Einsame Klasse. Felix Lill

Einsame Klasse - Felix Lill


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gemeinsam Pläne machen, für meine Partnerin Liebhaber sein und gleichzeitig der beste Freund. Gerecht wurde ich diesem Anspruch leider nie, nicht in meiner Abizeit und auch nicht zu Anfang des Studiums. Meistens verließen meine Freundinnen mich, umgekehrt war es selten. Ihre Urteile schwankten zwischen unzuverlässig, wenn ich zu häufig Verabredungen absagte, und unberechenbar, wenn ich Gesprächen über die Zukunft auswich. Aus ihrer Sicht hatten sie natürlich alle recht mit ihrer Kritik. Entweder mich interessierten Sport, Bücher und andere Dinge, für die man keinen Partner braucht, ein bisschen zu sehr, oder schon der Gedanke, mich für immer dieser einen Person hinzugeben, verpasste meinem Magen ein unerträgliches Schwächegefühl, das nur durch das Ausbrechen aus dieser Enge heilbar schien. Aber um selber Schluss zu machen, dafür fehlte mir mal Mut, mal Tatendrang.

      Aus irgendeinem Grund hatte Lena mich toleriert und ich war auch viel weniger unzuverlässig und unberechenbar gewesen als sonst, nur genügte das am Ende nicht mehr, denn wir wollten ja immer weiter. Die Liebe toleriert keinen Stillstand, sie will immer voller Erwartungen in eine rosige Zukunft deuten. »Ich rede ja nicht von Heiraten und Kinderkriegen, aber …«, so hatten viele Sätze begonnen, häufiger waren es ihre Sätze gewesen aber auch ich hatte so gesprochen. Für Lena bedeutete der Umzug hierher weniger ihr bedingungsloses Bekenntnis zu uns als vielmehr eine letzte Prüfung meiner Beziehungswürdigkeit. Durchgefallen. Nein, nein, kein Egoist, hatte sie mir versichert. Aber vielleicht »für eine normale Beziehung« doch nicht geschaffen? Das waren keine wohltuenden Worte gewesen. Keine meiner Beziehungen war so normal gewesen wie die mit Lena. Und vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: Lass uns heiraten. Das wäre die Art von konkreter Bindung gewesen, die sie sich gewünscht hatte, vielleicht nicht die Ehe selbst, aber irgendein institutionalisiertes Versprechen, an dem man sich besser hätte orientieren können. Tragisch erschien mir dieser Konflikt mit ein bisschen Abstand, da es irgendwie keiner gewesen war, wir beide wollten doch miteinander sein. Ich hatte nicht das Richtige gesagt, weil ich ehrlich sein wollte. Eine Notlüge hätte alles gerettet. Aber es wäre mehr als eine Notlüge gewesen. Ich wollte die institutionalisierte Bindung, was auch immer für ein Fünfjahresplan das wäre, nicht, oder noch nicht. Zunächst wollte ich die Freiheit weiterleben, wobei Lena in dieser Vision von Freiheit immer einen festen Platz hatte. Nach der Trennung wollte ich sie oft anrufen, ihr alles nochmal erklären, aber wir hatten abgemacht, dass wir das nicht tun würden.

      Und nun, da ich mich in meinem neuen, fremden Umfeld so umsah, fand ich so etwas wie zaghaften Trost. Denn mir kam vor, dass es Viele gab von meiner Sorte.

      Einerseits hätte ich mich nicht wundern dürfen. Weltweit berichteten Zeitungen, Magazine und TV-Dokus seit Jahren davon, fast immer im selben Ton: Tokio, die Stadt der Singles. In der größten Stadt der Welt, mit einer Bevölkerung so groß wie der von ganz Kanada, seien Menschen zunehmend »einsam in der Masse.« (Wall Street Journal) Denn »die Japaner« seien draufgekommen, »Beziehungen seien ihnen zu umständlich.« (Süddeutsche Zeitung) Das ganze Land erlebe gerade »eine neue Eiszeit.« (Die Zeit) Im Herbst 2011 lieferte das Nationale Institut für Bevölkerungsforschung wieder Zahlenmaterial für solche Diagnosen. 61 Prozent der unverheirateten Männer und 49 Prozent der unverheirateten Frauen zwischen 18 und 34 Jahren sind in keiner Liebesbeziehung. Fast die Hälfte von ihnen will auch gar keine. Fast 40 Prozent aller Ledigen sind in diesem Alter Jungfrau, mit steigender Tendenz. Auch der Anteil der Unverheirateten nimmt zu, das zeigten Umfragen des Kondomherstellers Sagami vom Januar 2013. Ein Drittel der Männer in ihren Dreißigern und ein Viertel der Frauen sind unverheiratet. Unter 30 Jahren sind es sogar fast 80 Prozent der Männer und über 50 Prozent der Frauen.

