Das letzte Sandkorn. Bernhard Giersche

Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche


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Anfahren, zwischendurch ein Scooter, impertinent schrill – dass man die Dinger nicht verbietet – in der Ferne ein Martinshorn und ganz weit weg das laute Hupen eines Frachters im Hafen. Leute unterhielten sich lautstark da draußen. Zwar konnte ich nichts verstehen aber die Stimmen einer Frau (keifend) und mehrerer Männer (auch keifend) drangen an mein Ohr. Eine gute Portion kaltes Wasser ins Gesicht und es ging mir besser. Was für ein Wahnsinn. Ich rang mir ein Lächeln ab. Ich war ganz bestimmt nur in einen Sekundenschlaf gefallen. Passiert jedem mal.

      Einfach da gestanden und die Gedanken driften lassen. Sekundenschlaf vor der Teekanne und siehe da: Gott spricht.

      Lachend und kopfschüttelnd ging ich zurück, goss mir eine Tasse des ja so überaus intelligenten Tees ein und begab mich ins Wohnzimmer, Ausschau nach der Fernbedienung für den Fernseher haltend.

      Autos rauschen vorbei? Scooterlärm? Martinshorn? Leute, die laut sprechen?

      Man muss wissen, ich wohne in einem Vorort von Kiel. Das Kaff zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es den Charakter eines Sanatoriums hat. Hier ist nichts los. Im Sommer riecht es nach Gülle und Raps, und im Winter kommt nicht einmal der Streudienst vorbei, weil es hier so langweilig ist.

      Ein Arbeitskollege in der Versicherung, bei der ich angestellt bin, hatte mir die Wohnung vermittelt. Sie war günstig, nicht zu weit weg von der Stadt und wie für mich gebaut. Die Straße, in der sie lag, war verkehrsberuhigt und die Leute im Dorf von klischeehafter nordischer Kühle. Das war mir recht, denn ich hatte im Job täglich mit aufgeregten Menschen zu tun, die irgendwelche großen oder kleinen, wahren oder erdachten Katastrophen erlebt hatten und mir wortgewaltig Schecks aus der Tasche locken wollten. Hier fand ich die Ruhe, die ich benötigte, um abschalten zu können. Und meistens gelang mir das auch, wenn nicht gerade Gott ein Statement abzugeben gedachte.

      Autos ... Stimmengewirr ... Martinshorn ... verdammter Scooter.

      Meine Kopfhaut begann zu kribbeln und die Haare auf meinen Armen richteten sich auf.

      Irgendetwas ging da draußen vor.

      Das Bild, das sich mir beim Blick aus dem Fenster bot, war besorgniserregend. Die meisten Haustüren der Einfamilienhäuser waren geöffnet, und scheinbar alle Bewohner meiner Straße standen auf dem Gehweg. Eine Gruppe von Menschen stand direkt gegenüber, und ein Mann, den ich nur vom Sehen kannte, redete laut auf eine Frau ein. Er schlug dabei wie ein Huhn mit den Händen gegen seine Hüften, und die Frau hielt ihre Hände vor ihr Gesicht, dabei schien sie ständig mit dem Kopf zu nicken. Autos fuhren vorbei. Viel zu schnell in Anbetracht der Geschwindigkeitsbegrenzung in meiner Straße.

      Das laute Zuschlagen von Autotüren und Starten von Motoren vermischte sich mit den anderen Geräuschen zu einem akustischen Cocktail, der so ganz und gar nicht in diese Gegend passen wollte. Die sonst so distanzierten, geradezu abweisenden Menschen aus dem Dorf waren aufgeregt und irgendwie außer sich, ich weiß nicht, wie ich das besser beschreiben könnte. Flattern. Sie flatterten herum wie aufgeschreckte Hühner.

      Überall auf der Straße standen meine Nachbarn und deren Nachbarn vor ihren Autos und alle schienen auf der Flucht zu sein. Türen klappern, Motor an und weg. Alle in dieselbe Richtung. Ich schaute so weit wie möglich nach links aus dem Fenster, da sich alle in die andere Richtung aufmachten.

      Ich erwartete, dort mindestens ein gewaltiges UFO zu sehen, wie in Independance Day, zumindest aber eine Tsunamiwelle. Aber außer der untergehenden Junisonne sah ich nichts.

      Gar nichts. Alles gut. Wo wollten die alle hin? Und warum?

      »Du hast nur dein nacktes Leben, jetzt merkst du, das ist nicht viel. Und am Ende bringst du wieder Gott ins Spiel.

