Preußentum und Sozialismus. Oswald Spengler

Preußentum und Sozialismus - Oswald Spengler


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In­stinkt an­ti­re­vo­lu­tio­när ist. Den Or­ga­nis­mus aus dem Geis­te des 18. Jahr­hun­derts in den des 20. zu über­füh­ren – was man in ei­nem ganz an­de­ren, spe­zi­fisch preu­ßi­schen Sin­ne li­be­ral und de­mo­kra­tisch nen­nen kann – war eine Auf­ga­be für Or­ga­ni­sa­to­ren. Die ra­di­ka­le Theo­rie aber mach­te aus ei­nem Teil des Vol­kes einen vier­ten Stand zu­recht – sinn­los in ei­nem Lan­de der Bau­ern und Be­am­ten. Sie gab dem über­wie­gen­den, in zahl­lo­se Be­rufs­stän­de ge­glie­der­ten Teil den Na­men »drit­ter Stand« und be­zeich­ne­te ihn da­mit als Ob­jekt ei­nes Klas­sen­kamp­fes. Sie mach­te den so­zia­lis­ti­schen Ge­dan­ken end­lich zum Pri­vi­le­gi­um des vier­ten Stan­des. Im Ban­ne die­ser Kon­struk­tio­nen zog man denn im No­vem­ber aus, um das zu er­rei­chen, was im Grun­de längst da war. Und da man es im Ne­bel der Schlag­wor­te nicht er­kann­te, zer­schlug man es. Nicht nur der Staat, auch die Par­tei Be­bels, das Meis­ter­werk ei­nes echt so­zia­lis­ti­schen Tat­sa­chen­menschen, durch und durch mi­li­tä­risch und au­to­ri­ta­tiv und eben da­mit die un­ver­gleich­li­che Waf­fe der Ar­beiter­schaft, wenn sie dem Staat den Geist des neu­en Jahr­hun­derts ein­imp­fen woll­te, ging in Trüm­mer. Das macht die­se Re­vo­lu­ti­on so ver­zwei­felt lä­cher­lich: sie brach auf, um ihr eig­nes Haus an­zu­zün­den. Was 1914 das deut­sche Volk sich selbst ver­spro­chen, was es be­reits lang­sam, ohne Pa­thos zu ver­wirk­li­chen be­gon­nen hat­te, wo­für zwei Mil­lio­nen Män­ner ge­fal­len wa­ren, wur­de ver­leug­net und ver­nich­tet. Und dann stand man rat­los, ohne zu wis­sen, was nun ver­an­stal­tet wer­den soll­te, um sich selbst das Vor­han­den­sein ei­ner fort­schrei­ten­den Re­vo­lu­ti­on zu be­wei­sen. Es war sehr nö­tig, denn der Ar­bei­ter, der et­was ganz andres er­war­tet hat­te, schau­te miss­trau­isch auf, aber mit dem täg­li­chen Aus­ru­fen der Schlag­wor­te in die lee­re Luft hin­ein war es nicht ge­tan.

      Und so rich­te­te der un­ent­wegt li­be­ra­le Mi­chel den ge­stürz­ten Thron wie­der auf und setz­te sich dar­auf. Er war der gut­mü­ti­ge Erbe des Nar­ren­streichs, von gan­zem Her­zen an­ti­so­zia­lis­tisch und des­halb den Kon­ser­va­ti­ven wie den Spar­ta­kis­ten gleich­mä­ßig ab­ge­neigt, vol­ler Angst, dass bei­de ei­nes Ta­ges ihr Ge­mein­sa­mes ent­de­cken möch­ten. Karl Moor im Klub­ses­sel, der alle In­ter­es­sen­jä­ger, auch die frag­wür­digs­ten, frei­sin­nig dul­de­te, vor­aus­ge­setzt, dass das re­pu­bli­ka­nisch-par­la­men­ta­risch-de­mo­kra­ti­sche Prin­zip ge­wahrt blieb, dass man reich an Wor­ten, maß­voll im Tun war, und dass Kühn­heit, Ent­schlos­sen­heit, dis­zi­pli­nier­te Un­ter­ord­nung und an­de­re Zei­chen von Au­to­ri­täts­be­wusst­sein sorg­fäl­tig aus sei­ner Nähe ent­fernt blie­ben. Zu sei­nem Schut­ze be­rief er die ein­zi­ge Ent­de­ckung der No­vem­ber­ta­ge, be­zeich­nen­der­wei­se einen Sol­da­ten von ech­tem Hol­ze, und heg­te nun wie­der tie­fes Miss­trau­en ge­gen den mi­li­tä­ri­schen Geist, ohne den die Far­ce von Wei­mar ein schnel­les Ende er­reicht ha­ben wür­de.

      Was aber hier ge­leis­tet wur­de an Den­ken, Kön­nen, Hal­tung, Wür­de, ge­nügt, um den Par­la­men­ta­ris­mus in Deutsch­land für im­mer zu rich­ten. Un­ter dem Sym­bol der schwarz-rot-gel­ben Fah­ne, die da­mit end­gül­tig lä­cher­lich ge­wor­den ist, wur­den alle Tor­hei­ten der Pauls­kir­che er­neu­ert, wo die Po­li­tik eben­falls kei­ne Tat, son­dern ein Ge­schwätz, ein Prin­zip ge­we­sen war. Der Mann von 1917 war auf dem Gip­fel: sein Waf­fen­still­stand, sein Völ­ker­bund, sein Frie­de, sei­ne Re­gie­rung. Mi­chel lüf­te­te lä­chelnd die Müt­ze in der Er­war­tung, dass John Bull groß­ar­tig sein wür­de und un­ter­schrieb, eine Trä­ne im Au­gen­win­kel, als er es wirk­lich war und das ra­send ge­w­ord­ne Frank­reich als sei­nen Ge­schäfts­füh­rer vor­schick­te.

