Preußentum und Sozialismus. Oswald Spengler

Preußentum und Sozialismus - Oswald Spengler


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lehr­rei­cher. Die Ver­hält­nis­se la­gen nie so kom­pli­ziert wie heu­te. Der Aus­bruch der Re­vo­lu­ti­on war gleich­zei­tig die Aus­lie­fe­rung des Lan­des an den Feind. Das hat, im Ge­gen­satz zu al­len an­de­ren Län­dern, bei uns die ge­fühls­mä­ßi­ge Stel­lung zum Mar­xis­mus von ei­nem mäch­ti­gen Fak­tor ganz an­de­rer Art ab­hän­gig ge­macht. Va­ter­land und Re­vo­lu­ti­on wa­ren 1792 iden­tisch, 1919 sind es Ge­gen­sät­ze. Jede neue Pha­se voll­zieht sich un­ter dem Druck ei­ner feind­li­chen Kom­bi­na­ti­on. Die eng­li­sche Re­vo­lu­ti­on spiel­te sich auf ei­ner In­sel ab; die fran­zö­si­sche be­hielt dank ih­rer Tap­fer­keit im Fel­de die Ent­schei­dun­gen in der Hand. In der deut­schen Re­vo­lu­ti­on aber zäh­len Pa­ris, Lon­don und Ne­wyork mit, nicht mit ih­ren Ar­bei­ter­be­we­gun­gen, son­dern mit Trup­pen, die sie mar­schie­ren las­sen, wenn die deut­sche Re­vo­lu­ti­on eine ih­nen nicht er­wünsch­te Form an­nimmt. Die Marxis­ten ha­ben es so ge­wollt und müs­sen nun da­mit rech­nen. Au­ßer den Hand­gra­na­ten des Spar­ta­kus­bun­des und den Ma­schi­nen­ge­weh­ren der Reichs­wehr ist noch die fran­zö­si­sche Be­sat­zungs­ar­mee und die eng­li­sche Flot­te da. Das he­ro­i­sche Bol­sche­wis­ten­ge­re­de in den Zei­tun­gen und die täg­li­che Nie­der­met­ze­lung der west­li­chen Ka­pi­ta­lis­ten durch Leit­ar­ti­kel und Lü­gen­te­le­gram­me er­set­zen eine re­vo­lu­tio­näre Front mit schwe­rer Ar­til­le­rie noch lan­ge nicht. Je mehr man die Wel­t­re­vo­lu­ti­on pre­digt, de­sto un­ge­fähr­li­cher wird sie. Schon der Ton die­ses Ge­re­des ver­rät mehr Är­ger als Zu­ver­sicht und schließ­lich hat­ten ja auch die rus­si­schen Re­vo­lu­tio­näre nicht die Feig­heit vor dem äu­ße­ren Feind an die Spit­ze ih­res Pro­gramms ge­stellt. Und man ver­ges­se doch auch nicht, dass die Be­tei­li­gung am No­vem­be­r­auf­stand bei vie­len nicht aus Be­geis­te­rung für ir­gend­ein Pro­gramm, son­dern aus Verzweif­lung, aus Hun­ger, aus der nicht län­ger zu er­tra­gen­den An­span­nung der Ner­ven her­vor­ging. Die Ver­sail­ler Be­schlüs­se las­sen den Kriegs­zu­stand fort­dau­ern, aber wie lan­ge wird man sei­ne see­li­sche Wir­kung für statt ge­gen die mar­xis­ti­schen Zie­le ein­stel­len dür­fen? Die Waf­fe des Ge­ne­ral­streiks ist ab­ge­nutzt. Das ver­lo­re­ne ers­te Jahr ei­ner jun­gen Be­we­gung ist nicht nach­zu­ho­len, und auch das Schau­spiel der Na­tio­nal­ver­samm­lung kann wohl ge­gen die Ver­samm­lung, aber nicht not­wen­dig für die Sa­che ih­rer kläg­li­chen Schritt­ma­cher ein­neh­men. Und end­lich be­ach­te man den rasch na­hen­den, jede Re­vo­lu­ti­on in­ner­lich ab­schlie­ßen­den Zeit­punkt, wo das ei­gent­li­che Volk Ruhe und Ord­nung um je­den Preis ha­ben will und auch durch den stärks­ten Druck der re­vo­lu­tio­nären Min­der­heit nicht mehr zu be­we­gen ist, zu prin­zi­pi­el­len Fra­gen Stel­lung zu neh­men. Die­sen Zeit­punkt hin­aus­zu­schie­ben oder auf­zu­he­ben steht in nie­man­des Macht. Man ver­glei­che die in so­zia­lis­ti­schen Schrif­ten gern un­ter­schla­ge­nen Zif­fern der Wäh­ler­be­tei­li­gung bei den Ja­ko­bi­ne­r­ab­stim­mun­gen mit de­nen bei Ein­set­zung des Kon­suls Bo­na­par­te und man be­greift: selbst das fran­zö­si­sche Volk hat­te den re­vo­lu­tio­nären Zu­stand end­lich satt. Die Ge­duld des deut­schen Vol­kes wird schnel­ler zu Ende sein.

