Das letzte Sandkorn. Bernhard Giersche

Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche


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Wagen schoss mit hoher Geschwindigkeit über den Straßengraben und landete auf dem Acker rechts der Landstraße. Der Polo überschlug sich in Längsrichtung, rutschte noch wenige Meter auf dem Dach weiter und kam zum Stehen.

      Sie hatte die ganze Zeit geschrien, unfähig, an dem Unfallverlauf irgendetwas zu ändern. In dem Moment, in dem sich der Wagen in den Acker bohrte, löste der Airbag aus und verhinderte so schwerere Verletzungen. Die Sekunden, bis das Auto zum Stillstand kam, waren unerträglich lang für sie, und mit einem Mal war Stille, von dem Ticken des Motors abgesehen. Kopfüber hing sie in ihrem Gurt und eine gnädige Ohnmacht hatte Evelyn Passmann, Fotomodell und Mannequin, für den Moment erlöst.

      »Ich muss die Fähre kriegen«, war das Erste, was sie dachte, als sie langsam ihr Bewusstsein wiedererlangte. Danach strömten die Bilder des dicken Mannes, der sie aus dem Auto zerren wollte, und sein anschließender Purzelbaum auf der Straße, in den Kopf. Sie öffnete die Augen und bemerkte erstaunt, dass der Himmel erdfarben war und nach Gülle roch. Nach und nach kam die Erinnerung an den Unfall, an den schwarzen Wagen, der sie von der Straße gedrängt hatte, an den kurzen Flug über den Straßengraben und die harte Landung zurück. Endlich wurde Evelyn klar, dass sie kopfüber in ihrem Gurt hing und machte sich am Gurtverschluss zu schaffen. Mit einem »Klick« gab der Verschluss den Gurt frei und sie fiel unsanft auf den Kopf.

      Da das Dach des Polo auf der Beifahrerseite stark eingedrückt war, war es sehr eng in dem Fahrzeug. Sie lag nun auf ihrem Nacken, die Knie am Lenkrad. Sie versuchte gar nicht erst, ihre Tür zu öffnen, sondern kroch nach einigen Verrenkungen durch das Fenster der Fahrertür.

      Ihre Jeans war am rechten Knie zerrissen und etwas Blut hatte das Loch rot umrahmt.

      Sie spürte Schmerzen an der Stirn, dort wo der Airbag sie getroffen hatte.

      Evelyn hielt sich am Radkasten des Hinterrades fest, als ihr schlecht wurde und sie in einem hohen Bogen ihren Mageninhalt auf den Acker spie. Sterne tanzten vor ihren Augen, und bevor sie auch nur die Chance erhielt, ihre Gedanken zu ordnen, verlor sie erneut das Bewusstsein.

      Nach weniger als fünf Minuten öffnete Evelyn wieder die Augen.

      Sie lag neben ihrem Auto, das wie ein Käfer auf dem Rücken lag und seine Beine in den Himmel reckte, und blinzelte in die Sonne.

      »Ich heiße Evelyn Passmann, bin 24 Jahre alt und Fotomodell«, murmelte sie. »Mama und Papa leben in Köln, und ich wohne in Düsseldorf.« Der Geruch von Gülle durchdrang die Realität wie eine olfaktorische Bombe.

      »Es stinkt«, dachte sie.

      »Ich muss doch die Fähre kriegen«, dachte sie und wandte den Kopf nach rechts, wo ihr zerstörter Wagen lag.

      »Ich hatte einen Unfall«, konstatierte sie in geradezu karikaturhafter Naivität, die ihre Wurzeln in dem Schockzustand hatte, in dem sie sich befand.

      Sie lag immer noch auf dem von Gülle durchtränkten Ackerboden, als sie begann, ihren Körper auf Verletzungen zu untersuchen. »Rechter Arm? Ok. Linker Arm ... naja, fast ok. Beine: Null Defekte, außer der Wunde am rechten Knie. Im Nacken tut es weh und das Gesicht fühlt sich an, als wäre da einiges verändert worden. Die Nase ist zugeschwollen ...«

      Langsam versuchte sie, sich aufzurichten. Der Motor des zertrümmerten Polo tickte noch immer, und auf einmal bekam sie Angst, dass das Auto wie in diesen Hollywood-Filmen explodieren könnte. Hastig robbte sie einige Meter weg von ihrem Wagen.

      Warum kam denn keiner, um ihr zu helfen?

      Der dicke Mann. Was hatte der von ihr gewollt?

      Sie bekam das nicht wirklich in den Kopf. Sie wollte einkaufen. Ja. Das wollte sie. Da war ein Supermarkt. Und der dicke Mann. Und ein dunkles Auto und dann Krach, Bumm, Peng.

      »Ich muss die Polizei rufen!«. Der erste vernünftige Gedanke.

