Das letzte Sandkorn. Bernhard Giersche

Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche


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Ascheflocken tanzten durch die Luft.

      Ein fernes metallisches Knirschen und Quietschen zeugte vom Untergang einer Fähre am Terminal, aber sie hörte es nicht. Und sie sah auch nicht die Menschen, die wie Ameisen aus dem Dorf strömten, zu Fuß, mit dem Auto oder mit Fahrrädern.

      Dasselbe Dorf, in dem sie noch vor einer halben Stunde Seidenstrümpfe, eine Zahnbürste und eine Kleinigkeit zum Essen kaufen wollte. Sie ahnte nichts von ihrem Glück, nicht überfahren worden zu sein, denn es waren fast hundert Autos, die an ihr vorüberfuhren.

      Gnädige Ohnmacht hatte sie erneut umfangen.

      Denn von nun an über sieben Tage will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles, was Wesen hat, was ich gemacht habe.

      1.Mose 7,4

      Offensichtlich waren alle wahnsinnig geworden. Er selbst war noch ganz erschüttert von dem, was sich vor wenigen Minuten in seinem Kopf zugetragen hatte, und dennoch konnte er sich damit zur Zeit nicht befassen, denn er war damit beschäftigt, zu überleben.

      Er hatte in seinem Büro gesessen und gerade Darlehnsanträge bearbeitet, als die Hölle losbrach. Im Filialraum der Bank entstand zum selben Zeitpunkt ein lauter Tumult, als die Nachricht des Allmächtigen endete.

      Laute Rufe, das Scheppern umstürzender Blumentöpfe und Aufsteller für Werbeplakate. Gerade wollte er aufstehen, um zu schauen, was draußen los war, da kam ihm in den Sinn, dass seine Bank wohl gerade überfallen wurde, und er drückte mit zitternden Händen den Alarmknopf an seinem Telefon. Der stille Alarm würde die nächste Polizeistation alarmieren und hoffentlich würden dann sehr schnell die Beamten hier sein, um die Situation zu bereinigen.

      Plötzlich wurde die Tür zu seinem Büro aufgerissen und einer seiner Mitarbeiter stürzte herein. »Was...« konnte Laurenz Beck noch rufen, bevor der Bankbedienstete über seinen Schreibtisch hechtete und ihm die Hände um den Hals legte.

      Durch den Anprall rutschte der Bürostuhl auf seinen Rollen weit nach hinten und prallte gegen den Heizkörperan der Wand. Der Griff um seinen Hals lockerte sich und Laurenz Beck schlug hysterisch nach dem Angreifer, dessen wutverzerrtes Gesicht er dicht vor sich hatte.

      Der Regionalleiter und Bankmanager Laurenz Beck rutschte nun von seinem Drehstuhl und fiel zusammen mit dem Bankmitarbeiter, der ihm aus unerfindlichen Gründen vehement nach dem Leben trachtete, zu Boden. Wieder legten sich die Hände des Mannes um seinen Hals, aber diesmal gelang es Laurenz Beck, den Angreifer durch einen festen Schlag gegen das linke Ohr für einen Moment zu lähmen. Er trat und schlug wie besessen auf den Mann ein, dessen Name Frank Wilhelmsen war, und der eigentlich Berater für Kleinkredite und Devisengeschäfte und sonst ganz nett war.

      Es gelang ihm, sich aufzurichten und Wilhelmsen auf den Boden zu drücken. »Was zum Teufel soll das?«, schrie er ihn an und schlug weiter auf das hochrote Gesicht von Wilhelmsen ein.

      Dieser rammte ihm das Knie zwischen die Beine und für einen Moment versank Laurenz Beck in einem blinkenden Nebel, während er auf den Rücken fiel und sich dabei schmerzhaft am umgestürzten Bürostuhl stieß.

      Wilhelmsen stand keuchend auf, ergriff den ledernen Sessel am rollenbewehrten Fuß und hob ihn weit über seinen Kopf, offensichtlich, um ihn mit voller Wucht auf Laurenz Becks Kopf zu schmettern.

      In der Sekunde trat ein weiterer Mitarbeiter in das Büro und lenkte Wilhelmsen einen Moment ab.

      In seiner Hand hielt der Mann einen Elektroschocker, und er bewegte sich mit schnellen Schritten auf den Schreibtisch zu, hinter dem Beck auf dem Boden lag und immer noch Sterne sah.

      Laurenz Beck sah nur die Hand mit dem Elektroschocker, der seine fünf Millionen Volt mit einem hochfrequenten Knistern in das rechte Auge von Wilhelmsen entlud und ihn auf der Stelle lähmte. Ein Gurgeln entrann seiner Kehle und der Fachmann für Kleinkredite und Devisen sackte in sich zusammen, ließ den Drehstuhl fallen und stürzte rückwärts auf den Boden.

