Die Ungerächten. Volker Dützer
namenloser Flüchtling, gestrandet im Niemandsland.
So war er gezwungen gewesen, in Deutschland zu bleiben, dem Land, das er hasste und das ihm alles genommen hatte. Ohne Papiere bekam er keine Arbeit und keine finanzielle Unterstützung. Er befand sich in einer Abwärtsspirale, die unweigerlich tiefer ins Elend führte.
Pawel teilte sein bitteres Los mit Abertausenden, die der Krieg entwurzelt hatte, doch das machte es nicht leichter. Sie waren auf der Flucht oder suchten ein neues Zuhause, weil sie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Polen, Ungarn und Tschechen zogen die ungewisse Zukunft in Westeuropa einem Leben unter Stalins Einflussbereich im Osten vor.
Nachdem die Ernte eingefahren worden war, hatte Pawel den Hof verlassen müssen. Der kümmerliche Lohn hatte gerade gereicht, um ihn bis in die Gegend um Frankfurt zu bringen. Der Bauer hatte ihm geraten, es in einer der großen Städte zu versuchen, es hieß, dort suche man dringend Arbeitskräfte. Der Tipp hatte sich als Fehlschlag erwiesen, denn viel zu viele Vertriebene drängten in die Metropolen. Unterkünfte und Lebensmittel wurden knapp, gegen Ende des Winters hungerte auch die einheimische Bevölkerung. Ganz gleich, wohin er sich wendete, man stieß ihn herum, schickte ihn weiter oder jagte ihn ganz einfach davon. Die Hoffnung, die mit dem Ende der Naziherrschaft aufgekeimt war, verwandelte sich nach und nach in verzweifelte Wut. Niemand und nichts schien für all die furchtbaren Verbrechen verantwortlich zu sein oder sich um die Opfer zu kümmern. Zwar hatte er erlebt, dass die Gemeinschaften kleinerer Dörfer zusammenhielten und sich die Leute gegenseitig unterstützten, aber nach außen schotteten sie sich ab. Als umherziehender Flüchtling überlebte man nur, wenn man ohne Rücksicht auf andere für sich selbst sorgte. Dies war die bittere Lektion, die Pawel hatte lernen müssen.
Nach einer Odyssee, die ihn quer durch das zerstörte Land geführt hatte, war er nun in der amerikanischen Besatzungszone angekommen. Gerüchten zufolge war es hier einfacher, an eine neue Identität zu gelangen, was sich bisher allerdings nicht bewahrheitet hatte. Der Schlüssel zu allem, was man brauchte oder begehrte, war Geld.
Das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, trieb ihn vorwärts. Ohne den Hass, der ihn wärmte, und den alles verzehrenden Wunsch nach Vergeltung hätte er bereits mehr als einmal aufgegeben und den Tod gesucht. Pawel war ein Schiffbrüchiger. Ausgesetzt auf einer Insel, sah er am Horizont ferne Gestade, auf denen Einsame und Vergessene wie er selbst lebten und doch unerreichbar für ihn blieben.
Die Adresse auf dem Zettel gehörte zu einem Eisenwarenhandel. Eine Zeit lang überlegte Pawel, ob er einen Bus oder die Straßenbahn nehmen sollte, aber er besaß nur noch zehn Reichsmark und ein paar Pfennig. Also stapfte er mit gesenktem Kopf weiter und erreichte eine Stunde später mit knurrendem Magen sein Ziel.
Auf einem asphaltierten Hof standen verbeulte Kübelwagen, ausrangierte Laster und Fuhrwerke. Berge von Altmetall säumten den Weg zu einer Werkshalle mit angeschlossenem Büro. Pawel nahm den Zettel aus der Manteltasche und strich ihn glatt. Der Inhaber des Schrottplatzes, ein Mann namens Hartmut Mitschke, suchte einen Lageristen. Pawel wusste nicht, was von ihm verlangt werden würde, doch die Arbeit war so gut wie jede andere. Seit Ende des Krieges hatte er sich in einem Dutzend Berufen versucht. Hauptsache, er hatte ein Dach über dem Kopf, einen Platz zum Schlafen und einen vollen Magen.
Ein struppiger Hund zerrte an seiner kurzen Kette und kläffte mehrere Männer an, die vor dem Gebäude warteten und rauchten. Pawel gesellte sich zu ihnen. Er war es gewohnt, sich mit einem Rudel ausgehungerter Bewerber um eine Stelle streiten zu müssen. Zwar gab es Arbeit genug, aber kaum jemanden, der bereit war, sie anständig zu entlohnen.
Er steckte sich eine der letzten drei Zigaretten an, die er besaß. Die Konkurrenten beäugten ihn misstrauisch, keiner sprach mit ihm.
