Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


Скачать книгу
ihr freier Abend. Für Louise war das eine neue Lebensweise, aber eine, an die sie sich leicht gewöhnen konnte. Claude, der noch nie da gewesen war, steckte voller Anekdoten über das Haus, das Städtchen und jetzt den Fisch, den er bereitete.

      »Blaufische sind Tiger«, verkündete er. »Sie geraten in einen Fresstaumel, wo sie ihre Beute bis an Land treiben. Sie beißen sogar einem Schwimmer einen gehörigen Happen aus.«

      Ich lerne etwas über mich und über ihn, dachte Louise. Sie entdeckte Ähnlichkeiten zwischen Oscar und Claude, ebenso wie Unterschiede. Sie schien heftig von Männern angezogen, die sich bemüßigt fühlten, alle, die ihnen über den Weg liefen, mit ihrem Charme zu bestricken, wohingegen sie eine Person war, die eher zurückhaltend auftrat. Weder im Bus noch auf dem Postamt fing sie Gespräche an. Doch Oscar tat das. Und Claude ebenfalls. Beide gabelten Wildfremde auf und krempelten sie um wie Taschen voll seltsamem Krimskrams. Wenn sie ins Restaurant gingen, war es beiden ein Anliegen, dass der Kellner oder die Kellnerin sie mochte. Louise war es ein Anliegen, dass ihr Kellner oder ihre Kellnerin anständig bezahlt wurde, gut bediente und außerhalb des Restaurants ein glückliches und erfülltes Leben führte, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob dieser Mensch sie mochte oder nicht, oder ihn gewogen zu stimmen.

      In vieler Hinsicht waren die beiden verschieden, ermahnte sie sich rasch, denn gelegentlich überkam sie die Angst, dass sie versuchte, etwas zu wiederholen, was unwiederholbar war. Oscar war ein Intellektueller. Er träumte in Ideen. Für einen Intellektuellen war er ein ungewöhnlich körperlicher und sinnlicher Mann, aber er liebte es zu argumentieren, zu erkunden, seine Ideen an Fakten und anderen Theorien zu messen, um festzustellen, wie sie unter Herausforderung klangen.

      Claude nahm das Licht auf dem verwitterten Holz wahr, die Schräge der Deckenbalken über den breiten Fußbodenbrettern, die Art, wie der Schreiner, der sich um das Haus kümmerte, vornehmlich sein rechtes Bein belastete, wenn er bergauf oder bergab ging. Claude liebte Klatsch und Histörchen und Spekulationen, warum jemand etwas getan oder nicht getan hatte. Wenn ihm etwas fremd war oder er sich ein Verhalten nicht erklären konnte, wie zum Beispiel das der Schwalben, die auf sie zuschossen, wenn sie hinten um den alten Schuppen gingen, und die durch die dämmerige Abendluft flitzten, dann erfand er Geschichten darüber. Die Schwalben, sagte er, waren die Geister von Menschen, die zu beschäftigt gewesen waren, um das Leben zu genießen, die sich inmitten tausender zu erledigender Dinge nie eine Woche freigenommen hatten und mit einer oder einem schönen Geliebten durchgebrannt waren, und so hatte Venus sie im nächsten Leben damit bestraft, ziellos und immer in schrecklicher Eile hin und her fliegen zu müssen. Oscar dagegen hätte ein Buch über Schwalben gelesen und dann ihr Verhalten genau studiert.

      »Eigentlich fangen sie, glaube ich, Insekten.« Louise saß auf der Bank und verfolgte seine Bemühungen. Sie tranken Weißwein, den er mitgebracht hatte. Mitten im Krieg hatte Claude immer Wein.

      »Genau. Kann es eine größere Strafe geben, als das nächste Leben damit zuzubringen, Moskitos, Fliegen und Mücken zu essen? Würde dir das gefallen? Nein? Dann musst du immer bereit sein, dein Leben zu unterbrechen, wenn Venus dich ruft. Sonst rächt sie sich.«

      Louise hatte starke Zweifel, dass Claude der erfolgreiche Regisseur geworden war, weil er andauernd seine Projekte hingeworfen hatte und mit einer Geliebten durchgebrannt war, aber sie hatte auch Zweifel, dass er für solche Unterbrechungen je weiter gehen musste als in ein günstig gelegenes, ja benachbartes Schlafzimmer. Die Hitzewelle verlangsamte alles in New York, er hatte ein wenig Zeit, und er hatte die letzte Woche in New York verbracht und musste die nächste in Washington verbringen. Sie bezweifelte nicht, dass er sie sehen wollte, aber sie erkannte auch, dass der Zeitpunkt nicht von Leidenschaft diktiert war, sondern von günstiger Gelegenheit. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Nicht mehr wollen, als er von sich aus anbot, genießen, was möglich war, und sich im selben Moment abwenden, wenn er es tat, oder, im günstigsten Fall, kurz vor ihm loslassen.

      Mit jeder Begegnung fand sie ihn attraktiver, seine Augen aus Aquamarin wie die Ohrringe, die sie einmal geschenkt bekommen hatte, weil Aquamarin ihr Monatsstein war, seinen agilen, drahtigen Körper, den Tennis und sein eigener Energiepegel in Form hielten trotz der Mengen von gutem Essen und Wein. Eine weitere Ähnlichkeit, warnte sie sich: beide gute Esser, voll Appetit und Abenteuerlust, knurrig, wenn sie nicht genügend und prompt gefüttert wurden. Wenn er die Gefahr sah, eine Mahlzeit zu versäumen, konnte Oscar einen Koller bekommen, den andere Männer sich für Untreue aufhoben.

