Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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eine Bresche schlagen möchte, der sich einbildet, ich versuchte ihn aufzugabeln. Ich erinnere mich immer noch an den blöden Jungen, der mir den ganzen Weg zu Marie Charlottes Wohnung nachgegangen ist, nur weil ich seine Frage beantwortet und ihm gesagt habe, wo es zur Gare du Nord geht. Jetzt ist mir klar, dass er es ganz genau wusste. Henri sagt, ich bin absolut naiv, was Männer anbelangt, aber die Wahrheit ist, ich habe andere Sorgen und brauche nicht noch mehr.

      »Eine große Ausstellung, alle Welt geht hin«, sagte sie und nickte mir zu. »Über ›Der Jude und Frankreich‹. Sie sollten auch hingehen. Sie sind nicht zu jung, um sich den Tatsachen zu stellen.«

      Ich dachte zuerst, sie meinte, dass ich mir als Jüdin den Antisemitismus klar vor Augen führen müsse, aber dann fuhr sie fort: »Sie müssen sich rein erhalten, ein junges Mädchen wie Sie, aber Sie müssen sich auch kundig machen über die Durchseuchung. Es geht darum, sich für das Neue Frankreich heranzubilden.«

      Ich schäme mich inzwischen, aber mir war es für sie derart peinlich, so dumm und primitiv zu sein, dass ich kein Wort hervorbrachte. Ich fürchte, meine Manieren veranlassten mich automatisch, ihr zu danken und fortzueilen. Sie war eine gut gekleidete Dame in den besten Jahren und trug ein Marinekostüm mit Schulterpolstern nach der neuesten Mode, dazu eine gestreifte weiße Bluse mit Krawattenschleife und einen wagenradgroßen Hut mit einem echten kleinen toten Vogel obendrauf.

      Ich wünschte, ich hätte ihr eine runtergehauen, aber das wäre sinnlos, ja mehr noch, es wäre unmoralisch gewesen, verbale Gewalt mit physischer Gewalt zu erwidern. Vielleicht tat ich das Beste. Andererseits bezog ich keine Stellung. Was hätte ich tun sollen? Wäre ich ein wahrhaft edler Mensch wie die Antigone bei Sophokles, dann wären mir die Worte gekommen und ich hätte etwas Deutliches und Zündendes gesagt, das ihr ihre Dummheit gezeigt hätte, so von einem ganzen Volk zu sprechen.

      Tatsächlich jedoch fühlte ich mich gedemütigt und ging einfach auf dem breiten Bürgersteig weiter auf die Menge zu. Direkt an der Fassade vom Palais Berlitz hing zwischen den Säulen ein riesiges, vier Stockwerke hohes Plakat von einem alten Mann mit Bart und langer Nase, der ein Jude sein sollte und Klauen dort in einen Globus grub, wo Frankreich eingezeichnet war. Grässlich. Mir wurde ganz heiß, und ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich hatte Angst, mitten auf der Straße in Tränen auszubrechen. Als ich sah, wie all diese ganz normalen Leute, meine Landsleute, die vielleicht gestern noch im Kino neben mir gesessen oder mich am Zeitungskiosk begrüßt haben, wie sie alle nur darauf warteten, sich in diese von einer französischen Einrichtung, dem Institut d’étude des questions juives, veranstalteten Nazi-Ausstellung zu drängeln, da fühlte ich mich wie eine Küchenschabe, die sie mit ihren elegant beschuhten Füßen zu zertreten suchten.

      Ich wollte auf eine Seifenkiste steigen und sie anschreien: Wie könnt ihr wagen zu denken, dieses hässliche, von euch gezeichnete Bild hätte irgendetwas mit mir zu tun? Es ist eure eigene ekelhafte Phantasie, in der ihr euch suhlt. Wie die unanständigen Zeichnungen, die die Jungens immer machten und uns dann anzuschauen zwangen. Sag uns, was das ist, sag uns, was das ist. Eure eigene schmutzige Phantasie, habe ich da gesagt: Wenigstens ein Mal ist mir die richtige Antwort eingefallen.

      Ich denke, einer meiner schlimmsten Fehler ist, dass ich – während mein Verstand rascher zu arbeiten scheint als der anderer Menschen – oft zu viele Seiten einer Frage sehe, was mich in meiner Erwiderung schwächt. Ich sollte mich bemühen, einfacher zu sein. Manchmal denke ich, Einfachheit ist eine Tugend, und wenn ich das schreibe, denke ich dabei an Maman, die immer ohne Umwege auf den Kern einer Sache zu sprechen kommt.

      Als ich nach Hause kam, überlegte ich, ob ich das Gesehene erwähnen sollte, aber dann schaute ich Maman an, die von der langen Arbeit beim Kürschner jeden Tag so abgehärmt und erschöpft ist und dann noch herumrennt, um etwas für eine Suppe zum Abendbrot aufzutreiben, und die kleine Renée, die in diesen Tagen so fügsam und still ist, dass ich mir Sorgen um sie mache. Ich dachte, wenn Papa endlich nach Hause kommt, werde ich ihm davon erzählen, aber bis dahin muss ich, wie er es mir aufgetragen hat, auf Maman und Renée aufpassen, denn in mancher Hinsicht habe ich wirklich einen kühleren Kopf.

