Die Anti-Aging Revolution. Johannes Huber
mit dem, was es bekommt, sind wir auf der ständigen Suche nach den nächsten Kicks nicht mehr aufzuhalten. Wir sind süchtig. Nach allem. Besitz, Gefühl, Genuss. Das ist es, was die Welt belastet. Wir tragen das Zuviel am eigenen Leib mit uns herum und wollen trotzdem noch mehr.
Mit diesem Suchtverhalten erleben wir derzeit ein hedonistisches Zwischenspiel. Und das kann möglicherweise vorbei sein, bevor das Jahrhundert endet.
Nicht, weil wir es vielleicht nicht überleben würden, das auch. Vor allem aber, weil es sich nicht rechnet. Wir haben einen Wohlstand in Mitteleuropa, der jeden, unabhängig davon, was er arbeitet und wie viel er verdient, reich macht, und das ist der Sozialstaat. Das Sozialsystem ist der Reichtum im alten Europa. Und das ist nicht ewig haltbar. Wenn wir hier nicht umschichten, frisst sich das System selbst auf.
Das Zeitalter des Dopamins belohnt sich zu Tode. Das ständige Mehr ist ein übersattes Zuviel. Wir haben uns bereits in den drei zivilisationsdynamischen Leitsätzen des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk verheddert.
Erstens. Es werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind.
Zweitens. Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit in Recyclingprozessen resorbieren lassen.
Drittens. Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und Fairnessregeln domestiziert werden können.
Deshalb greife ich auf einen neuen Begriff zurück. Ein Stichwort, das ich für die einzig wirksame Waffe halte, mit der wir den Kampf gegen das Monstrum des Immer-noch-mehr-Wollens, der letztlich der Kampf gegen uns selbst ist, gewinnen können.
Ich propagiere das Dopamin-Fasten.
Wir sollten dem Dopamin die Flügel stutzen, die es uns so gern zu verleihen vorgibt. Wir sollten uns zusammennehmen. Wir sollten uns einschränken. Wir sollten endlich genug davon haben, nicht genug bekommen zu können.
Der Verzicht auf das, was wir unbedingt haben wollen, ist nur die halbe Sache. Die andere Hälfte ist die schwierigere: der Verzicht auf die Belohnung.
Insbesondere im Hinblick auf das Abnehmen wird es ohne Dopamin-Fasten nicht gehen. Das Überleben und die Reproduktion, die beiden heiligen Aufgaben der Natur, sind von der Nahrung abhängig und stark mit dem Belohnungshormon gekoppelt. Wie stark, sehen wir an den größten Verführern, die wir auf Schritt und Tritt im Alltag auf den Fersen und damit auf den Hüften haben: Salz, Zucker, Kohlenhydrate.
Sie sind Appetitverstärker und spielen in unserer Überflussgesellschaft teuflisch zusammen: Sie machen uns noch mehr Lust auf das, worauf wir ohnehin schon zu viel Appetit haben.
Dopamin-Fasten
Die Evolution hat das Dopamin erfunden, um Verhaltensweisen wie Essen, die der Erhaltung unserer Art dienen, mit Glücksgefühlen zu belohnen. Sie hat sich das ganz wunderbar ausgedacht, doch seit wir Menschen nicht mehr durch die Urwälder streifen und hoffen müssen, gemeinsam ein Tier zu erlegen oder Beeren, Nüsse oder Pilze zu finden, gibt es da ein Problem.
Ich habe das vergangene Weihnachten an mir selbst beobachtet. Ich esse so gut wie nie Süßigkeiten, doch eine Patientin schenkte mir Bonbons, und als ich nach den Feiertagen in die Ordination kam, nahm ich mir ausnahmsweise eins. Am nächsten Tag wollte ich wieder eins haben. Ein Bedürfnis, das ich so nicht kannte, und das zeigt, wie rasch unser Dopamin-Kreislauf neue Möglichkeiten, besser auf Touren zu kommen, nutzt.
Dieser Kreislauf kann dabei eine fatale Dynamik entwickeln. Denn je mehr Dopamin unser Gehirn ausschüttet, desto größer wird unser Bedürfnis danach. Dopamin regt also unser Verlangen nach noch mehr Dopamin an. Irgendwann drehen wir uns in einer Belohnungsspirale, die verschiedene Industriezweige konsequent nutzen: Die Lebensmittelindustrie, die Unterhaltungsindustrie, die Alkohol- und die Tabakindustrie, die Glücksspiel- oder die Sexindustrie. Wir sind stärker als jede Generation vor uns mit Dopamin überschwemmt und wir werden dabei leicht zu Dopamin-Sklaven, gesteuert von einem ursprünglich überlebenswichtigen evolutionären Mechanismus, den unsere Überflussgesellschaft pervertiert hat.