      Wie in Sodom und Gomorrah, wie in Babel und bei Noah. Am Ende bringst du Gott ins Spiel.«

      Acapulco Gold

      Die Stimme der endgültigen und letzten Instanz, die Stimme, die Gott, Jahwe, Buddha, Allah und Manitou und unzähligen anderen menschengemachten Gottheiten entsprach, war kaum verstummt, als in jeder Gesellschaft auf dem Planeten, in jeder Gemeinschaft und in jedem Land auf jedem Kontinent dasselbe geschah. So, wie die Menschen stets handelten, immer gehandelt hatten und, würde es eine Zukunft geben, auch in dieser so handeln würden, so handelten sie jetzt auch.

      Sie veränderten, indem sie vernichteten.

      Jede Form von Autorität ging in jener Sekunde verloren, jede Hierarchie und jede Kontrolle war ausgelöscht.

      Und niemand sah sich mehr als Teil des Ganzen, als Zahnrad im gewaltigen Weltengetriebe, sondern als alleiniger Retter der Menschheit, versehen mit göttlicher Prokura.

      Nun gab es keine Regeln und keine Obrigkeiten mehr, denn sie alle, ob Herrscher oder Beherrschte, waren gleich geworden. Und die Position im Schwarm, die sie bislang innehatten, wurde bedeutungslos.

      Zehn Tage, um die Welt zu retten.

      Ein Befehl Gottes. Nichts konnte die Retter aufhalten, denn in göttlicher Mission zu handeln, von Gott selbst den Auftrag bekommen zu haben, diese Bürde zu tragen, konnte durch nichts relativiert oder interpretiert werden.

      Erst recht nicht durch Menschen oder deren Handeln.

      Und so verließen alle ihre Plätze, die sie in den Gesellschaften eingenommen hatten. Der Mechaniker, der Ingenieur und der Arzt. Der Medizinmann und der Geistliche. Der Politiker und der Obdachlose, um die Welt zu retten.

      Und was taten die Menschen, um Gottes Chance zu nutzen? Eben das, was Menschen immer taten. Die Verantwortlichen für Gottes Zorn mussten vernichtet werden. Die, die nach Gottes Worten Schuld hatten. Das waren zuerst die Geistlichen aller Religionen. Und auch, wenn diese, wie alle anderen Menschen auch, von Gott berufen worden waren, das Ende der Menschheit abzuwenden, wurden sie doch Minuten nach Gottes Offenbarung hinweggefegt, von Hunderten, von Tausenden, die der Überzeugung waren, erst das Falsche vernichten zu müssen, bevor sie das Richtige erschaffen konnten.

      Allein zwölf Passagierflugzeuge schlugen auf dem Gebiet des Vatikans in Rom ein, gelenkt durch Piloten, die durch diese Tat die Welt zu retten gedachten. Als das erste Flugzeug in den Petersdom raste, lebte der Papst schon über zwölf Minuten nicht mehr, da sich alle Anwesenden im Vatikanstaat gegen ihn gewandt hatten. Dem heiligen Vater folgten die Kardinäle, die Bischöfe, die gesamte Hierarchie wurde von unten nach oben ausgelöscht durch Schwerter, Schusswaffen oder die bloße Hand.

      Die, die überlebten, weil sie keine Position innehatten, starben Minuten später bei den Flugzeugabstürzen.

      Und so erging es den Menschen in allen Religionen überall auf dem Erdball, in Mekka genauso wie in Varanasi, der Hauptstadt der Hindus oder Bodnath, der Wiege des Buddhismus.

      Und nicht nur die geistliche Obrigkeit wurde Ziel der Weltenretter. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft folgten den Millionen von Würdenträgern der Religionen der Menschheit. Verantwortlich für Gottes Zorn waren sie. Das war der Impuls der sieben Milliarden Berufenen.

      Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte nach der göttlichen Eingebung keine Minute mehr zu leben, Mitarbeiter von FBI und CIA, die das Weiße Haus auch in der tiefsten Nacht bewachten und den Präsidenten und seine Familie schützten, erkannten in ihm einen der großen Teufel, deren Handeln Gott bewogen hatte, die Menschheit auszulöschen.

      Und so starben alle Staatschefs und Präsidenten, alle Minister und politischen Verantwortlichen durch die Hand ihrer jeweiligen Völker. Gott hatte es ihnen gesagt.

      Alles was bisher war, war falsch und nicht nach Gottes Regeln. Und was falsch war, musste vernichtet werden.

      Der für Menschen einzig logische Schluss.

      Bis in die kleinsten Hierarchien setzte sich das Töten fort.

      Jeder Mann und jede Frau in einer Position mit Macht und Befugnissen wurde von den einstigen Untergebenen noch in dem Moment angegriffen, in dem sie selbst ihre Vorgesetzten als Quelle des Unheils zu töten gedachten.

      Nur ihre Vernichtung konnte die Menschheit noch


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