Noch ein Mord, Mylord. Ralf Kramp

Noch ein Mord, Mylord - Ralf Kramp


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sind ja nicht gerade wählerisch.«

      Dann machten sich Anselm und seine Assistentin ans Werk und begannen, meinen Freund minutiös zu vermessen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Es gab durchaus spannendere Darbietungen.

      Maßbänder wurden um die Unterschenkel und Oberarme geschlungen, Zahlen wurden notiert, mit einem großen Feldzirkel wurden die Abstände zwischen Scheitel und Kinn, zwischen den Mundwinkeln und den Pupillen erfasst.

      Irgendwann kam eine andere junge Frau im Kittel und rief Cathy zur Tür. Dann tuschelten sie miteinander, und Cathy verließ wortlos den Raum, ohne sich zu uns umzusehen.

      »Ich übernehme für einen Moment«, sagte die Frau zu Mr Anselm gewandt und lächelte uns freundlich zu.

      »Kommen etwa alle Aspiranten persönlich hierher, um sich vermessen zu lassen?«, fragte ich.

      »Nein, eher wenige«, sagte Anselm beiläufig und kritzelte sehr konzentriert etwas auf seinen Block.

      Ich tippte auf eine herumliegende Zeitung. »Was ist mit Marilyn Monroe?«

      »Oh ja, ist in Vorbereitung. Kommt aber auch nicht persönlich. Wir mussten zu ihr. Wie gesagt, die Wenigsten besuchen uns hier. Umso schöner, dass Lord Merridew uns die außerordentliche Ehre zuteilwerden lässt.«

      Während die Assistentin mit einer Schieblehre Merridews Ohren vermaß, begann Anselm Detailskizzen des Kopfes anzufertigen.

      Mit meiner Teetasse schlenderte ich an den Regalen entlang und musterte die Gliedmaßen und Köpfe. Einige kamen mir bekannt vor. Mit anderen konnte ich nichts anfangen. Die starren Blicke der Glasaugen waren mir unheimlich. Schließlich gelangte ich zur breiten Fensterfront und blickte in den Hof hinunter.

      Dort unten sah ich Cathy Markham, die die Hände tief in den Taschen ihres weißen Kittels vergraben hatte und mit gesenktem Kopf den Hof überquerte.

      Zwischen den geparkten Autos trat in diesem Moment ein Mann in einem dunkelblau karierten Jackett und Hut hervor. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, dazu war die Entfernung zu groß. Ich sah eine runde Hornbrille und einen kleinen, zwei Finger breiten Schnurrbart. So steif, wie er dort stand, erinnerte er mich an eine Wachspuppe.

      Cathy blieb vor ihm stehen und hielt den Kopf in einer Art Büßerhaltung gesenkt. Offenbar wurden nicht viele Worte gewechselt. Irgendwann streckte der Mann seine rechte Hand aus und fasste nach dem Kinn der jungen Frau. Er zwang sie, ihren Kopf zu heben, um ihm in die Augen zu sehen. Kurz darauf wandte sie sich wieder um und ging mit weit ausholenden Schritten zurück zum Gebäude. Der Mann mit dem Hut verschwand im gleichen Moment auf dieselbe unauffällige Art und Weise, auf die er zuvor erschienen war.

      »Ist es wieder dieser Kerl?«, knurrte Anselm der jungen Frau an seiner Seite halblaut zu, während er die Bleistiftspitze über das Papier huschen ließ.

      Seine Assistentin bejahte. »Es sei sehr dringend, hat er gesagt.«

      »Ich werde Cathy darauf hinweisen müssen, dass sie kostbare Arbeitszeit vergeudet.«

      »Darf ich atmen?« Merridews Blick traf den meinen, und er sah sogleich, dass ich gerade eine interessante Beobachtung gemacht haben musste. Ich zuckte bedeutsam mit den Augenbrauen, um ihm zu verdeutlichen, dass ich ihm später Bericht erstatten würde.

      »Aber warum nicht. Atmen Sie ruhig, Mylord«, sagte Anselm. »Wir wollen doch, dass Sie gesund und munter bleiben. Für die Besucher unseres Hauses ist es ein umso größerer Spaß, dass es sich bei den ausgestellten Personen um quicklebendige Prominente handelt, denen man sich sonst nur schwerlich nähern kann.«

      »Diese Menschen werden mich doch wohl nicht … anfassen?«

      »Es gibt Absperrungen. Bei Alan Ladd mussten wir den Abstand vergrößern. Die jungen Frauen sind immer drübergeklettert, um sich mit ihm fotografieren zu lassen.«

      »Schauderhafte Vorstellung.« Merridew verzog angewidert den Mund.

