Endstation Nordstadt. Nicole Braun

Endstation Nordstadt - Nicole Braun


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verschaffte ich mir einen Überblick. Auf dem Schreibtisch lagen ausschließlich Papiere neueren Datums. Ich stellte mir vor, wie die Platte am Todestag von Sandro Ratstetter blank und ordentlich gewesen war, das Drumherum passte einfach nicht zu der Unordnung. Im Köcher waren die Stifte nach Farben sortiert, daneben standen ein Locher und ein Tacker wie mit dem Lineal ausgerichtet. Die Kurzwahltasten des Telefons waren sorgfältig beschriftet: Galerie, Mama, Dr. Frenzel und Gil’s. An der Wand hingen in gleichmäßigen Abständen Fotografien von wilden Feierlichkeiten. Sandro Ratstetter war vielleicht ordentlich, wenn nicht sogar pedantisch, ein Kind von Traurigkeit war er offensichtlich nicht gewesen.

      Den Schreibtisch konnte ich vergessen. Wenn hier etwas zu finden gewesen wäre, hätte Sachs es mitgenommen. Also widmete ich mich den Regalen und überflog die Rückenschilder der Aktenordner. Versicherungen, Krankenkasse, Urlaub. An der Beschriftung »Alte Steuerbelege« blieb ich hängen. Wenn ich es darauf anlegte, dass ein Partner, der für Buchhaltung nichts übrighatte, eine Sache nicht zu Gesicht bekäme, würde ich sie in genau diesem Ordner verstecken. Ich zog ihn heraus. Nach einigem Blättern wurde ich fündig. Zwischen dem, was darin zu erwarten gewesen war, war ein weißes Blatt eingeheftet, auf dem handschriftlich »150.000 Mark« vermerkt war, daneben eine Telefonnummer und der Name »Ralf«. Ich nahm das Blatt aus dem Ordner. Woher ich die Gewissheit hatte, selbst dann nicht mehr zu finden, wenn ich das ganze Zimmer auf den Kopf stellte, konnte ich nicht sagen, aber ich war sicher, dass ich wegen genau dieser Notiz hergekommen war.

      Ich begab mich auf die Suche nach der Küche.

      Dieter Gehrmann guckte erstaunt. »Das ging schnell.«

      »Ihr Partner hatte einen ausgeprägten Sinn für Ordnung.«

      »Ja, das hatte er. Manchmal glaubte ich, eine Beziehung mit zwei unterschiedlichen Menschen zu führen.« Er ging an mir vorbei auf den Flur. »Ich will Ihnen etwas zeigen.«

      Mit gekrümmtem Zeigefinger machte er deutlich, dass ich ihm folgen solle.

      11

      Ein paar Schritte an der frischen Luft waren genau das, was ich jetzt brauchte, außerdem hatte ich noch eine halbe Stunde Zeit, bis Matts Lokal öffnete. Zwar knurrte mein Magen, aber ich würde es so lange noch aushalten.

      Nachdem ich den Ford vor meiner Wohnung geparkt hatte, ging ich die wenigen Straßenzüge bis zur Pizzeria zu Fuß. Der Wind pfiff um die Häuserecken und blies den Muff aus den Straßen. Ich hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände in den Manteltaschen vergraben. In der einen fühlte ich den doppelt geknickten Zettel mit einer mir unbekannten Telefonnummer, in der anderen Sharps 100-Mark-Schein. Unwillkürlich begannen meine Finger, den Schein zu liebkosen. Ich beschleunigte meine Schritte und hielt den Blick auf den Asphalt gerichtet. Bloß nicht schwach werden. Durchhalten, bis Matt aufsperrte.

      Sein Lokal war eines der wenigen, in denen keine Spielautomaten hingen. Nicht mehr. Matt hatte die Automaten abmontieren lassen, als die Wände einen neuen Anstrich gebrauch hatten. Danach waren die blinkenden, pfeifenden Kisten nicht wieder aufgetaucht. Dabei entging Matt ein gutes Geschäft. In den anderen Spelunken saßen die Spieler oft bis zur Sperrstunde und tranken ein Bier nach dem anderen. Matt hatte behauptet, dass er das Gedudel nicht mochte, insgeheim wusste ich, dass er es wegen mir getan hatte.

      Mir spukte die Szene durch den Kopf, die sich in der Wohnung von Dieter Gehrmann ereignet hatte. Er hatte mich in ein Zimmer geführt, in dem es nach Ölfarbe und Terpentin roch. An den Wänden stapelten sich Leinwände in allen Größen, auf einer Staffelei stand ein halbfertiges Gemälde. Ich war sicherlich kein Kunstkenner, doch was ich sah, gefiel mir. Da hatte jemand – vermutlich Sandro Ratstetter – Gefühl für Farbe bewiesen. Diese war zu abstrakten Verschnürungen auf die Leinwand gebannt worden, unterbrochen von schwarzen Strichen, die sich wie Schnitte durch die farbenfrohen Hintergründe zogen.

