Endstation Nordstadt. Nicole Braun
von beinahe einem Jahr, die beiden letzten trennten nur wenige Wochen. Außerdem unterschied sich jeweils die Art der Selbsttötung. Entweder lag hier ein makabrer Zufall vor oder jemand gab sich allergrößte Mühe, Gesetzmäßigkeiten zu vermeiden. Der einzige Hinweis darauf, dass möglicherweise ein Serientäter eine Liste abarbeitete, lag direkt vor mir. Und außer mir und Sharp kannte offensichtlich niemand diesen Zusammenhang. Aber wozu die derart aufwendig inszenierten Tötungen? Nur um Sharp zu schaden? Oder griff da einer das Geld ab, das Sharp verliehen hatte?
Es klingelte. Um diese Zeit vermutlich der Postbote mit einem Einschreiben. Sicher wieder ein Vollstreckungsbescheid oder eine Vorladung. Da es einen Mandanten betreffen konnte, hatte ich keine Wahl. Ich zögerte. In dieser Gegend war es ratsam, die Gegensprechanlage zu benutzen, doch die war wie üblich defekt. Also drückte ich den Türöffner und lauschte in das Treppenhaus. Ich hatte mittlerweile ein gutes Gehör für die Geräusche entwickelt, die sich die Stufen hinaufbewegten. Sergejs 100-Kilo-Schritt in Militärstiefeln hätte ich bereits in der ersten Etage erkannt. Gleichzeitig wäre es genauso sinnlos gewesen, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, wie aus dem Fenster zu springen.
Das erwartete Poltern von Sergej blieb aus, und ich lauschte auf den gehetzt sportlichen Gang des Postboten, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, auf den Etagenabsätzen keine Sekunde Pause, um zu verschnaufen.
Zu meinem Erstaunen näherte sich ein gleichmäßiges Stakkato, verursacht durch spitze Absätze einer federleichten Trägerin. Ich roch sie, bevor ich sie sah. Durch das muffige Treppenhaus waberte der Duft eines Blumenteppichs, auf dem sie sich elegant die Stufen nach oben bewegte. Blondes Haar wippte über die Brüstung, dann tauchten strahlend geschminkte Augen auf, danach ein blutroter Mund.
Riva Levin trug einen figurbetonten, halblangen roten Mantel mit dunklem Nerz am Kragen. Der Stoff wirkte fein, wahrscheinlich Kaschmir, und die Härchen des Felles zitterten in der Zugluft und wirbelten ihr Parfüm direkt in meine Nase. Allein von dem, was der Mantel gekostet haben mochte, hätte ich einen Monat fürstlich leben können.
Oder eine Nacht besinnungslos zocken.
Ich konzentrierte mich auf die Frau, die nun keinen halben Meter von mir entfernt stand und die Beine in eine Position gebracht hatte, die ihre Silhouette vorteilhaft zur Geltung brachte.
Während ich noch überlegte, wie ich es umgehen konnte, sie in das chaotische Büro reinbitten zu müssen, kam sie mir zuvor.
»Darf ich?« Sie zeigte auf die Tür, deren Klinke ich in meinem Rücken festhielt.
»Selbstverständlich«, sagte ich weniger selbstsicher als beabsichtigt, trat einen Schritt zur Seite und ließ sie an mir vorbei in den winzigen Flur.
»Tut mir leid, die Garderobe ist kaputt.«
Sie warf einen Blick auf den Haken, der an einer losen Schraube von der Wand baumelte, und nickte.
»Kommen Sie ins Büro, dort können Sie ablegen.« Während ich voranging, war ich froh, dass durch all die Unordnung wenigstens der Duft von frischem Kaffee wehte.
Sie sah sich um. Ihre Augen blieben an den 100-Mark-Scheinen auf dem Fußboden hängen und sie lächelte. »Das Geld liegt nicht immer nur auf der Straße, sondern manchmal wohl auch auf dem Boden einer Anwaltskanzlei.«
Schnell hob ich die Scheine auf und ließ sie achtlos auf den Schreibtisch fallen. »Ich brauchte Platz für die Zeitungen«, sagte ich, erleichtert darüber, dass die aufgeschlagenen Gazetten die Unordnung darunter verbargen.
Sie trat einen Schritt nach vorne und überflog die Schlagzeilen, während sie ihren Mantel aufknöpfte, ihn auszog und ihn sich über den Unterarm hängte. Anschließend deutete sie auf die Fotografie der Fabrikhalle mit dem Leichenwagen davor. »Ich war mir erst unsicher, ob Sie das sind. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zufällig dort waren.«
Was sollte ich darauf antworten? Ich zuckte lediglich die Schultern.
