Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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friedlich gewesen, und ich denke, die sensationslüsterne Berichterstattung der ersten Wochen ist verklungen angesichts der Wirklichkeit des modernen Krieges, der hauptsächlich eine Angelegenheit des Disputierens und des Sitzens zu sein scheint. Das entsetzlich eisige Wetter geht weiter, der härteste Winter, an den ich mich erinnern kann, als beklagte die Natur unsere Torheit in dieser langen, lächerlichen drôle de guerre.

      Ich habe mich Papa in letzter Zeit entfremdet gefühlt, aber jetzt wünsche ich mir, wir könnten uns einander besser mitteilen. Unsere Meinungsverschiedenheiten beruhen in Wahrheit darauf, dass Papa es vorzieht, sich kulturell einzugrenzen, während ich versuche, meinen Horizont zu erweitern. Ich glaube, wir haben einander den Streit über das Farband-Picknick letzten Sommer nie verziehen. Ich weiß, dass ich recht hatte, aber vielleicht habe ich den Sachverhalt zu unverblümt dargestellt. Schließlich habe ich nichts mit einem Haufen bäurischer Jünger des einfachen Lebens zu tun, nur weil sie jüdisch sind. Jüdisch zu sein ist auch eine Sache des Zufalls. Ich bin jüdisch geboren worden, aber was bedeutet das? Als Religion finde ich es absurd. Als Speisegesetz archaisch! Mir wird gesagt, diese polnischen Flüchtlinge, die Balabans aus Kozienice, sind meine Tante, mein Onkel, meine Kusinen, aber ich kann mich mit ihnen nicht einmal über die simpelsten Dinge unterhalten, über Tische und Stühle, geschweige denn über meine Gedanken, meine Gefühle oder meine Ambitionen.

      Ich verstehe Papas Engagement in der Poale-Zion nicht. Die Vorstellung, dass wir uns alle aufmachen und in den Orient gehen, um Dattelbauern zu werden, ist ein Hirngespinst, das ich keine fünf Minuten ernst nehmen kann. Papa ist immer Sozialist gewesen, aber seit zwei Jahren hat er sich für den törichten Zionismus engagiert. Ich könnte mir vorstellen, dass er von der Armee ohne dieses Gepäck heimkommen wird. Er braucht mehr Kontakt mit intelligenten Franzosen, die sich mit modernen Ideen auseinandersetzen. Seine Intelligenz ist größer, als für seine Fabrikarbeit benötigt wird, deshalb tendiert sein Denken zu Disziplinlosigkeit.

      Papa hat große Kraft, was manchmal wundervoll ist und manchmal peinlich. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn für den Vorfall im letzten Herbst bewundern soll oder nicht. Wir warteten in einer Menschenmenge darauf, dass die mairie ihre Pforten öffnete, und als es zwanzig Minuten lang nicht geschah, warteten alle weiter und murrten. Und Papa ist einfach zur Spitze der Schlange vorgegangen und hat die Tür aufgestoßen. Sie war die ganze Zeit unverschlossen!

      Trotzdem traf mich sein Gerede, ich solle mich mit Jungens »meiner eigenen Art« treffen, als ordinär und geschmacklos und obendrein völlig unempfänglich für die Person, die ich wirklich bin. Ich verstehe nicht, was mir ein künftiger Traktorfahrer zu sagen haben könnte oder was ich Papas Ansicht nach mit ihm gemein haben soll. Das ist eine von diesen monomanischen Zwangsvorstellungen. Wenn Papa und sein copain Georges zusammensitzen, können sie manchmal nur darüber reden, wer alles Jude ist und wer nicht. Das erinnert mich an dieses Luder Suzanne, nachdem sie mit ihrem ebenso ordinären Freund geschlafen hatte. Da ging sie die Straße entlang und rätselte, welche noch Jungfrau war und welche nicht.

      Maman hat furchtbare Angst und wird viel Beruhigung und Trost brauchen, das sehe ich schon. Die Zwillinge heulen und klammern. Ich komme mir wie die Einzige mit einem kühlen Kopf vor!

      16 juin 1940

      Tatsächlich, die Deutschen sind hier, und es ist kein Massaker oder Blutbad, obwohl sie uns gezwungen haben, die Uhren eine Stunde vorzustellen, damit wir deutsche Zeit haben. Es ging ruhig und geordnet zu, kaum ein Schuss ist gefallen, und alle sind ein wenig betäubt. Ich sah einige gutgekleidete Menschen den vorbeimarschierenden deutschen Truppen zujubeln. Die schienen im Großen und Ganzen sauber und manierlich. Ich denke, unsere Angst ist von den Zeitungen aufgeblasen worden, die nichts anderes zu tun haben, als Sensationsgier zu erzeugen. Ich bin überzeugt, Maman schämt sich, die Zwillinge mit ihrem Chef M. Cariot in den Süden nach Orléans geschickt zu haben.