      Ihr Handy lag allerdings im Wagen, und so fasste sie sich ein Herz und kroch zu dem Trümmerhaufen zurück. Sie blickte in das Innere

      des Autos und sah ihr Mobiltelefon auf dem stoffbespannten Himmel des Polo liegen, der jetzt den Boden bildete. Es gelang ihr, ihren Arm so weit in das Auto zu schieben, dass sie ihr Handy greifen und an sich nehmen konnte. »Kein Netz«, lautete die Botschaft auf dem Display.

      Evelyn Passmann nahm einen tiefen Atemzug und zog sich am Radkasten des Polo auf die Beine. Dann wandte sie sich Richtung Straße, und zwar genau in dem Augenblick, in dem ein Lastzug, von rechts aus Richtung des Fährterminals kommend, mit vollen neunzig Stundenkilometern einen entgegenkommenden Bus rammte. Ein infernalisches Krachen rollte heran. Das Führerhaus des Lastwagens faltete sich wie ein Akkordeon, der Bus wurde aus ihrem Blickfeld geworfen, während der Lastzug mit der zerstörten Zugmaschine von der Straße gerissen wurde und geradewegs auf sie zuschoss.

      Fast die Hälfte der dreißig Meter von der Landstraße bis zu ihr legte das vierzig Tonnen schwere Geschoss im freien Flug zurück. Wie erstarrt stand Evelyn da, und bevor sie auch nur einen einzigen Muskel aktivieren konnte, rollte der Koloss dicht an ihr vorbei und kam unweit des winzig wirkenden Polos völlig zertrümmert zur Ruhe. Der Gestank von Diesel und verbranntem Gummi mischte sich mit dem der Gülle. Ein Dreckregen ging auf sie nieder, und wenn es bislang noch eine saubere Stelle an ihr gegeben hatte, war diese nun auch beseitigt.

      Der ohnehin schwere Schock, ausgelöst durch ihren eigenen Unfall, verstärkte sich noch und das Bild dieses roten, fleischfarbenen, zappelnden Flecks an der total zerstörten Stelle, an der man das Fahrerhaus des Sattelschleppers vermuten konnte, brannte sich in ihr Gedächtnis.

      Sie sackte auf die Knie, und der Schmerz, den sie verspürte, holte sie in die Realität zurück, bevor sie erneut die Besinnung verlor.

      Der Sattelzug stand auf seinen Rädern, die sich trotz der Trockenheit bis zu den Achsen in den Acker gegraben hatten. Sie sah nur noch die Rückseite des Aufliegers, und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Zischen der sich entleerenden Luftdruckbehälter des Bremssystems.

      Sie stand wieder auf und taumelte barfuß auf die Straße zu – ihre Schuhe hatte sie schon im Polo verloren – noch größerem Schrecken entgegen.

      Sie hatte die Straße erreicht und schaffte es, die kurze Böschung hinaufzuklettern. Der Asphalt war übersät von verbogenen Fahrzeugteilen. An der Stelle, an der der Zusammenprall von Bus und LKW erfolgte, war auf der Fläche von über einem Quadratmeter der Fahrbahnbelag aufgerissen und gab den Blick auf hellen Schotter frei. Ölige Lachen und tiefe Riefen auf dem Asphalt bildeten mit dem Trümmerfeld eine surreale optische Komposition, die von Evelyn wie ein Bild in einer Vernissage betrachtet wurde.

      In ihrem Schockzustand nahm sie das Grauen dieses Ortes nicht mehr bewusst wahr.

      Das völlig zerrissene Wrack des Busses lag 50 Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

      Die Reifen zeigten in ihre Richtung und von dort kam keinerlei Lebenszeichen. Sie wäre eher gestorben, als zu dem zerstörten Linienbus zu laufen.

      Wo blieben nur die Polizei und die Feuerwehr, die Krankenwagen, die Hubschrauber und die Schaulustigen? Sie hatte noch in ihrem Kopf, dass hier reger Verkehr geherrscht hatte und es immer wieder zu Staus kam, weil die Fähren, die kaum zwei Kilometer von hier Richtung Dänemark ausliefen, die Mengen an Fahrzeugen kaum zu transportieren vermochten. Jetzt herrschte hier gespenstische Ruhe. Das hatte sie kaum bewusst gemacht, als sie eine heftige Detonation aus Richtung des Fährhafens hörte. Erst gab es eine Art Grummeln, lauter werdend, und dann einen heftigen Schlag, wie bei einem mächtigen Gong. Sie riss den Kopf in die Richtung, aus der dieser Krach zu hören war und sah einen Glutball in den Himmel steigen, vom Aussehen her wie eine kleine Nuklearexplosion.

      Gewaltige, tiefschwarze Qualmwolken folgten dem dunkler werdenden Feuerball und verschlangen ihn schließlich.

      Das Weinen kam urplötzlich aus ihr heraus. Sie legte sich auf den warmen, stinkenden und von Trümmern übersäten Asphalt und zog die Knie an. Evelyn lag dort minutenlang schluchzend und wiegte sich selbst hin und her. Und sie betete, betete zu Gott, er möge sie aus diesem Alptraum befreien.

      In dem Buswrack begann


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