      »Du bist schuld, wegen dir passiert das alles«, hörte Laurenz Beck seinen vermeintlichen Retter sagen. Er versuchte aufzustehen und sah über die Kante des Schreibtisches hinweg in das Gesicht seines Prokuristen, der ihn mit derselben hasserfüllten Mimik anstarrte, wie der elektrisierte Wilhelmsen.

      Draußen konnte man immer noch laute Schreie und Klirren und Poltern hören, als wütete eine Rinderherde in dem großzügigen Schalterraum der Bank. Es gab einen sehr lauten Knall, und der Prokurist wurde wie von Geisterhand quer über den Schreibtisch geworfen, Papiere und Schreibtischutensilien mit sich reißend.

      In der Bürotür stand der Wachmann der »Kaleido-Security«, der bankeigenen Sicherheitsfirma und der hielt seine rauchende Dienstwaffe in der rechten Hand. Laurenz Beck war halb unter dem nunmehr sehr friedlichen Prokuristen und dem Bürostuhl begraben und rührte sich nicht mehr. Der Wachmann trat näher und ging um den Schreibtisch herum.

      Der Mann in der schwarzen Uniform blickte auf die drei Männer, die blutbesudelt in einem grotesken Knäuel auf dem Boden lagen und gab drei Schüsse auf die Körper ab.

      Dann wandte er sich ab und verließ das Büro. Er öffnete die Tür zum Treppenhaus.

      In den oberen Etagen des Bankgebäudes gab es noch jede Menge Banker, die er töten musste, denn sie waren an allem schuld.

      Die drei Schüsse waren so laut gewesen, dass der schrille Schmerz in seinen Ohren die primäre Empfindung war, die Laurenz Beck verspürte.

      Unendliche Angst, totale Panik und der Schock ließen ihn viel zu schnell und viel zu flach atmen. Der Körper des Prokuristen lastete schwer auf ihm und Wilhelmsen war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Würde er auch nicht mehr, denn eine der drei Kugeln hatte ihn in die Brust getroffen. Die zweite steckte im rechten Oberschenkel des Prokuristen und die dritte hatte die lederbezogene Lehne des Bürostuhls durchschlagen und sich zwischen den Beinen des Bankmanagers in den Fußboden gebohrt.

      Erfüllt von schierer Todesangst hatte Beck sich eingenässt und begann nun, am ganzen Körper zitternd, sich aus dem grauenvollen Haufen aus menschlichen Körpern, blutbefleckten Papieren und dem Drehstuhl herauszuwinden. Aus der Etage über ihm hörte er erneut Schüsse, die ihn zusammenzucken ließen. Sein weißes Hemd war voller Blut, sein Gesicht war zerschlagen und sein rechtes Auge begann, zuzuschwellen. Seinen nassen Schritt nahm er nicht wahr in diesem Moment.

      Er wagte es, hinter dem Schreibtisch hervorzukriechen und schaute zur Tür. In der Schalterhalle war es mittlerweile ruhig geworden. Vor ihm lag sein Telefon, das im Laufe der Geschehnisse vom Schreibtisch gefallen war und kein Ton drang aus dem Hörer. Tot wie der Prokurist.

      Der Gestank nach Pulver und Blut vermischte sich mit dem seiner Hose zu einem wenig Mut machenden Geruchs-Ensemble. Laurenz Beck kroch auf allen Vieren langsam in Richtung Tür. Seine Gedanken und Gefühle wirbelten völlig durcheinander. Tränen liefen ihm über das Gesicht und wuschen feine Linien in das Blut, das nicht das seine war.

      Erst an der Tür traute sich Laurenz Beck aufzustehen.

      Noch immer raste sein Puls, und auch sein Atem hatte sich nicht beruhigt. Durch die Fenster drangen Geräusche zu ihm. Hupen und laute Schreie. Tatsächlich Schüsse und das Klirren von Glas. Überlaut dominierte auf einmal das infernalische Tosen von Flugzeugtriebwerken direkt über ihm. Das ganze Gebäude schien zu zittern, als der Airbus der Ryan-Air in nur dreißig Metern Höhe über das Bankhaus hinwegflog, um sich, in Seitenneigung befindlich, in die Fassade des Hamburger Rathauses zu bohren. Der Aufschlag und die synchron erfolgende Detonation fand zwar über einen halben Kilometer von Laurenz Beck entfernt statt, dennoch barsten die Fenster und ein Scherbenregen ging auf den Bankmanager nieder. Kerosingestank und Brandgeruch mischten sich zu den ohnehin dominierenden Gerüchen im verwüsteten Büro von Laurenz Beck.

      Er taumelte durch die Tür, nahm wahr, dass der Schalterraum leer war und keine der über dreißig Neonlampen mehr funktionierte. Der Schalterraum lag in diffusem Halbdunkel und war übersät von Teilen der Deckenverkleidung, die durch die Erschütterung des nahen


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