      Im Folgenden wurden noch ein paar Fotografien angefertigt, und dann war die Vorstellung auch schon beendet.

      Als wir nach unserer Verabschiedung wieder die Treppe hinuntergingen, kamen wir an einer halb offen stehenden Tür vorbei.

      Die tränenerstickte Stimme, die wir ganz unerwartet dahinter vernahmen, war allem Anschein nach die von Cathy Markham.

      »Er tut es, er tut es! Wenn ich es dir doch sage!«, schluchzte die Person hinter der Tür. Es handelte sich offenbar um ein Telefonat, denn eine Erwiderung war nicht zu hören. »Du kennst ihn, er schreckt vor nichts zurück.« Wieder folgte eine Pause. »Ja, aber sicher, man muss es beim Namen nennen: Mord!«

      Mord? Merridew weitete alarmiert den Blick und legte den Finger auf die Lippen.

      »Am Bootshafen in Datchet«, sagte die junge Frau und schniefte. »Um halb zwei. Oh Gott, ich kann es immer noch nicht glauben!«

      Ein Wort des Abschieds war nicht zu hören, wohl aber das Klacken eines Telefonhörers auf der Gabel.

      »Mord.« Merridew wisperte ganz leise in mein Ohr. Es folgte eines seiner unvermeidlichen Shakespeare-Zitate: »Wie fällt doch ein Geheimnis den Weibern schwer! Kommen Sie Nigel, wir gehen rasch raus, und Sie erzählen mir, was Sie vorhin am Fenster gesehen haben.«

      Wir gingen schnell die letzten Stufen hinunter, verließen das Gebäude durch die Tür, durch die wir hineingekommen waren, und auf dem Hof beschrieb ich ihm die kleine stumme Szene, deren Zeuge ich vorhin unfreiwillig geworden war.

      Merridew zog die Nase kraus und kratzte sich hinterm Ohr. »Nun, ich hoffe, der erste Teil meines Geburtstagsgeschenks hat Ihnen schon mal ein bisschen Vergnügen bereitet.«

      »Der erste Teil?« Ich konnte nicht verhehlen, dass mir der Sinn nicht nach einer weiteren Demonstration von Merridews unbeschreiblicher Egozentrik stand.

      »Ja, ganz recht. Wir sind noch nicht fertig. Ich denke mir, dass Sie vor Freude ganz aus dem Häuschen sein werden, wenn ich Ihnen verrate, dass Sie heute Nachmittag mit mir einen kleinen Ausflug vor die Tore der Stadt machen dürfen!«

      »Lassen Sie mich raten: Der Bootshafen von Datchet?«

      Er nickte mit einem gönnerhaften Lächeln.

      »Oh famos, das Wetter ist prächtig. Wir könnten mit offenem Verdeck fahren!«

      »Momentchen, Momentchen! So ein Spaß hat seine Grenzen! Ich zwänge mich Ihnen zuliebe zwar ausnahmsweise in Ihr unbequemes kleines Spielzeugauto, um Ihnen eine Freude zu machen, aber wir wollen es doch nicht gleich übertreiben!«

      2

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      Der Bootshafen des kleinen Örtchens Datchet lag an der Themse, nur knapp zwei Meilen von Windsor entfernt.

      Es waren etwa vierzig Boote, die unterhalb des kleinen Parkplatzes an zwei metallenen Stegen vor Anker lagen. Es handelte sich um ein paar morsche Kähne, einige Ausflugsschiffchen, aber auch ein paar größere Boote, die durchaus komfortabel und teuer aussahen.

      »Hier überspannte bis vor hundert Jahren die Geteilte Brücke den Fluss«, dozierte Merridew, während er sich aus dem Wagen quälte. »Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Berkshire mit Holz gebaut, und hier baute Buckinghamshire mit Eisen. In der Mitte des Flusses wurden die beiden Hälften irgendwie miteinander vermurkst. Muss kurios ausgesehen haben.«

      Jenseits des Flusses markierte ein einzelnes Gebäude die Position des früheren Brückenkopfs. Dahinter erstreckten sich Felder und Äcker, und in der Ferne sahen wir Windsor Castle mit seinem riesigen Rundturm schläfrig in der Mittagssonne liegen.

      Ich schloss mein Auto ab und wollte gerade fragen, auf was wir denn jetzt warteten, als Merridew einen Laut des Erstaunens ausstieß. »Potztausend, wenn das nicht mein alter Freund …!« Er eilte zu einem der Autos auf dem Parkplatz und klopfte übermütig auf das Wagendach. Die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und das mürrische Gesicht eines Mannes um die


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