»Hat das etwas mit dem Tod meines Mannes zu tun?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Man könnte einen Zusammenhang sehen.«
»Wenn Sie den Weg hierher auf sich genommen haben, um über den Tod von Franz Schuhmann zu plaudern, muss ich Sie enttäuschen. Darüber weiß ich nicht mehr, als in diesem Artikel steht.«
»Darf ich mich setzen?« Sie zeigte auf den Stuhl, der halb unter der herabhängenden HNA verborgen war.
»Selbstverständlich«, entgegnete ich, indem ich die Zeitung zusammenraffte, darauf bedacht, dass der Großteil des Schreibtisches abgedeckt blieb. »Kaffee?«
»Gerne. Schwarz.« Sie nahm Platz und legte den Mantel über die Oberschenkel.
In der Kochnische wählte ich eine Tasse, deren Belag mir am einfachsten zu entfernen schien, spülte sie notdürftig und trocknete sie mit dem brettharten, fleckigen Handtuch ab, das schon seit Wochen in der Spüle hing. Es gab Momente im Leben, da wünschte ich mir das breite Kreuz von Sergej. Ich konnte ihren Blick in meinem Rücken förmlich spüren und bemühte mich, nicht fahrig zu wirken.
Nachdem ich ihr eingeschenkt hatte, hielt ich ihr die Tasse hin. Sie nahm sie leicht wie ein Vögelchen zwischen ihre perfekt manikürten Finger, roch am Inhalt, nippte vorsichtig und schien zufrieden.
Ich atmete tief ein und füllte Kaffee in meinen Becher nach, der noch auf dem Schreibtisch stand.
Währenddessen wartete sie ab, bis ich ihr gegenüber saß. »Sie hatten mich gefragt, ob ich die Männer kannte, die in den letzten Monaten Selbstmord begangen haben.«
»Das hatte ich gefragt, richtig.«
»Und ich hatte Ihnen geantwortet, dass Sie mir persönlich nicht bekannt waren.«
»Ich erinnere mich.«
Sie deutete auf die aufgeschlagenen Zeitungen. »Herrn Schuhmann habe ich recht gut gekannt. Das heißt, eigentlich nicht ihn, sondern ich kenne seine Ehefrau Erin. Wir sind uns hin und wieder im Schönheitssalon begegnet.«
»Und Sie sind extra hierhergekommen, um mir das mitzuteilen?«
»Nicht nur.« Erneut trank sie einen kleinen Schluck und schien zu überlegen. »Ich war neugierig. Ich wollte wissen, wie ein Anwalt residiert, der sich im Auftrag von Geldeintreibern verdingt.«
»Konnten Sie Ihre Neugier befriedigen?« Ich versuchte, nicht ärgerlich zu klingen.
»Durchaus. Sagen Sie, wie heißt eigentlich Ihr Auftraggeber? Ich glaube, das hatten Sie vergessen zu erwähnen.« Sie legte den Kopf schief.
»Sagt Ihnen der Name Horst Scharpinsky etwas?« Ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden, zumal ich das Gefühl hatte, dass sie es ohnehin wusste. Scharpinsky war in Kassel bekannt wie ein bunter Hund, und außer ihm kam nur noch einer infrage, der hinter einer solch hohen Summe geliehenen Geldes her sein konnte.
Sie nickte. »Scharpinsky oder Bahat. Einer von beiden musste es ja sein. Das sind doch die Herren, die Kassel mit ihrem Schwarzgeld überschütten, oder?«
»Wie kommt es, dass eine Frau wie Sie sich in solchen Kreisen auskennt?«
Aus ihrem Blick sprach eine Mischung aus Skepsis und Amüsement. »Das erfährt man alles aus der lokalen Presse. Ich wiederum frage mich, warum ein Anwalt für Strafrecht sich mit diesen Menschen abgibt.«
Jetzt musste ich lachen. »Sie haben ja gar keine Ahnung, mit was für Menschen sich ein Anwalt für Strafrecht abgeben muss.«
»Ja, sicher.« Sie lächelte verständnisvoll. »Aber Scharpinsky ist nicht Ihr Mandant, wenn ich das richtig verstanden habe, sondern Ihr Auftraggeber.«
Ich hatte keine Lust, mich zu rechtfertigen, und startete ein Ablenkungsmanöver. »Ihr Mann hatte ja offensichtlich auch Kontakt zu Scharpinsky.«
»Das stimmt leider. Und ich würde zu gerne wissen, warum. Vor allem, warum er das hinter meinem Rücken getan hat.«
»Und die Antwort auf diese Frage erwarten Sie von