      Claudes Brauen verliefen völlig gerade ohne jede Wölbung, nicht buschig auf den Brauenwülsten, sondern dünne braune Striche wie mit einem eiligen Bleistift gezogen. Sein Mund war voll, die Oberlippe beherrschte die untere. Er rasierte sich täglich, doch sein Körper war wenig behaart, ein paar feine Kupferdrähte unter den Armen und kraus um den Ansatz seines kurzen, stämmigen Penis. Seine Haut bräunte zu einem dunklen Goldton. In der Sonne funkelten Messingglanzlichter in seinem dunkelbraunen Haar. Sie hatte begonnen, jenes Schmelzen zwischen den Hüftknochen zu spüren, wenn sie ihn ansah. Ihr Körper hatte Lust, ihm schweifwedelnd hinterherzutrotten und ihm die feuchte Nase in die Hand zu legen. Ihr Körper war wohlig zufrieden und ließ es an Würde vermissen.

      Er schlief gern morgens mit ihr und dann wieder, wenn sie vom Strand zurückkamen. Er redete dabei, bis zu dem Punkt, wenn er in sie eindrang, was einiger Gewöhnung bedurfte. Er pries ihre Brüste und Hüften, gab ihr Kosenamen, sagte ihr, was er gleich mit ihr tun würde, sagte ihr, was sie gleich mit ihm tun würde. Er sprach Französisch und Englisch und gelegentlich eine Sprache, nach der sie ihn schließlich fragte, Rumänisch. Er redete nicht mit ihr, sondern mit sich selbst, entschied sie, er erregte sich damit, bewies sich, was er tat, machte es mit seinem fortlaufenden Kommentar intensiver.

      »Voici, le petit bouton rose, comme il se gonfle. Jetzt wirst du mich gleich um meinen Mann anflehen, und er wird hart zwischen deine kleinen Lippen stoßen.«

      Sie schlief gerne mit ihm, blendete meistens einfach aus, was er sagte, als sei es eine Geräuschkulisse oder musikalische Untermalung. Sie konnte sich nicht plötzlich in eine Frau verwandeln, die über den Beischlaf redete, während sie ihn vollzog. Ihre paar Versuche, es ihm gleichzutun, hatten sie nur in Verlegenheit gebracht. Sie sah keinen Grund, warum sie nicht schweigen und ihm überlassen sollte, sie beide in einen Tümpel sexueller und halbsexueller Worte zu tauchen. Er mochte es nicht, wenn sie ihn bestieg, sondern zog die Missionarsstellung vor oder das Eindringen von hinten. Er knurrte, er stöhnte, er biss in ihre Schultern. Er hatte mehrere verschiedene Rhythmen. Ihr Körper öffnete sich weit für ihn und nahm ihn tief in sich auf, verflüssigte sich, wurde sorglos und glühend reif.

      Im Bett redete Oscar nicht viel, also hatte vielleicht er ihre Schweigsamkeit verursacht, oder vielleicht war sie ihr angeboren. Nie hatte Oscar ihr im Bett den Namen einer anderen Frau gegeben. Doch eine der Frühwarnungen, dass er etwas mit einer anderen hatte, war, wenn er anfing, kleine neue Dinge zu tun. Plötzlich fuhr er ihr mit der Zunge in den Mundwinkel, rieb ihr mit kreisenden Bewegungen den Bauch. Diese neuen Finessen waren durchaus genussreich, aber sie jagten ihr auch kalte Schauder über den Rücken, denn sie lernte sich zu fragen: Wo hat er sich das abgeguckt? Es war großzügig von ihm, jeden Genuss, der ihm widerfuhr, zu ihr heimzutragen, aber ihr wäre lieber gewesen, er hätte stattdessen ein Handbuch über sexuelle Praktiken oder einen Pornoschmöker gelesen.

      Wann würde sie aufhören zu erinnern, zu vergleichen, Geste um Geste? Doch sie merkte, dass auch Claude regelmäßig in seine Gedanken und seine Vergangenheit entschwand. Schließlich, dachte sie, sind wir nicht mehr unschuldig, nicht mehr zwanzig. Uns beide hat ein erfülltes und arbeitsreiches und liebevolles Leben geformt, warum also überrascht sein, dass wir diese Vergangenheit beide nicht völlig abgeschüttelt haben?

      In schweigender Übereinkunft vermieden sie, über den Krieg zu reden. Nach dem Abendessen hörten sie sich aus innerem Zwang die Nachrichten an. Dann ging Claude allein spazieren und Louise räumte das Haus auf, während die Witwe abwusch. Die Engländer hielten El Alamein gegen Rommel, aber wie lange noch? Deutsche Streitkräfte ergossen sich über Russland in Richtung der Ölfelder im Süden. Die Japaner hatten Britisch-Neuguinea überfallen und erobert. Alle möglichen scheußlichen Gerüchte schwirrten umher über das, was die Deutschen im besetzten Polen taten, wo sie Berichten zufolge Millionen Juden einsperrten, zusammen


Скачать книгу