      Ich habe mich der Suche nach dem Allgemeinen, dem Inbild des Allgemeingültigen verschrieben, denn nur so können wir uns rigoros aus dem Morast des zufälligen Besonderen erheben. Meiner Ansicht nach ist Patriotismus nicht nur eine Zufluchtsstätte für Schufte, sondern auch für Idioten und solche, die ihr ganzes Denken jeden Morgen vorgefertigt aus den geistlosen Zeitungen kaufen. Alle paar Jahrzehnte zetteln Regierungen Kriege an und versetzen die Menschen in Raserei, nur damit wir nicht die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Seite erkennen, die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage stellen und vernünftige Institutionen und Gesetze fordern. Ich bin überzeugt, dass die Deutschen – abgesehen davon, dass sie eine andere Sprache sprechen – sich von uns hauptsächlich insoweit unterscheiden werden, wie wir uns als Individuen voneinander unterscheiden. Wir sind zwei benachbarte Länder, die anscheinend nichts Besseres zu tun haben, als alle paar Jahre übereinander herzufallen, eine große Anzahl junger Männer hinzumetzeln und dabei die Landschaft zu verwüsten. Ich nehme an, wenn wir den Mut hätten, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, statt alte Klischees zu wiederholen, dann würden wir feststellen, dass die Deutschen ein Volk sind wie wir, gut, schlecht und gleichgültig im selben Maße, wie wir es sind.

      Wenn wir nur wüssten, wo Papa ist, wären wir wahrscheinlich ganz ruhig. Ich überquerte heute Nachmittag die Rue de Rivoli und habe dabei im Gedränge einen deutschen Soldaten angerempelt, einen Leutnant, glaube ich. Er hob die Hand an seine Mütze, lächelte und ging aus dem Weg – überhaupt nicht die Ungeheuer, die Säuglingen die Schädel zertrümmern, wie uns weisgemacht worden ist. So viel zur Unmenschlichkeit der Feinde. Ich habe von keinerlei Vergewaltigungen oder Plünderungen gehört. Die gendarmes sind wieder auf den Straßen und die Geschäfte wieder geöffnet.

      29 juillet 1940

      Papa ist wieder da! Erst die Zwillinge und dann er. Er ist aus einem Kriegsgefangenenlager entflohen. Er sagte, dass sie anfingen, die Juden von den anderen abzusondern, obwohl ich glaube, das ist nur ihr Sauberkeits- und Ordnungsfimmel. Sie sortieren gern alle in Schubfächer ein. Er arbeitete beim Müllkommando, als er aus dem Lager entfloh, und hat seine Uniform weggeworfen. Ich hoffe, er bekommt wegen seines übereilten Handelns keine Schwierigkeiten. Er wollte unbedingt nach Hause, aber es wird gesagt, dass die Deutschen sowieso bald alle Kriegsgefangenen entlassen.

      Es ist, als habe seit seiner Rückkehr ein Erdbeben sein Epizentrum direkt unter unserer kleinen Wohnung. Er rennt herum und trifft sich mit all seinen copains von den alten radikalen Zeitungen und von der Poale-Zion. Sie haben sogar eine Delegation geschickt, um mit den jüdischen Kommunisten zu reden, von denen berichtet wird, dass sie dem Hitler-Stalin-Pakt nicht zustimmen wie der Rest der Partei. Früher weigerte sich Papa, mit Kommunisten überhaupt zu reden, aber jetzt hastet er in ganz Paris herum und bespricht sich mit jedem Brauskopf. Er hat eine Art jüdische Widerstandsbroschüre weiterverteilt, die sich Que faire nennt und von Hand abgeschrieben wird und die von Horrorgeschichten und Parolen strotzt wie partout présent: seid überall, und faire face: erhebt euch gegen sie. Ich bin erleichtert, dass Papa in Sicherheit ist – wie lange er es allerdings bleibt, wenn er so weitermacht, ist eine andere Frage. Doch ich muss sagen, bis uns die Zwillinge zurückgebracht wurden, dünner und verdreckt und voller Geschichten von brennenden Fahrzeugen und alleingelassenen Babys und im Tiefflug angreifenden Flugzeugen, war es hier außerordentlich friedlich, nur Maman und ich. Sie war krank vor Sorge, aber ich habe sie getröstet, und ich glaube, sie achtet mich jetzt mehr.

      14 septembre 1940

      Ich persönlich glaube, dass man eine innere Gelassenheit erreichen muss. Ich gebe zu, es ist beunruhigend, durch die Straßen zu gehen und Plakate angeschlagen zu sehen, welche die Juden en bloc anprangern, und all die pöbelhaften neuen Zeitungen zu sehen, die nichts tun, als allen Juden den Tod zu wünschen, Au Pilori zum Beispiel. Aber ich übe mich in Selbstdisziplin, während ich umhergehe, und sage mir, ich weiß, ich bin nicht schmutzig, ich bin nicht gemein, ich bin so französisch wie alle anderen und ebenso von französischer Kultur durchdrungen wie jeder meiner Lehrer, also bin nicht ich es, gegen die sich diese Gemeinheit richtet, und ich werde sie einfach nicht an mich heranlassen. Wütend werden bedeutet, denen Macht zu geben, die angreifen. Einen derartigen Angriff nicht beachten bedeutet, die Angreifer zu entmachten, nicht sich selbst. Wir geben diesen Schreihälsen ihre Macht, indem wir uns beleidigen lassen.

      Papa und Maman sind sehr bestürzt, weil die Staatsbürgerschaft der Balabans widerrufen worden ist. Sie sind erst seit 1935 in Frankreich, und ihnen ist


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