Die Flüchtlinge sind da!. Armin Himmelrath

Die Flüchtlinge sind da! - Armin Himmelrath


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als einheimische, auch der Bildungsstand der Eltern ist geringer.

      Volle Klassen, zu wenig Personal: In vielen Grundschulen ist die Klassenobergrenze von 29 Kindern erreicht. »Zu volle Klassen gefährden den Bildungsauftrag der Grundschulen und führen angesichts der großen Herausforderung der inklusiven Beschulung von Kindern mit und ohne Handicap und zugewanderten Kindern zu weniger anstatt mehr Bildungsgerechtigkeit«, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) Nordrhein-Westfalen (VBE Nordrhein-Westfalen 2016). Grundschulen hätten den Auftrag, alle schulpflichtigen Kinder eines Jahrgangs aufzunehmen und sie dem Grad ihrer individuellen Entwicklung entsprechend zu fördern. In manchen Bezirken von Berlin werden aber beispielsweise immer wieder Flüchtlingskinder abgelehnt, weil es nicht genügend Plätze in den überfüllten Willkommensklassen gibt. »Der Verteilungszufall entscheidet über den Bildungserfolg«, sagt Tobias Klaus von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, denn das Grundrecht auf Schulbesuch wird in jedem Bundesland unterschiedlich ausgelegt (Reiter 2015).

      Darüber hinaus müssen Lehrerinnen und Lehrer in Willkommensklassen ihre Unterrichtsmaterialien immer noch mühsam zusammensuchen – geeignete Schulbücher, die Altersstruktur, ethnische Herkunft und die unterschiedlichen Sprachstände abbilden, gibt es bislang kaum.

      Auch das Personal in den Schulen ist knapp: Fast 1000 der 3000 Grundschulen in Nord­rhein-Westfalen haben laut Landesregierung keinen Sonderpädagogen an­gestellt, sollen aber sonderpädagogisch präventiv besonders fördern (VBE Nordrhein-­Westfalen 2016). Bundesweit kommt rein rechnerisch lediglich ein Schulpsychologe zurzeit auf 8600 Kinder (Podium der Körber-Stiftung 2015).

      Die Erhebungen zum Bildungsstand Zugewanderter sind ernüchternd. »Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Mehrheit der jungen Flüchtlinge an einer drei Jahre langen Vollausbildung mit hohem Theorieanteil scheitern würde. Laut Handelskammer München und Oberbayern haben 70 Prozent der Auszubildenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, die vor zwei Jahren eine Lehre begonnen haben, diese bereits wieder abgebrochen. Darum müssen wir ihnen andere Angebote machen; ihnen mehr Ausbildungsbegleiter an die Seite stellen; über teilqualifizierende Ausbildungen nachdenken, die stärker die praktischen Fähigkeiten betonen und die theoretischen Grundlagen begrenzen. Es gibt schon solche Berufe, etwa den Krankenpflegehelfer. Ähnliches muss auch in anderen Branchen möglich sein, bei Maurern zum Beispiel. Wir brauchen mehr einjährige Qualifikationen – mit der Möglichkeit, diese später in eine Vollausbildung auszuweiten«, sagt Bildungsökonom Ludger Wößmann (Wiarda 2015). Die Integration ist eine große Herausforderung, aber nicht nur für die Aufnahmegesellschaft, sondern auch für die Flüchtlinge selbst. Viele sind motiviert, berichten Pädagoginnen und Pädagogen. »Wie polnische, syrische, kurdische und albanische Kinder mit Feuereifer gemeinsam Deutsch lernen, hat mich tief beeindruckt«, sagt auch die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Marlies Tepe, nach einer Rundreise durch Deutschlands Willkommensklassen. Laut OECD sind Einwanderer der ersten Generation wegen des mit der Einwanderung verbundenen Optimismus grundsätzlich zur Integration motiviert. Es wird jedoch auch immer wieder von Schülerinnen und Schülern berichtet, die anstreben, sich in das soziale Sicherungsnetz Deutschlands fallen zu lassen.

      Als in den 1960er Jahren überwiegend italienische Gastarbeiter in die Bundesrepublik und vietnamesische Gastarbeiter in die DDR kamen, ging die Politik davon aus, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren würden. Es kam anders: Drei Millionen Migrantinnen und Migranten blieben in Deutschland – und holten ihre Familien nach. Statt konzeptorientierter Integrationspolitik gab es jahrzehntelang vorwiegend sogenannte Ausländerpolitik, die kaum mehr war als Arbeitsmarktpolitik, angewendet auf Ausländer. Die Versäumnisse in der Integration bestanden auf beiden Seiten – die Aufnahmegesellschaft ignorierte die neuen Mitbürginnen und Mitbürger, die Arbeitswanderer ignorierten in vielen Fällen die Aufnahmegesellschaft (vgl. Bade 2007). Das sollten wir alle nun besser machen und den Wandel aktiv gestalten.

