Einsame Klasse. Felix Lill

Einsame Klasse - Felix Lill


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desselben Menschen aussahen. Adrett, zurückhaltend, solide. Sie Reiterin und Angestellte, er Jurastudent in den letzten Semestern und Bierliebhaber. Beide waren das Gegenteil sozialer Problemfälle.

      Lena stand auf, um Anna anzurufen. Als sie zurückkam, blieb sie vor mir stehen und erzählte mir in aller Kürze, was vorgefallen war. »Anna ist sich nicht mehr sicher, ob sie das Ganze noch will. Die haben es so lange zusammen versucht, aber sie meint, sie will jetzt mal Single bleiben und andere Dinge sehen.«

      Ohne Anna sonderlich gut zu kennen, meinte ich, sie zu verstehen, was immer diese anderen Dinge sein mochten, die sie noch sehen wollte. Mein Verständnis dafür auszusprechen, wäre allerdings nicht opportun gewesen. Lena verdarben solche Nachrichten schnell die Stimmung auch für die kleinsten Scherze, mit denen ich mich dann gerne aufheiterte. Und verunsichern wollte ich sie jetzt auf keinen Fall.

      »Jan klammert halt zu sehr an ihr«, fuhr Lena fort. »Er hat sich richtig für sie geändert und geht kaum noch aus. Sie will ihn nicht immer im Schlepptau haben, sondern mehr Zeit für sich.«

      Jan und Anna waren zwar ähnliche Typen, das war mir bei unserer Handvoll Begegnungen in Köln, wo Lena aufgewachsen war, sofort aufgefallen. Offensichtlich waren sie aber nicht in der Lage, sich ausreichend auf die Bedürfnisse des Anderen einzulassen.

      »Das ist so traurig. Wenn schon die beiden es nicht schaffen«, sagte Lena und schaute auf die Anzeigetafel mit den Abflugzeiten. »Sie liebt ihn und er liebt sie.« Da mir nicht gleich etwas dazu einfiel, füllte Lena auch den nächsten wortlosen Moment: »Glaubst du, Tokio wird uns auseinandertreiben?«

      Da war es. Sie war verunsichert. Ich schüttelte den Kopf und wollte sie umarmen.

      Sie jedoch wich zurück. »Du nimmst mich nicht ernst.«

      »Stimmt«, grinste ich, packte sie mit einer schnellen Bewegung und zog sie auf den Sitz neben mich.

      Nun ließ sie es doch zu, dass ich den Arm um sie legte, kuschelte ihren Kopf an meine Schulter. Das Handy mit der Nachricht von Anna hielt sie allerdings von sich gestreckt, als wäre Trennung eine ansteckende Krankheit. In die Leere vor uns flüsterte sie, als spräche sie einen letzten Wunsch aus: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.«

      Noch zwei Stunden, bis wir weiter fliegen würden nach Tokio, zu unserem neuen Wohnort. Beide kannten wir die Stadt noch nicht. Das Ganze hatte sich eher durch Zufall ergeben. Das zweite und letzte Jahr eines Politikstudiums, das ich zuvor für meinen Job in London auf Eis gelegt hatte, konnte ich dort verbringen. Und weil einige der deutschen, österreichischen und schweizerischen Zeitungen, für die ich aus Großbritannien berichtet hatte, eineinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 keinen Japan-Korrespondenten vor Ort hatten, ergab sich für mich eine einmalige Chance, Arbeiten und Studieren zu kombinieren. Lena hatte in London ein soziologisches Studium abgeschlossen, ihre nächste Station kannte sie noch nicht, also kam sie mit. Vielleicht war der Ort ohnehin nicht so entscheidend, weil wir beide füreinander die Endstation waren, egal wo.

      Lena war das, was Psychoanalytiker und Philosophen wie Slavoj Žižek und Alain Badiou ein revolutionäres Element nennen. Vielleicht erlebt jeder so eine Revolution. Diese Begegnung, die ein Leben verändert, einen Menschen aus seinem Alltag reißt und seine ganze vorige Biographie nur noch im Lichte dieser neuen Situation erklärbar werden lässt, als hätte sich alles nur auf dieses eine Ereignis hin entwickelt. Unausweichlich. So war es. Seit ich Lena kennengelernt hatte, war sie mir nie wieder aus dem Sinn gegangen, auch wenn ich sie vergessen wollte. Bei jedem größeren Problem und vielen kleineren war sie zu einem Teil der Gleichung geworden, den ich nicht rauskürzen konnte. Wo verbringe ich mein Leben? Wie mein Wochenende? Wie lasse ich mir die Haare schneiden? Nur ihretwegen probierte ich keine Kahlrasur. Dann sähe ich aggressiv aus, vielleicht wie ein Schlägertyp, fand sie, und wenn ihr das nicht gefiel, dann wollte ich das auch nicht. Lenas Meinung, obwohl diese sich, wie sie selbst zugab, oft mit Launen vermischte, zählte immer.