Dopamin-Fasten bedeutet, unsere körpereigene Produktion von Dopamin für eine bestimmte Zeit zu drosseln. Warum sollten wir das tun? Weil das eine Art Entgiftungs-Kur für unser Gehirn ist. Dopamin-Fasten reinigt unser Gehirn, lässt es zur Ruhe kommen, entspannt es, und macht es so bereit für neue Aufgaben. Ohne solche Pausen hängen wir in der Dopamin-Spirale nicht nur fest, sie dreht sich auch immer schneller und wir brauchen immer mehr Dopamin-Kicks, woher immer wir sie auch beziehen.
Wobei der Begriff Dopamin-Fasten die Sache eigentlich nur ungenau beschreibt. Denn schließlich nehmen wir Dopamin nicht zu uns und können daher auch nicht im eigentlichen Sinn darauf verzichten. Wir können nur die Reize reduzieren, die es in unserem Körper ausschüttet. Es geht beim Dopamin-Fasten also vor allem darum, entweder für eine bestimmte Anzahl von Tagen in der Woche oder für eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Tag Verhaltensweisen beziehungsweise Konsumgewohnheiten einzustellen, die wir für uns als problematisch erkannt haben.
Es geht dabei nicht nur um Essen, sondern um alle Dopaminquellen, insbesondere um jene, denen wir besonders willenlos ausgeliefert sind und die uns am ehesten unserer Selbstkontrolle berauben. Das kann neben Essen etwa auch Sex sein, Alkohol, Spielen, Chatten, Einkaufen … also alles, das uns am Ende auch süchtig machen kann. Auf diese Dinge zu verzichten, ist schwer, keine Frage.
Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die die Suchtmediziner am Wiener Anton-Proksch-Institut ihren Patienten erzählen. Sie behandeln an dieser größten europäischen Suchtklinik neben Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit auch sogenannte nicht stoffgebundene Abhängigkeiten wie Spielsucht, Chatsucht, Internetsucht oder Kaufsucht. Die Geschichte, die ich meine, handelt von Odysseus und den Sirenen.
Sirenen sind in der griechischen Mythologie Vögel mit Frauenköpfen, die mit ihrem bezaubernden Gesang vorübersegelnde Seeleute auf die Insel lockten, um sie dort zu töten. Odysseus kannte diese Gefahr. Als er sich mit seinem Schiff der Insel näherte, verstopfte sich deshalb seine Mannschaft die Ohren mit Wachs, während er selbst sich an einen Mast binden ließ.
Als er die wunderschönen Stimmen der Sirenen hörte, wurde er fast verrückt vor Sehnsucht und befahl seinen Leuten, ihn loszubinden. Die konnten ihn wegen ihrer verstopften Ohren aber zum Glück nicht hören, weshalb Odysseus unbeschadet an den Sirenen vorübersegelte, während ihr Gesang in der Ferne verklang. Er selbst und seine Männer waren gerettet.
Dopamin-Fasten heißt, sich selbst an den Mast zu binden und zu akzeptieren, dass einige Tage der ungestillten Begierden, des Unwohlseins und der Leere vor einem liegen, aber auch zu vertrauen, dass dieser Druck mit der Zeit nachlässt.
In Europa ist der Begriff Dopamin-Fasten noch neu, doch in den USA hat er sich bereits im Bewusstsein bestimmter Kreise etabliert. Vor allem die Macher des Silicon Valley, die alles geben, um die Welt in ihrem digitalen Sinne voranzutreiben und für die Selbstoptimierung deshalb eine besonders hohe Bedeutung hat, schwören darauf. Sie betreiben das Dopamin-Fasten bis hin zum völligen Reizentzug.
»In Onlineforen oder auf YouTube-Videos ist Dopamin-Fasten schon seit Monaten ein Thema, doch erst seit ein paar Wochen macht der Begriff die Runde durch amerikanische Medien als neue Entdeckung ehrgeiziger Start-up-Gründer und Tech-Unternehmer auf Selbstoptimierungsmission«, berichtete die Tageszeitung Die Welt im November 2019. Mit anderen Worten: Die technischen und wirtschaftlichen Vordenker unserer Zivilisation haben bereits erkannt, wie sehr sie davon profitieren, wenn sie ihre ständige Dopamin-Jagd beenden.
Die Welt-Redakteurin Silvia Ihring in ihrem Artikel weiter: »Das Problem, das die Idee von Dopamin-Fasten so populär macht: Im modernen Alltag läuft die Dopaminmaschine quasi auf Hochtouren. Man scrollt sich minutenlang durch Instagram, wird von E-Mail- und Newsalerts abgelenkt, snackt sich durch die Langweile und ballert den Kopf mit Musik, Podcasts oder Serien zu. Leere Minuten gibt es kaum noch und der Mensch verliert sich in der Dopaminjagd, gewöhnt sich ungesunde Verhaltensweisen