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       Ein Dienstagmorgen in der Georg-Klingenberg-Schule in Berlin-Biesdorf, einer Inte­grierten Sekundarschule (ISS), die als Schulform in Berlin seit 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammenführt.

       Normalen Unterricht gibt es diese Woche in der Klingenberg-Schule nicht, denn die Schülerinnen und Schüler arbeiten im Rahmen der Projektwoche in besonderen Arbeitsgruppen. In Raum 404 haben sie sich zum Projekt »Flucht und Vertreibung« versammelt und begrüßen als Gäste unter anderem Ahmed, 19 Jahre alt, aus Syrien, und Othman, 28 und aus dem Irak. »Wir haben an unserer Schule keine eigene Flüchtlingsklasse und auch kaum Kinder mit Migrationshintergrund«, sagt Monika Kassner, Referendarin an der ISS und eine der Betreuerinnen des Projekts. In der Fachkonferenz Ethik hatte sie zusammen mit ihren Kolleginnen Caroline Gruhne und Anja Pribbenow überlegt, wie sich der Projektwochenschwerpunkt »Buntes Berlin« mit dem aktuellen Flüchtlingsthema in Verbindung bringen lässt. Und auch, wie man Schülerinnen und Schülern vermitteln kann, dass es Flucht und Wanderungsbewegungen in der Geschichte eigentlich schon immer gab und sie deshalb als Phänomen nicht neu, sondern völlig normal sind.

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      Bild rechts: Joshua Kriesmann, Helen Schmitz und Paula Fredrich von »Schüler Treffen Flüchtlinge e. V.«

       So sind an diesem Morgen mehrere ältere Berlinerinnen und Berliner dabei, die als Zeitzeugen von den Flüchtlingsströmen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs berichten können – und eben Ahmed und Othman, die beide erst seit einigen Monaten in Deutschland leben. Den Kontakt zu den beiden Flüchtlingen hat der gemeinnützige Verein »Schüler Treffen Flüchtlinge e. V.« hergestellt, der von Lernenden des europäischen Gymnasiums Bertha-von-Suttner in Berlin-Reinickendorf gegründet wurde. Helen Schmitz und Paula Fredrich, beide 16 Jahre alt, sind in diesem Verein aktiv und begleiten Ahmed und Othman heute. In kleinen Tischgruppen sitzen sie jeweils mit einigen der Acht- und Neuntklässler von der ISS zusammen und helfen, die erste Scheu beim Kontakt zu den jungen Männern aus Syrien und dem Irak zu überwinden. Die Schülerinnen und Schüler haben sich Fragen aufgeschrieben.

       »Mit wem sind Sie geflohen?«, wollen sie von Ahmed wissen. »Wie war die Flucht? Haben Sie einen Schaden davongetragen? Hatten Sie Essen und Trinken dabei?« Der 19-jährige Syrer überlegt kurz, bevor er antwortet. Er sei mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen, berichtet er. Und es gebe viele, sehr viele schlechte Erinnerungen, die ihn immer wieder bedrücken. Der Hunger und die Frage der Versorgung sei da eher das kleinere Problem gewesen. Andererseits habe er seit seiner Ankunft in Deutschland keine Benachteiligung erlebt und sei sehr dankbar, dass er jetzt in Sicherheit sei.

       »Viele Schüler haben hier schon ganz bestimmte Vorurteile Flüchtlingen gegenüber“, erzählt eine Lehrerin unterdessen. Diese drehen sich um die Belästigung von Frauen und den Diebstahl von Handys, und genau an diesem Punkt will die Projektwoche ansetzen, um bisherige Denkgrenzen aufzusprengen. In den Gesprächsrunden kann man sehen, dass das Konzept aufgeht: Nachdem die anfängliche Zurückhaltung überwunden ist, kommt schnell ein Gespräch zustande, bei dem die ISS-Lernenden sich voller Stolz bemühen, bei Verständnisproblemen auf Englisch weiterzufragen.

       Am Tisch nebenan erzählt Othman von seiner Flucht vor der Terrormiliz »Islamischer Staat« aus dem Irak. Sein Leben geriet in Gefahr, weil er den Familiennamen Mohammed trägt – und damit in den Augen der Fundamentalisten Gotteslästerung begeht. Seit dem 3. Oktober 2015 ist Othman in Deutschland, »um ein neues Leben zu beginnen und alles Schlimme hinter mir zu lassen«. Schnell wird klar: Für die Schülerinnen und Schüler der Projektgruppe ist dies eine willkommene Gelegenheit, das Thema Flucht und Vertreibung ganz genau zu hinterfragen und einen eigenen Zugang zu Betroffenen zu finden.


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