Eine halbe Stunde nachdem er den Schrottplatz betreten hatte, öffnete sich eine Blechtür in dem Lagergebäude. Ein vierschrötiger Mann mit pockennarbigen Wangen trat an das Geländer. Sein Kopf ruhte auf einem feisten Stiernacken. Eine fleischige Nase und winzige Augen, deren Pupillen schnell und listig hin und her huschten, beherrschten sein Gesicht. Er paffte eine Zigarre und betrachtete prüfend die Schar der Arbeitswilligen. Mitschke – so nahm Pawel an – wedelte mit dem Arm.
»Stellt euch in einer Reihe auf. Hopphopp!«
In die Schar kam Bewegung. Pawel reihte sich ein, Angst und Zorn stiegen in ihm auf. Mitschkes Tonfall und die herrische Art, in der er sich vor den Bewerbern aufbaute, erinnerten ihn an Theissen, Kaindls Folterknecht in Sachsenhausen. Er hätte schwören können, dass der Schrotthändler vor nicht allzu langer Zeit eine Uniform getragen hatte und es gewohnt war, Befehle zu erteilen.
»Na, wird’s bald?«, schnarrte er. »Hat wohl keiner gedient von euch, was?«
Volltreffer, dachte Pawel. Er kämpfte die lähmende Furcht nieder, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er es mit Typen wie Mitschke zu tun bekam – ein Andenken an die Lagerhaft, das ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten würde. Zu der Angst gesellte sich sofort die Wut über das, was sie ihm angetan hatten. Und das erinnerte ihn an das Versprechen … das verdammte Versprechen, von dem er nicht wusste, wie er es jemals einlösen sollte.
Der Schrotthändler verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann mit seiner Musterung, denn nichts anderes war dieses Schauspiel. Nachdem er die Reihe einmal abgeschritten hatte, kehrte er zum Anfang zurück und blieb vor Pawel stehen. Im KZ hatte er gelernt, unterwürfig den Kopf zu senken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch er war nun ein freier Mann und zwang sich, Mitschke geradewegs in die Augen zu blicken.
»Name?«, fragte der Schrotthändler.
»Pawel Kowna. Ich habe Berufserfahrung, weiß, wie man ein Lager führt.«
»Habe ich das gefragt?«, blaffte Mitschke.
Eine Weile verkniff sich Pawel die überflüssige Antwort, dann sagte er: »Nein.«
»Woher kommst du?«
Pawel zögerte. Er sollte sich umdrehen und gehen, die Anstellung bekam er sowieso nicht. Mitschke war Wehrmachtsoffizier gewesen, wahrscheinlich sogar bei der SS. Er verströmte die braune Pest aus jeder Pore.
»Aus Warschau«, antwortete er trotzig. Er fühlte sich herausgefordert und brauchte sich seiner Herkunft nicht zu schämen.
»Aha«, stellte Mitschke fest. »Mantel ausziehen!«
»Wie bitte?«
»Ausziehen! Ich will deine Muskeln sehen. Die Arbeit ist nichts für Schwächlinge. Ihr Slawen seid doch kräftige Burschen, oder nicht?«
Die anderen lachten, einer zog bereitwillig die Jacke aus und präsentierte seinen Bizeps. Drei weitere junge Männer folgten eifrig seinem Beispiel und wetteiferten miteinander.
Langsam zog Pawel den Mantel aus. Darunter trug er ein kariertes Baumwollhemd.
Mitschke blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht, packte blitzschnell seinen linken Unterarm und schob den zerschlissenen Hemdärmel zurück. Ohne aufzusehen, wusste Pawel, dass alle auf die eintätowierte Häftlingsnummer glotzten. So wie er Mitschke als ehemaligen SS-Mann erkannt hatte, spürte der Schrotthändler instinktiv, dass Pawel im KZ gewesen war.
Mitschkes Mundwinkel zuckte. »Wir beschäftigen kein Diebsgesindel.« Er ließ Pawels Arm los und wandte sich an den nächsten Bewerber, einen jungen Mann mit struppigem blondem Haar. »Name?«
»Gomulka, Klaus«, lärmte der Angesprochene.
Mitschke musterte ihn zufrieden. »Mitkommen. Sie sind eingestellt. Wir müssen schließlich zusammenhalten, was?«
Pawel streifte den Mantel über und ballte die Fäuste. Er hatte nie verstehen können, warum sich die Deutschen daran berauschten, andere Menschen zu quälen und wie Dreck zu behandeln. Für Mistkerle wie Mitschke empfand er nichts als Verachtung. Sie verstanden nur eine einzige Sprache, die der Gewalt.
Unschlüssig stand er auf der Stelle und sah die anderen Bewerber mit unterdrückter Wut an. Gomulka grinste ihm schadenfroh ins Gesicht und entblößte dabei eine Lücke zwischen den Schneidezähnen.
»Hau besser ab nach Polen«,