      Aber and­rer­seits: nicht nur die grund­sätz­li­chen An­hän­ger, auch die grund­sätz­li­chen Geg­ner je­des Um­stur­zes sind in Ge­fahr, sich zu ir­ren. Eine tie­fe, aber un­be­stimm­te Ent­täu­schung ist von dem Ent­schluss der Ver­zicht­leis­tung weit ent­fernt. Das Ge­fühl ei­ner ge­schei­ter­ten Er­he­bung, wie es heu­te in wei­ten Schich­ten be­steht, ist wie eine of­fe­ne Wun­de, die kei­ne Berüh­rung er­trägt. Was kei­ne An­stren­gung der Ra­di­ka­len mehr ver­mag, wür­de der ge­rings­te Ver­such der Ge­gen­grup­pe, die Re­vo­lu­ti­on ge­walt­sam zu be­en­den, so­fort her­bei­füh­ren: eine wil­de Er­bit­te­rung von an­ste­cken­der Kraft, die von ent­schlos­se­nen Füh­rern zu weit­tra­gen­den Hand­lun­gen aus­ge­nutzt wer­den kann. Der Gang der Er­eig­nis­se wür­de sich da­mit nicht dem Sin­ne und der Dau­er, aber der Form und Stär­ke nach ent­schei­dend än­dern. Er könn­te sehr blu­tig wer­den. Wir be­fin­den uns heu­te in der Mit­te der Be­we­gung mit je­ner un­er­gründ­li­chen Hal­tung der Mas­sen­see­le, die auch in den an­de­ren großen Re­vo­lu­tio­nen den klügs­ten Ken­nern jähe Über­ra­schun­gen be­rei­tet hat. Ver­birgt die ge­spann­te Ruhe einen un­ge­schwäch­ten Wil­len oder ver­rät der ge­reiz­te Lärm die Ah­nung des end­gül­ti­gen Mis­ser­folgs? Ist es für eine Ak­ti­on der An­hän­ger zu spät? Für eine Ak­ti­on der Geg­ner zu früh? Man weiß, dass Din­ge, die zu ei­ner ge­wis­sen Zeit nicht ein­mal be­rührt wer­den dür­fen, zwei Jah­re dar­auf von selbst fal­len. Das galt 1918, das wird im um­ge­kehr­ten Sin­ne aber auch in na­her Zu­kunft gel­ten. Die Höf­lin­ge von ges­tern sind die Kö­nigs­mör­der von heu­te und die Kö­nigs­mör­der von heu­te die Her­zö­ge von mor­gen. Nie­mand kann in sol­chen Zei­ten für die Dau­er sei­ner Über­zeu­gung ein­ste­hen.

      Aber mit wel­chen Zeiträu­men ist hier zu rech­nen? Sind es Mo­na­te oder Jah­re? Der Kreis­lauf der deut­schen Re­vo­lu­ti­on steht, nach­dem und wie sie ein­mal in Er­schei­nung ge­tre­ten ist, in Hin­sicht auf Tem­po und Dau­er fest. Mag nie­mand sie ken­nen, die­se Fak­to­ren sind trotz­dem vor­han­den in ih­rer schick­sal­haf­ten Be­stimmt­heit. Wer sich in ih­nen ver­greift, geht zu­grun­de. Die Gi­ron­dis­ten sind so zu­grun­de ge­gan­gen, weil sie den Gip­fel der Re­vo­lu­ti­on hin­ter sich, aber auch Ba­beuf, weil er ihn vor sich glaub­te. Auch das Ein­grei­fen neu­er Krie­ge, auch das Er­schei­nen ei­ner großen Per­sön­lich­keit wür­den nichts än­dern. Sie wür­den die wel­this­to­ri­sche Er­schei­nung plötz­lich und voll­kom­men um­wan­deln kön­nen – was für ge­wöhn­li­che Be­trach­ter ja al­ler­dings al­les be­deu­tet –, den tiefern Sinn der deut­schen Re­vo­lu­ti­on wür­den sie in sei­ner We­sen­heit nur be­stä­ti­gen. Ein großer Mann ist der­je­ni­ge, der den Geist sei­ner Zeit be­greift, in dem die­ser Geist le­ben­di­ge Ge­stalt ge­wor­den ist. Er kommt, nicht um ihn auf­zu­lö­sen, son­dern zu er­fül­len.

      Wo­her die­ser Geist des deut­schen So­zia­lis­mus stammt, soll nun ent­wi­ckelt wer­den.

Sozialismus als Lebensform

      Sechs­tau­send Jah­re hö­he­rer Men­schen­ge­schich­te lie­gen vor uns.

      Aus der Mas­se, die sich über den gan­zen Pla­ne­ten ver­brei­tet hat, son­dert sich, Ge­schich­te im tiefern Sin­ne, das Schau­spiel und Schick­sal der großen Kul­tu­ren ab. Sie lie­gen vor dem Auge des Be­trach­ters als For­men­wel­ten von gleich­ar­ti­gem Bau, mäch­ti­ges See­len­tum, das sicht­ba­re Ge­stalt ge­winnt, in­ners­tes Ge­heim­nis, das sich in le­ben­dig fort­schrei­ten­der Wirk­lich­keit aus­drückt.

      Ein un­ver­än­der­li­ches Ethos wirkt in ih­nen. Es prägt nicht nur je eine ganz be­stimm­te Art von Glau­ben, Den­ken, Füh­len, Tun, von Staat, Kunst und Le­bens­ord­nung, son­dern auch einen an­ti­ken, in­di­schen, chi­ne­si­schen, abend­län­di­schen Ty­pus »Mensch« von voll­kom­men eig­ner Hal­tung des Lei­bes und der See­le, ein­heit­lich in In­stinkt und Be­wusst­sein, Ras­se in geis­ti­gem Sin­ne, aus.

      Je­des die­ser Ge­bil­de ist in sich selbst vollen­det und un­ab­hän­gig. His­to­ri­sche Ein­wir­kun­gen, über de­ren dich­tem Ge­we­be die land­läu­fi­ge Ge­schichts­schrei­bung al­les an­de­re


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