      3 octobre 1941

      Letzte Nacht sind sechs der Synagogen von Paris in die Luft gesprengt worden! Ich bin heute Morgen mit Renée losgegangen, und wir schauten nach unserer, wo wir an den Hohen Feiertagen hingehen, und da war nichts mehr als eine Ruine mit Glasscherben und Mörtelbrocken und Stofffetzen und stiebendem Papier. Juden aus der Nachbarschaft irrten herum und stocherten im Schutt, um irgendetwas zu retten. Es hat mich derart empört, dass ich vor Hilflosigkeit brenne. Was für eine schändliche, geistesgestörte Tat. Ein Gotteshaus zu zerstören. Was sind das für Kretins, die das für eine angemessene politische Tat halten?

      All die pöbelhaften neuen Zeitungen schreien, das sei eine spontane Tat des französischen Volkes gewesen, das uns, die sogenannten fremden Elemente, hinauswerfen will. Das uns abwehrt, wie man eine Krankheit oder ein Gift abwehrt. Ich muss sagen, es ist reizend, zur Mikrobe geworden zu sein. Ich gehe in diesen Tagen durch Paris, und es ist, als schlüge mir alle zwanzig Schritte irgendein Flegel ins Gesicht, wenn ich sehe, wie diese Zeitungen darüber tönen, wie großartig die Sammlungsbewegung ist und wie Frankreich gesäubert und gereinigt wird, oder wenn ich eine wahrhaft entstellende und abstoßende Karikatur sehe, die mich oder Papa oder Maman darstellen soll, oder wenn ich in Erfahrung bringen möchte, was in der Welt geschieht, und statt der Zeitungen, die bei all ihrer Parteilichkeit wenigstens die Nachrichten aus aller Welt brachten, haben wir nichts als diese Hetzblätter, die Hass hinausschreien und unseren Tod fordern.

      Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass alle diese Franzosen herumrennen und den Deutschen in den Hintern kriechen und ihnen schöntun und ihre Parolen nachplappern! Ich habe törichte Tagträume, dass ich in die Redaktion eines dieser Hetzblätter oder einer dieser Zeitschriften stürme, die sich literarisches oder philosophisches Niveau anmaßen. Les Nouveaux Temps, La Gerbe, Aujourd’hui, Nouvelle Revue Française, sie alle halten sich an die Richtlinien der Besatzer, und keine verteidigt uns. Sie sind lediglich höflichere Formen von L’Appel und Au Pilori, die uns täglich mit einem Schwall Erniedrigungen übergießen und offen unseren Tod fordern. Ich fühle mich, als lebte ich in einer tollwütigen Stadt, wo jeder Zweite vor mörderischem Irresein schäumt und geifert.

      Ich erinnere mich, dass ich mir noch im letzten Jahr beim Lernen für mein bac ausgemalt habe, wie glücklich ich erst sein würde, sobald ich an der Sorbonne wäre. Ich würde anderen Studenten begegnen, die meine Interessen teilen, und ein Leben reicher intellektueller Gärung und strenger Hingabe an Ideen führen. Nun halte ich mich meistens von anderen Studenten fern, da ich den Schock der Entdeckung fürchte, dass auch sie Antisemiten sind. Die Mühsal des Überlebens ist so anstrengend, dass ich die Vorlesungen gar nicht zu schätzen weiß. Oft komme ich im Quartier Latin am Café Dupont mit seinem Schild KEINE JUDEN ODER HUNDE vorbei. Wie manche Konvertiten katholischer als der Papst sind, so eifern diese nachgemachten Nazis, ihre Herren zu übertreffen.

      29 novembre 1941

      Welch ein trauriger, stiller Geburtstag war das am 24. für mich. Dann erhielten wir Nachricht von Papa. Ein halbwüchsiger Junge in Pfadfinderuniform erschien damit, ein äußerst unwahrscheinlicher Überbringer geheimer Botschaften, aber er legte Wert auf die Feststellung, dass er in der EIF ist, was für Éclaireurs Israélites de France steht, die Jüdischen Pfadfinder. Er tat unseren Dank ab und sagte, es sei für ihn nicht schwierig, da er seine Methoden habe, die Grenze nach Vichy zu überqueren.

      Er brachte uns auch eine Flasche Cassis als Geschenk von Papa, die sehr willkommen ist, weil Maman und besonders ich die Wärme von ein wenig Wein zum Abendbrot vermissen und es Monate her ist, seit wir irgendetwas Alkoholisches genossen haben. Unsere winzige Weinration tauschen wir bei Mme Cohen gegen ein wenig Butter und etwas Magermilch für Rivka. Cassis, sagt Maman, ist besonders willkommen, da wir uns so oft den Magen an verdorbenen Nahrungsmitteln verkorksen oder an Brot mit seltsamen Zutaten – wir vermuten alles von Knochenmehl bis zu zermahlenem Mörtel aus Ruinen. Der Cassis wird nur löffelweise ausgeteilt werden, und zwar nach dem Abendbrot, um uns zu wärmen und unsere armen gequälten Mägen zu besänftigen.

      Papa ist in Toulouse, erzählte uns der Junge. Er scheint Papa sehr zu bewundern. Er sagte, Papa kann nicht über die Grenze nach


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