      »Diese Bilder«, sagte Gehrmann, »hätten es niemals in seine eigene Galerie geschafft. Er arbeitete an manchen Tagen wie ein Besessener, aber selbst seinem eigenen kritischen Auge wurde er nicht gerecht. Ich glaube, es gibt genug unsensible Idioten, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie mit der Seele eines Menschen anstellen, wenn sie solch ein Urteil fällen wie sein Kunstprofessor seinerzeit.«

      »Wie lange ist das her?«, wollte ich wissen.

      »Ein halbes Leben. Sandro war 42, als er starb. Er hat es immerhin 20 Jahre lang ausgehalten, mit seiner eigenen Unzulänglichkeit täglich einen Kampf zu führen.«

      Gehrmann wirkte in diesem Augenblick älter, als er vermutlich war. Ich schätzte ihn auf Ende 50, Ratstetter war also um einiges jünger gewesen. Die ewige Suche nach dem guten Vater, dachte ich. Selbst das hatte die Wunden nicht heilen lassen. Ich schaute auf das halbfertige Gemälde und war es plötzlich leid, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sich jemand seinem Dämon geschlagen gab. Also hatte ich mich eilig verabschiedet und Gehrmann zuvor noch versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten.

      Die Dämonen. Selbst ein Gang durch den beginnenden Nieselregen konnte sie nicht abschütteln. Nun musste ich nur noch zehn Minuten durch die Straßen wandern. 600 ewige Sekunden, wenn ein Hunderter in der Tasche und an jeder Ecke eine Spielhölle locken. Ich biss die Zähne zusammen. »Na los, Meinhard«, sagte ich zu mir selbst, »hast deine Neugier schon im Zaum gehalten und nicht sofort die Nummer angerufen, die auf dem Zettel steht. Da schaffst du auch die zehn läppischen Minuten.«

      Ich schaffte es nicht.

      12 Azrael

      Ich hatte Latexhandschuhe übergezogen und eine Auswahl Glückwunschkarten vor mir auf dem Küchentisch ausgebreitet. Während der entkorkte Bordeaux atmete, grübelte ich, welches Motiv wohl geeignet war, um die Partie mit dem Anwalt zu eröffnen, und ließ die Ereignisse der letzten Stunden an mir vorüberziehen.

      Ich hatte mich über ihn erkundigt. Vor über einem Jahr war er von einer netten Neubausiedlung in die Nordstadt gezogen. Das sprach Bände. Ich hatte mir angesehen, was er zurückgelassen hatte: Auf dem Klingelschild seines ehemaligen Hauses stand noch der Name »Petri«. Eine hochgewachsene blonde Frau hatte einen Volvo aus der Einfahrt gefahren, in den sie vorher zwei kleine Kinder gesetzt hatte, die dem Anwalt ähnlich sahen. Ich war gespannt, ob die drei in meinem Plan noch eine Rolle spielen würden.

      Seine Kanzlei hatte der Anwalt ebenfalls verlegen müssen. Von einer angesehenen Adresse in der Wilhelmsstraße zog man nicht unterhalb des Königsplatzes, wenn man gehobene Mandantschaft beriet. Es musste einiges in seinem Leben schiefgelaufen sein, und jetzt wollte ich unbedingt wissen, was.

      Ich hatte einen Parkplatz mit Blick auf seine Wohnungstür ergattert und wartete im Wagen auf seine Heimkehr. Wenn ich richtig lag, hatte er Scharpinskys Auftrag angenommen und die Hinterbliebenen der lieben Verstorbenen aufgesucht. Ob es ihn wohl überrascht hatte, im Fall von Ratstetter keine Witwe anzutreffen, sondern Gehrmann? Die beiden Männer erfüllten jedes Klischee eines homosexuellen Paares, und doch war es nicht allein Rat­stetters promiskuitives Sexualleben, das ihm einen Platz auf meiner Liste gesichert hatte. Es war die schäbige Art, wie er seine Mutter abserviert hatte. Die Frau hatte große Stücke auf ihn gehalten, weiß der Teufel warum. Sie hatte ihm die Galerie finanziert und ihn bei Flauten immer wieder den Arsch gerettet. Und statt die betagte Dame zum Dank in einem angemessenen Alterswohnsitz unterzubringen, hatte Ratstetter sie in eines der miserabelsten Pflegeheime abgeschoben und sie seither kein einziges Mal besucht. Als sie ihm nicht mal einen Pfennig des Geldes, das er von Sharp erhalten hatte, wert gewesen war, war sein Todesurteil besiegelt gewesen.

      Endlich hatte der Anwalt seine Rostlaube in eine Parkbucht in meiner Sichtweite gelenkt. Statt in seine Wohnung zu gehen, war er durch die Straßen gestreift und ich war ihm gefolgt. Er hatte fahrig gewirkt, häufig das Tempo gewechselt, sich immer wieder in die Manteltasche gegriffen, als wollte er sich vergewissern, dass ihr Inhalt noch da war. Als er kurz gestoppt hatte und dann in einer Spielhölle verschwunden war, hatte ich genug gesehen.

      Ich goss mir von dem Bordeaux ein und ließ den Finger über die Karten wandern. Der kluge Spruch der Peanuts schien mir genau der richtige zu sein, um erste Verwirrung zu stiften und den Anwalt aus der Reserve zu locken. Nach dem, was ich über ihn zu wissen


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