Von Erbfeinden zu guten Nachbarn. Wirsching

Von Erbfeinden zu guten Nachbarn - Wirsching


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des Sieges über den anderen und damit der Reparation für erlittene Ehrverletzungen. All das zeigt, wie das Feindbild des Franzosen den Deutschen im 19. Jahrhundert geholfen hat, sich als Deutsche zu verstehen.

      AW: Ebendieser Volkshass ist in einem bestimmten, auch zur Aggression neigenden Traditionsstrang der deutschen Nationalbewegung ein ganz wichtiges Element. Der Historiker Friedrich Rühs schrieb 1815 Eine historische Entwickelung des Einflusses Frankreichs und der Franzosen auf Deutschland und die Deutschen. Darin heißt es:

      Man würde nicht Unrecht haben, wenn man die ganze neue Geschichte als eine Kette von Verwirrungen, Unruhen und Kriegen darstellte, die lediglich dadurch entstanden sind, dass ein einzelnes Volk – das französische – durch seine überwiegende Macht im Stande war, so oft es wollte, seinen rohen Übermuth und seine unersättliche Begierde nach Eroberungen zu befriedigen.3

      Genau diese Vorstellung herrschte in Teilen der deutschen Nationalbewegung bis 1870 vor: Frankreich galt als eroberungslustiges, auf Länderraub orientiertes Land.

      Dieser Hass ist selbstverständlich nicht notwendig. Eine Konstruktion wie die der sogenannten Erbfeindschaft birgt immer die Gefahr, dass die Öffentlichkeiten beider Länder gar nicht mehr anders können, als den Hass als unüberwindbar zu empfinden.

      HMD: Er ist nicht notwendig, aber er hat so funktioniert, wenn man an die Befreiungskriege gegen Napoleon denkt. 1813–15 wussten die Deutschen selbst noch nicht, dass sie Deutsche sind. Sie waren Sachsen, sie waren Bayern, sie waren Württemberger etc. Dennoch haben sie sich vereint, um sich von dem fremden Tyrannen zu befreien. Diese ganzen Gedichte von Ludwig Börne oder Ernst Moritz Arndt, die zu dieser Zeit entstanden sind, sind aus heutiger Sicht schlimm zu lesen. »Was ist des Deutschen Vaterland?« fragt Arndt in seinem bekannten Lied. »Ist’s Baierland? […] O nein, o nein! sein Vaterland muss größer sein!« Später heißt es: »Soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt, das soll es sein!« In der Beschreibung dessen, was das deutsche Vaterland sein soll, will Arndt den Truppen Mut geben, indem er sagt: »Wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Deutsche heißet Freund. Das soll es sein!«4 Vielleicht war ein Feindbild nicht notwendig, aber es war sehr nützlich. Um zu verstehen, was das ist, ein Deutscher zu sein (und nicht nur ein Sachse, ein Bayer, ein Preuße), brauchte man damals den bösen Franzmann.

      AW: Trotzdem muss man betonen, dass es auch andere Stimmen gab. Auch wenn das ein bisschen klischeehaft sein mag: Goethe etwa hat sich zum Nationalhass ganz anders geäußert. Interessanterweise waren die Franzosen ja 1870/71 enttäuscht – sie hatten eigentlich immer dieses Goethe’sche Deutschland geschätzt, im Sinne der Madame de Staël, und es überraschte sie, auf einmal ein ganz anderes Preußentum in Deutschland entstehen zu sehen. Goethe jedenfalls meinte zu Eckermann 1830: »Ich hasste die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie loswurden.« Aber er sagt dann:

      Wie hätte ich auch, dem nur Kultur- und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört? Und der ich einen großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke? Überhaupt ist es mit dem Nationalhass ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden.5

      HMD: Dem würden wir uns heute ja wahrscheinlich anschließen.

      AW: Weiter heißt es bei Goethe: »Es gibt aber eine Stufe, wo er – der Nationalhass – ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht.« Dieses kosmopolitische, universale, an eine europäische Einheit des Geistes gemahnende Denken setzte sich natürlich auch in Deutschland unter Gebildeten und Intellektuellen fort. Allerdings stimmt eines nicht, was Goethe sagt, nämlich dass »auf den untersten Stufen«, bei den Ungebildeten, der Nationalhass existiere, bei den Gebildeten aber nicht. Ich denke, man muss das für beide Länder festhalten: Gerade unter Gebildeten, auch Hochgebildeten, Historikern, Philosophen, Publizisten usw., spielte dieser Nationalhass eine wichtige Rolle, da er der eigenen Identitätssicherung diente.

