer Lässigkeit verbirgt sich eine Höflichkeit, die ich schätze.

      Jeden Tag wächst in mir die Ungewissheit, was aus uns werden soll, aus uns allen, und ob ich je eine Chance bekomme, irgendetwas zu werden, geschweige denn die Wahl habe, ob Lehrerin oder Schauspielerin, denn Türen scheinen schneller zuzuschlagen, als ich auf sie zugehen kann. Ich fühle mich, wie sich eine Kreatur der Tropen gefühlt haben muss, als die Eiszeit kam und die Gletscher niederwalzten, was einmal üppige und blühende Bananenwälder waren. Ich fühle mich, als gehörte ich eigentlich nicht mehr zu meiner Familie, aber ohne einen eigenen Platz oder eine eigene Rolle zu haben, ohne eigenen Ort, an dem ich wahrhaft zu Hause bin. So ist es kein Wunder, wenn ich jetzt mehr und mehr Zeit mit meinen neuen unbürgerlichen Freunden im Café Le Jazz Hot zubringe.

      Abra 1

      Abra macht sich auf

      Seit zweihundert Jahren fuhren die Männer in Abras Familie aus Bath, Maine, zur See. Abra fuhr nach New York.

      Mit dreiundzwanzig meinte Abra, ihr richtiges Leben habe damals im September 1938 begonnen. Da hatte sie, mit neunzehn, vom Smith College ans Barnard gewechselt und endlich den Sprung nach Manhattan geschafft, dem glitzernden Land Oz ihrer Kindheit, wo sie ihrer Überzeugung nach immer hingehört hatte. Letztes Jahr war sie als Doktorandin zur Graduate School der Columbia in der Fachrichtung Politische Wissenschaften zugelassen worden. Abra hielt sich nicht für die geborene Gelehrte und konnte sich nicht recht vorstellen, selber zu unterrichten, doch zum einen genügte ihr die Graduate School an und für sich – Politik war schließlich das aufregendste Thema der Welt –, zum anderen waren die Studierenden in ihrer Fachschaft zu neunzig Prozent Männer, die Lehrenden zu hundert Prozent. Abra, die mit Brüdern aufgewachsen war, fand die Situation, die einzige Frau im Raum zu sein, völlig normal. Unter Männern lebte sie auf.

      Sie hatte sich ihrer Jungfernschaft während ihres neunzehnten Sommers entledigt, draußen auf Popham Point, wo ihre Familie alljährlich den Sommer verbrachte, mit einem goldigen Jungen aus dem Ort, der inzwischen Hummerfischer war. Er hatte sie heiraten wollen, und sie hatte erkannt, dass sie, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, zum Schein einwilligen und vorgeben musste, die Heirat in Erwägung zu ziehen – oh, natürlich in ferner Zukunft, nach ihrem Examen. Abra war im gleichen Herbst ans Barnard gewechselt, und sie hatte nicht die Absicht, nach Bath zurückzukehren, außer natürlich in den Ferien, in denen John für zwei weitere Jahre ihre erfrischende Sommerromanze blieb. Zu einer Romanze gehörte für Abra guter, gesunder, akrobatischer Sex.

      Nun war sie hier, dreiundzwanzig, mit quirligem Freundeskreis und eigener Wohnung im Village in der Bank Street, gemütlich, wenn auch ohne Fahrstuhl, einem guten Verhältnis zu ihrem Doktorvater Professor Blumenthal und einer stimulierenden Assistenzstelle bei seinem Freund Oscar Kahan im Fachbereich Soziologie. Ihre Familie war entsetzt, dass sie ihren Doktor machte; in ihren Augen war das unweiblich und würde zwangsläufig dazu führen, dass aus ihr eine verschmähte und bemitleidenswerte alte Jungfer wurde. Man verglich sie mit einer Abigail schrecklichen Angedenkens, die ein Blaustrumpf und eine leidenschaftliche Gegnerin der Sklaverei gewesen war und die tatsächlich einmal eine öffentliche Rede gehalten und mit dieser Schamlosigkeit Schande über die Familie gebracht hatte, woraufhin ihr Vater sie fünf Jahre lang eingeschlossen hatte. Abra, die gerade im Begriff war, ihren sechsten Heiratsantrag abzublocken, bezweifelte, dass sie auf einen einsamen Lebensabend zusteuerte. Der neueste Antrag kam von einem jungen Mann, den sie beim Tennis kennengelernt hatte und mit dem sie sich seit zwei Monaten traf.

      »Was soll das, Hank? Willst du mich zu einer ehrbaren Frau machen oder irgend so ein Unsinn?«

      Er saß auf dem kleinen Windsor-Stuhl vor ihrem weiß getünchten Backsteinkamin, in dem ein paar Birkenscheite von zu Hause lustig flackerten. Der Stuhl war zu klein für ihn und gab ihm ein grashüpferartiges Aussehen. »Ich glaube, du wirst mir eine gute Frau sein, Scotty. Deine Wildheit ist Jugend und Ausgelassenheit, ein Fohlen, das herumtollt. Du wirst zur Ruhe kommen.«

      Ein Fohlen, das noch nicht zugeritten worden ist, meint er, dachte Abra und lächelte süß. »Meinst du, es ist die passende Zeit, um sich zur Ruhe zu setzen? Überall um uns herum geht die Welt zu Bruch.«

      »Umso mehr Grund, ein Heim zu gründen. Ich glaube zwar, dass nicht einmal dieser Wahnsinnige, dieser Roosevelt, vorhat, uns in den Krieg zu führen, um Englands Kastanien aus dem Feuer zu holen, aber trotzdem kann ich jeden Moment einberufen werden.«

      Stoßt ins Horn, dachte Abra. Ich soll mich deinen Familienvorstellungen opfern, weil du vielleicht als Offizier einberufen wirst? »Ich gäbe eine miserable Frau ab. Ich bin mit meiner eigenen Arbeit beschäftigt und habe nicht vor, sie zu vernachlässigen.«

      »Bist du nicht schon lange genug zur Schule gegangen? Du bist eine richtige Frau, Scotty, und es wird Zeit für dich, wie eine zu leben.«

      »Mir liegt sehr viel an dem, was ich tue.« Sie hörte sich anders mit ihm reden, alte Melodien, alte Texte. »Ich finde meinen Doktorvater Professor Blumenthal faszinierend, und mein Thema interessiert mich.« Ihr war sehr wohl bewusst, dass ihre Doktorarbeit über die Gewerkschaft der Damenbekleidungsindustrie Hank nicht interessierte. »Ich habe eine Stellung bei Professor Kahan –«

      Abscheu huschte über Hanks blonde, adlernasige Züge, und er spannte erst den rechten, dann den linken Arm, eine nervöse Geste, die automatisch schien. »Krauts und obendrein Juden, Scotty.


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