      Auch für Tokio hatten wir uns gemeinsam entschieden. Für eine Stadt, über die wir beide fast nichts wussten. Uns stand ein Abenteuer bevor, dessen Fortgang auf allen Ebenen ungewiss war. Lenas Praktikum war unbezahlt, so musste ich zu meinem Stipendium, das ich für das Studium erhielt, noch möglichst gut dazuverdienen, damit wir in so einer teuren Stadt nicht finanziell auf Grund laufen würden. Lena hatte Rückhalt bei ihren Eltern, aber die wollte sie auf keinen Fall anpumpen. Ich wusste nicht, wie groß die Nachfrage nach meinen Storys sein würde, aus einem so weit entfernten Land wie Japan. Die andere Frage, die wir uns beide schon länger stellten, war die nach uns. Als Paar hatten wir schon einiges überstanden. Kennengelernt hatten wir uns beim Studium in Wien, eine schwere Geburt. Mir gefiel Lena vom ersten Abend an, als wir einander auf der Party einer gemeinsamen Bekannten vorgestellt wurden, aber die Zuneigung war einseitig. Unsere Dates von da an verstand sie als irgendwas zwischen zaghaftem Flirt und oberflächlicher Freundschaft, während ich mir mit jedem Mal größere Hoffnungen machte. Als ich sie endgültig aufgegeben hatte, sie mich vor der Uni mit meiner neuen Freundin sah, konnte Lena den Anblick plötzlich nicht akzeptieren und schrieb mir zum ersten Mal aus eigenen Stücken eine Nachricht. Noch einige Wochen dauerte es, vielleicht Monate, bis wir uns wirklich näherkamen, und noch ein bisschen länger, ehe es Lena nicht mehr peinlich war, dass auch die Leute um uns herum davon wussten. Als wir das kleine Beziehungs-Einmaleins durchhatten, schloss ich mein Studium ab und eine schon länger angedachte journalistische Weltreise stand an. Während dieses einjährigen Experiments hatte ich nicht nur das Glück, dabei nicht pleitezugehen, sondern auch, dass Lena das alles mitmachte. Trotzdem kam es zunächst zur Trennung. Nach meiner Rückkehr ein Jahr später suchte ich allerdings jeden nur möglichen Weg, um ihr nach London zu folgen, denn dort war sie mittlerweile für ihr Masterstudium. So wurden wir wieder ein Paar, um viele Erfahrungen reicher, und blickten zusammengeschweißt Richtung Zukunft. Aus der wurde nun Tokio, erst mal für ein Jahr, dann würden wir weitersehen.

      Was für ein Leben. Oft schwärmten wir über unser Glück. Für mich war die Welt nicht genug. Seit meinem Abi in Hamburg wollte ich alles sehen, kennenlernen, ausprobieren. Als Lena und ich uns die Welt zu zweit vornehmen konnten, wurde alles noch aufregender. Sie war ein neugieriger Typ. Allerdings beobachtete ich mit Sorge, dass der Reiz am Neuen in ihr allmählich nachließ. »Ich würde mir wünschen, dass wir ein langweiliges Leben führen«, hatte sie mir mittlerweile ein paar Mal gestanden. Ich begriff nicht, wie jemand so etwas sagen konnte. Sie erklärte es mir mit viel Geduld. Langweilig sei gar nicht schlimm: ein gemeinsamer Freundeskreis mit gegenseitigen Einladungen am Wochenende, ein Leben mit Festanstellungen und regelmäßigen Abläufen, gemeinsame Pläne. Das Wort »Fünfjahresplan« fiel in dem Zusammenhang. Für mich klang das wie Industriepolitik in der DDR. Mit solchen Vokabeln konnte Lena eigentlich auf keinen unpassenderen Typen treffen als mich: Freiberufler mit Hummeln im Hintern und, wie meine Freunde spotteten, einer ideologisch aufgeladenen Anti-Haltung gegenüber langfristigem Denken. Sie wollte Stabilität. Für mich war auch Mobilität eine Art von Beständigkeit, zumal mein Bekenntnis zur ihr, zu uns, von aller Beweglichkeit unberührt blieb. Vom Sesshaftwerden wollte ich nichts hören, jedenfalls noch nicht. Aber wenn Lena sprach, hörte ich zu. Nicht, weil mir der Gedanke an das langweilige Leben auch nur ein kleines bisschen interessant erschien, sondern weil er aus ihrem Mund kam. Wenn sie schnell sprach und sich ihre Stimme überschlug, schaute ich einfach auf ihre Lippen und erfreute mich an diesem Bild. Bei solchen Gelegenheiten wippten ihre Locken und sie fächerte aufgeregt mit den Nasenflügeln. Weil mich ihre Mimik von Anfang an beeindruckt hatte, erschienen bei solchen Gelegenheiten vor meinem inneren Auge Bilder von Dingen, die wir gemeinsam erlebt hatten, von denen nichts langweilig gewesen war. Oft stimmte ich ihr in Diskussionen zu, weil ich irgendwie machtlos war, wenn ich sie nur ansah.

      Dass Lena sich Sorgen machte, ehrte und nervte mich gleichermaßen. Auch ich machte mir hier und da solche Gedanken, mir gelang es nur besser als ihr, sie beiseitezuschieben. Lena aber rief sie hartnäckig in Erinnerung. Und da waren wir jetzt wieder, zwischen Handgepäck für den Aufbruch und Hiobsbotschaften aus der Heimat. »Ich hab Angst, dass wir uns auch auseinanderleben, Felix. Nach so langer Zeit kann das doch jedem passieren.«

      Unsere Beziehung hatte sich über Jahre entwickelt, so weit, dass wir nun gemeinsam ins Unbekannte zogen. Welcher Beweis, dass wir zusammengehörten, konnte deutlicher sein?


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