      HMD: Wenn ich mich nicht täusche, wurde der Pariser Platz in Berlin 1814 in Erinnerung an den preußischen Sieg über Frankreich so getauft. Heute freuen sich vielleicht viele Franzosen über den schönen Namen und den prominenten Standort, weil sie glauben, man habe ihnen zuliebe Frankreich den schönsten Platz am Brandenburger Tor vor der französischen Botschaft widmen wollen. Diese kleine Anekdote belegt, dass im 19. Jahrhundert nicht nur die Plebs, sondern auch die Eliten Frankreich als Gegner empfanden. Das gilt umso mehr, als die Eliten in Deutschland, auch die Liberalen, die Ideen von 1789 mit dem damit verbundenen revolutionären Impetus ablehnten. Und im Grunde glaubte niemand an die angebliche Mission der Franzosen, die dem Herzen Europas die Zivilisation brachten.

      AW: In der Tat hängt die Idee des deutsch-französischen Gegensatzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch mit diesem Kampf um den Zivilisationsbegriff zusammen, und zwar bevor sich vor dem Ersten Weltkrieg die Gegenüberstellung Zivilisation – Kultur etablierte.

      HMD: Ja, das ist wichtig.

      AW: Kultur spielt in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs eine Rolle, aber im 19. Jahrhundert stritt man auch in Deutschland noch durchaus über den Zivilisationsbegriff. Den Anspruch Frankreichs, mit der eigenen Nation eine universale Zivilisation zu verkörpern, konnte man in Deutschland nicht akzeptieren.

      HMD: Es macht die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts so verwickelt, dass diese Ideen von 1789 bei einem Teil der deutschsprachigen Bevölkerung Begeisterung, bei den Anhängern der Ordnung und des Ancien Régime aber eine Abwehrreaktion auslösten. Andererseits fiel die Entstehung des Nationalgedankens, die ja untrennbar mit liberalen Forderungen verbunden war, nach dem Sieg über Napoleon I. mit der Restauration zusammen: Die Gründung des Deutschen Bundes von 1815 warf die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland in einen Zustand zurück, der sie auf lange Zeit lähmen sollte. Wie man 1830 am Beispiel des Hambacher Fests oder der 1848er Revolution sehen kann, blieb Frankreich eine Inspirationsquelle, sozusagen ein Leuchtturm des Fortschritts und der Freiheit. Es symbolisierte eine liberalere Art, zu regieren und regiert zu werden, als dieser restaurative Deutsche Bund, in dem die Anhänger des Fortschritts verfolgt wurden und wie Heinrich Heine in Frankreich Zuflucht suchen mussten. So wurden beispielsweise 1837 die sogenannten Göttinger Sieben, diese sieben Universitätsprofessoren, die gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten, entlassen und zum Teil des Landes verwiesen.

      AW: Diese Verbindung von Nationalgedanken und Freiheit war wichtig. Frankreich hatte mit der Revolution einerseits vorgemacht, wie es gehen konnte: Die Nation befreite sich vom Joch der Ständegesellschaft und ihrer Privilegienherrschaft; im Grunde waren alle Nationsbildungen in Europa von einem entsprechenden Freiheitspathos getragen. Die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist da keine Ausnahme. Andererseits hatte die Französische Revolution gezeigt, wie rasch die proklamierte Freiheit in neue Unfreiheit, ja sogar in den Terror umschlagen konnte. Hinzutrat auch in Frankreich sehr bald der reine Nationalismus, der für die eigene Nation eine nicht weiter begründbare Exklusivität beanspruchte.

      Auch das deutsch-französische Verhältnis ist in gewisser Weise beispielhaft für das Kippen zwischen einem ›linken‹ Nationsbegriff, der mit Fortschritt, Freiheit und universalen Ansprüchen verbunden wird, und einem stärker partikular-exklusiven Nationsbegriff, der die Konkurrenz bis hin zur Feindschaft zwischen Nationen noch stärker betont, um sich selber seiner eigenen Identität gewiss zu werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden wir dieses Dilemma in ganz Europa vor, etwa in Italien, Polen oder Griechenland. Überall dort bilden sich Nationen, die auf Exklusivität und der identitären Abgrenzung von anderen aufbauen. Sehr häufig ist Krieg die Folge dieser Gemengelage. Manche heutigen Entwicklungen in Ost- und Ostmitteleuropa erinnern an diese Prozesse.

      HMD: Ja.

      AW: Tatsächlich kann man sich fragen, ob in der Ukraine, aber auch in Ungarn oder Polen derzeit verspätete oder gewissermaßen neu-alte Nationsbildungsprozesse stattfinden. Die Vermittlung zwischen Staat und Bevölkerungen oder Nationen und Staatsformen, ja, der Widerstreit zwischen Demokratie und Autokratie war in Westeuropa zwischen 1815 und 1945 ein großes Thema. Manches davon wird heute in weniger traditionsstarken


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