      Im Her­zen des Vol­kes ist Wei­mar ge­rich­tet. Man lacht nicht ein­mal. Der Ab­schluss der Ver­fas­sung stieß auf ab­so­lu­te Gleich­gül­tig­keit. Sie hat­ten ge­meint, der Par­la­men­ta­ris­mus ste­he am An­fang, wäh­rend er selbst in Eng­land im ra­schen Nie­der­gang be­grif­fen ist. Da ih­nen Op­po­si­ti­on als das Zei­chen par­la­men­ta­ri­scher Ho­heit er­schi­en – ob­wohl al­ler­dings das eng­li­sche Sys­tem star­ke In­di­vi­dua­li­tä­ten vor­aus­setzt, die sich auf zwei ur­al­te, ein­an­der be­din­gen­de Grup­pen ver­tei­len, von star­ken In­di­vi­dua­li­tä­ten bei uns aber kei­ne Rede war –, so trie­ben sie un­ent­wegt Op­po­si­ti­on ge­gen eine Re­gie­rung, die gar nicht mehr vor­han­den war: das Bild ei­ner Schul­klas­se, wenn der Leh­rer fehlt.

      Die­se Epi­so­de ist der tiefs­ten Ver­ach­tung der Zu­kunft ge­wiss. 1919 ist der Tief­punkt deut­scher Wür­de. In der Pauls­kir­che sa­ßen ehr­li­che Nar­ren und Dok­tri­näre, welt­fremd bis zum Ko­mi­schen, Jean Paul-Na­tu­ren; hier aber fühl­te man ver­schmitz­te In­ter­es­sen da­hin­ter. Es macht kei­nen Un­ter­schied, ob es sich um Dü­pier­te oder Ein­ver­stan­de­ne han­delt. Die­se Par­tei­en ver­wech­sel­ten das Va­ter­land all­zu oft mit dem Vor­teil. Wir er­le­ben eine Di­rek­to­ri­al­zeit vor dem Ther­mi­dor. Wehe, wenn wir das über­sprun­ge­ne Stück nach­ho­len müs­sen! Dass dies ver­lo­ge­ne Schau­spiel ei­ner nicht ge­glück­ten und nicht be­en­de­ten Re­vo­lu­ti­on ein Ende nimmt, ist si­cher. Drau­ßen be­rei­tet sich ein neu­er Akt des Welt­krie­ges vor. Man lebt heu­te schnell. Wäh­rend die Na­tio­nal­ver­samm­lung, ein ver­schlech­ter­ter Reichs­tag, aus den Trüm­mern des zer­stör­ten Staa­tes eine Hüt­te zu­sam­men­flickt, in der Schie­ber­tum und Wu­cher mit Löh­nen, mit Wa­ren, mit Äm­tern bald die ein­zi­ge Be­schäf­ti­gung sein wer­den, be­gin­nen an­de­re über das letz­te Jahr an­ders zu den­ken. Sie ver­glei­chen, was da ge­baut wird, mit dem, was ein­mal da war. Sie ah­nen, dass ein Volk in Wirk­lich­keit nie­mals zwi­schen ver­schie­de­nen Staats­for­men zu wäh­len hat. Wäh­len lässt sich nur die Ver­klei­dung, nicht der Geist, das We­sent­li­che, ob­wohl die öf­fent­li­che Mei­nung be­stän­dig bei­de ver­wech­selt. Was man in eine Ver­fas­sung hin­ein­schreibt, ist im­mer un­we­sent­lich. Was der Ge­sam­tin­stinkt all­mäh­lich dar­aus macht, dar­auf kommt es an. Das eng­li­sche Par­la­ment re­giert nach un­ge­schrie­be­nen, aus ei­ner al­ten Pra­xis ent­wi­ckel­ten und oft sehr we­nig de­mo­kra­ti­schen Ge­set­zen und eben des­halb mit so großem Er­folg.

      Aber man täu­sche sich nicht: die Re­vo­lu­ti­on ist nicht zu Ende. Ob sinn­los oder nicht, ob ge­schei­tert oder ver­hei­ßungs­voll be­gon­nen, ob der Auf­takt ei­ner Wel­t­re­vo­lu­ti­on oder eine blo­ße Auf­leh­nung des Mob in ei­nem ein­zel­nen Lan­de, es ist eine Kri­se im Gan­ge, die wie al­les Or­ga­ni­sche, wie eine Krank­heit, einen mehr oder we­ni­ger ty­pi­schen Ver­lauf nimmt, der sinn­wid­ri­ge Ein­grif­fe nicht dul­det. Ethi­sche Wor­te, wie ge­rech­te Sa­che oder Ver­rat, sind der Tat­sa­che selbst ge­gen­über wert­los. Man muss, als Re­vo­lu­tio­när wie als Ge­gen­re­vo­lu­tio­när, Men­schen­ken­ner sein, eis­kalt und über­le­gen alle Fak­to­ren des Au­gen­blicks be­rech­nen, das psy­cho­lo­gi­sche Fein­ge­fühl der al­ten Di­plo­ma­tie statt auf Di­plo­ma­ten- und Fürs­ten­see­len auf die viel schwe­rer zu durch­schau­en­de, auf einen Takt­feh­ler viel ge­reiz­ter ant­wor­ten­de Mas­sen­see­le an­wen­den. Volks­füh­rer mit ge­rin­ger In­tel­li­genz pfle­gen dar­in eine un­fehl­ba­re Si­cher­heit zu be­sit­zen. Un­se­re


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