      Das Bild der Eiszeit begegnete mir noch anderswo. Charlotte, eine frischgebackene Collegeabgängerin, die ihren ebenfalls jungen Ehemann, einen Fotografen, für eine Woche nach Tokio begleitet, erlebt die Stadt in voller Kälte. In Sofia Coppolas Film »Lost in Translation«, den ich an einem Wochenende morgens im Bett ansah, spielt Scarlett Johansson Charlotte, eine Person, die verloren ist. Verloren vor Fragen über die Beziehung zu ihrem Freund, in dessen geschäftigem Leben sie sich wie bloße Dekoration fühlt. »Everyone wants to be found«, jeder will gefunden werden, prangt unterm Titel der englischen Originalversion dieses Films, der für sein Drehbuch einen Oscar gewann und als Meisterwerk gilt. Der Kulturschock, den Charlotte in dieser dicht bevölkerten Stadt erleidet, drückt sich deshalb nicht wie für viele andere Reisende in den grellen Lichtern im Techviertel Akihabara aus, oder in den leuchtend gekleideten Mädchen mit rosa Zöpfen in Harajuku, sondern im scheinbar absurden Kontrast, den Charlotte zwischen dieser visuellen Aufdringlichkeit und einer sozialen Distanz erlebt. In Tokio findet Charlotte sich selbst nicht, und während dieser einen Woche in der Stadt merkt sie, dass ihr Partner sie auch nicht findet. Charlotte ist unverstanden, aber mitten drin, erlebt das Getümmel und die klaustrophob vollen U-Bahnen. Zwischen ihr und den Anderen, ihrem Mann und den Tokiotern, deren Gestik und Worte sie einfach nicht versteht, scheint eine unüberwindbare Glasscheibe zu stehen, durch die sie zwar alles von dieser Gesellschaft sehen, aber fast nichts von ihr fühlen, mit jemandem gemeinsam fühlen kann. Für Charlotte ist Tokios Sound getragen von der Monotonie warnender Elektrostimmen auf Rolltreppen und dem Piepsen von Jingles in den Shoppingvierteln, aber auch einer plötzlichen und scheinbar seelenlosen Stille der Wohnblocks. Fast nichts am Leben in dieser Stadt ergibt Sinn. Soweit das Drehbuch. Noch weniger Sinn scheint zu ergeben, dass im größten Ballungsraum der Welt, zwischen eng an eng lebenden Menschen, das Alleinsein auch in Wirklichkeit ein großes Problem sein soll. Nur, wie zutreffend ist so eine Diagnose?

      Lost in Translation war deshalb ein so beeindruckender Film, weil er ein Gefühl anspricht, das jeder kennt, fast jedem Angst bereitet und für dessen Vermeidung jeder seine eigene Strategie hat. Jeder kennt Einsamkeit. Manche stürzen sich nach einer verflossenen Liebschaft möglichst bald in die nächste, andere tun alles dafür, damit die Brüche einer Beziehung bloß nicht erst zu bedrohlich werden, wieder andere üben sich in Enthaltsamkeit, damit beim nächsten Mal alles noch besonderer und wirklicher wird. In Japan, wo die fremde Charlotte aus Lost in Translation mit ihren Sorgen allein ist, schien bei genauerem Hinsehen ein vierter Typ des Alleinseins besonders häufig zu sein. Menschen, die sich mit der Welt abfinden, so wie sie ist. Die der Liebe nicht hinterherrennen, die auf Entzug leben, oder vielleicht gar nichts mehr davon brauchen. Wahrscheinlich lebten so die Gäste in der Bar Nocturne, die allein kamen, dort allein ihre Zeit verbrachten und allein davongingen. Aber das schien mir unglaublich. Leben wir am Ende nicht alle für die Liebe? Gab es diese Typen wirklich? Die Traurigkeit der westlichen Protagonistin aus Lost in Translation konnte ich im Film gut nachvollziehen. Sie hatte niemanden zum Reden, zum Kuscheln, zum Sich-Ausheulen. Aber im nicht-fiktiven Tokio kam mir die Einsamkeit, wie ich sie in der Bar Nocturne erlebt und beim Joggen beobachtet hatte, auch wie ein Für-sich-Sein vor, eine harmonische Art des Alleinseins.

      Als Kind habe ich gelernt, dass Alleinsein nichts Gutes sein kann. Ein Zeichen von Scheitern. Mir hat das niemand ausdrücklich erklärt. Das war aber auch nicht nötig. Kinderbücher machten das deutlich, TV-Berichte und Filme zeigten es immer wieder. Wer allein eine Kneipe besucht, ist ein Trunkenbold, wer im Alter keine Kinder hat, konnte wohl niemanden von sich überzeugen, und wer Single ist, kann entweder nicht mit Menschen umgehen oder ist zu feige für echte Intimität. Wo immer ich in den vergangenen Jahren dauerhaft lebte, ob in Wien, London oder Berlin, war diese Botschaft zwischen den Zeilen zu lesen und in der Luft zu hören. Wer dieses Maß an Japan anlegt, kann in dieser Zeit nicht bloß gescheiterte kleine Revolutionen beobachten, wie es zwischen Lena und mir geschah, als unsere Träume von Ewigkeit verpufften. Hier lässt sich mehr als das beobachten. Japan erlebt eine gesamtgesellschaftliche Revolution des Scheiterns.

      Ich gehörte also dazu. Zu diesen einsamen Hunden, wie sie hier manchmal genannt werden, die durch die Stadt streunen und vielleicht gar nicht wissen, wonach sie suchen. Ich wusste es tatsächlich nicht, soviel war mir klar. Immerhin redete ich mir ein, dass ich ja eigentlich schon lange ein kompromissloses Leben hatte führen wollen, auch wenn ich Lena jeden Tag vermisste. Vielleicht ähnelte ich jenen Leuten in diesem Land, für die Beziehungen anscheinend zu umständlich waren. Wir hatten uns nicht auseinandergelebt, im Gegenteil, aber unsere Vorstellungen vom Leben waren so lange immer wieder aneinandergeprallt, bis wir durch große Dellen entstellt waren. Das typische Problem, das ich aus meinen verschiedenen Freundeskreisen schon kannte, und von dem ich auch schon in soziologischen Studien gelesen hatte. Im Wesentlichen ist es ein Koordinationsproblem, das sich


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