MORLOCK. Rolf Gröschner
Der hilfsbereite Bayerische Beamte fragte zunächst nach den Personalien: „Georg Meier, geboren am 14. November 1925 in Nürnberg, wohnhaft in der Pillenreuther Straße 18 in Nürnberg; verheiratet mit Elisabeth Meier, geborene Blonske, Geburtstag am selben Tag wie ich, nur vier Jahre später, also am 14. November 1929 in Zirndorf.“ „Was sind Sie von Beruf?“ „Schaffner bei der Nürnberg-Fürther Straßenbahn.“
Der Beamte räusperte sich: „Ich frage jetzt außerhalb des Protokolls: Auf welcher Linie könnte ich schon einmal einen Fahrschein bei Ihnen erworben haben?“ „Auf der Linie 21.“ In einer spontanen Reaktion auf die Hilfsbereitschaft seines Gesprächspartners fügte er hinzu: „Falls Sie mitfahren wollen: Montags beginnt mein Dienst immer um kurz nach zehn am Hauptbahnhof.“ „Um diese Zeit habe ich schon zwei Dienststunden hinter mir. Überlassen wir eine Begegnung in der Linie 21 also dem Zufall.“
Nach diesem Intermezzo erzählte Georg die Geschichte mit dem Schuss, der Blutspur, dem Damenfahrrad und – dieses Mal verschwieg er ihn nicht – mit dem Cadillac. „Das Protokoll wird übermorgen zur Unterschrift in der Fürther Straße 112 bereitliegen. Danach wird die Staatsanwaltschaft die erforderlichen polizeilichen Ermittlungen veranlassen.“
Georg war doppelt erleichtert. Erstens war es ihm gelungen, den Fall aktenkundig zu machen und die Ermittlungen in Gang zu setzen. Und zweitens konnte er Elisabeth beweisen, dass er ihre Wahrnehmung nicht für ein Hirngespinst hielt. Sie hatte dem Gespräch höchst aufmerksam zugehört und grinste nun über beide Backen. Sie nickten einander wortlos zu.
Weil Hans den Tipp mit der Kripo gegeben hatte, hätte Georg ihm gern noch von seiner erfolgreichen Strafanzeige berichtet. Es war jedoch schon bald zehn Uhr und sein Dienstbeginn rückte näher. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, griff Schaffnerjacke, Geldtasche, Münzwechsler und gab Elisabeth einen Kuss auf die Wange. „Bis später!“ Auf dem kurzen Weg zum Hauptbahnhof geriet er ins Grübeln: Was würde aus ihm als Schaffner werden, wenn die Nürnberg-Fürther Straßenbahn tatsächlich wie geplant auf schaffnerlosen Betrieb umstellen sollte?
Abgesehen vom Verlust des Arbeitsplatzes konnte er sich das Entfallen der täglichen Rituale nicht vorstellen: die Geldscheine in seine Schaffnertasche und die Münzen in seinen Geldwechsler mit der gebotenen Sorgfalt einzuordnen und über das Wechselgeld genau Buch zu führen.
Und dann kreisten seine Gedanken längere Zeit um die Frage: Wie will man das Schwarzfahren verhindern, wenn niemand mehr ruft: „Noch jemand ohne Fahrschein?“ Er liebte seinen Beruf, daher wollte er sich nicht weiter mit unklarer Zukunft beschäftigen. Plötzlich wurde er im Halbdunkel des Celtis-Tunnels von einem Fahrradfahrer gerammt, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Im Stolpern fing ihn ein entgegenkommender Fußgänger auf, der ihn unangenehm kräftig umfasste. Ohne einen Dank abzuwarten, setzte dieser seinen Weg mit forschen Schritten fort. Irgendwie kam ihm der Zwischenfall komisch vor.
Am Hauptbahnhof stieg er in „seinen Einundzwanziger“. Warum „die“ Straßenbahn und „ihre“ Linien in Nürnberg männlich sind, konnte er nicht begründen, fand es aber irgendwie richtig. Die Linie 21 fuhr um diese Zeit ohne Beiwagen. Georg nahm im Schaffnersitz des Triebwagens Platz. Als er seine Schaffnertasche öffnen wollte, fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder: Sie war offen und er befürchtete, unbemerkt bestohlen worden zu sein. Auf den ersten Blick fehlte jedoch nichts. Aber zwischen den blauen Zehnmarkscheinen steckte ein kleiner weißer Zettel. In Anfängerschrift stand darauf: „Kein Cadillac. Sonst teuer bezahlen!“ Er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. Außerdem musste er sich seinen Dienstaufgaben widmen.
Georg Meier versah seinen Schaffnerdienst an diesem Tag nicht mit der gewohnten Konzentration und Sorgfalt. Immer wieder stimmte das sonst so sicher von ihm abgezählte Wechselgeld nicht, weil es ihm einfach nicht gelang, den Zettel zu vergessen. Er nahm ihn als Versuch einer Erpressung sehr ernst: Mit „Kein Cadillac“ wurde er wohl aufgefordert, seine Aussage zu widerrufen. Aber was war mit „Sonst teuer bezahlen!“ gemeint? Und woher kannte der Erpresser den Hinweis auf den Cadillac in seiner Anzeige?
Dienstschluss war um 18 Uhr, wieder am Hauptbahnhof. Die Linie 21 – um diese Zeit mit Beiwagen – hatte fünf Minuten Verspätung. Während des gesamten Tages hatte Georg überlegt, ob und wie er Elisabeth von der befürchteten Erpressung erzählen sollte. Auf dem Heimweg, der durch den Celtis-Tunnel führte, fiel seine Entscheidung: Er würde ihr den Zettel ohne Kommentar in die Hand geben und ihrer Phantasie als Krimileserin vertrauen. Dabei musste er gegenüber sich selbst zugeben, die betreffende Lektüre seiner Frau bisher zu gering geschätzt zu haben.
Elisabeth empfing ihn mit dem Satz, der nach jedem Arbeitstag Georgs Feierabend einläutete: „Abendbrot ist fertig. Dein Bier steht bereit.“ Weil das gewohnte „Danke. Dann lass ich es zischen“ ausblieb, fragte sie sofort: „Was ist passiert?“ Georg gab ihr wortlos den Zettel. Sie las, kratzte sich kurz an ihrem Wuschelkopf und sagte im Brustton der Überzeugung: „Da will uns jemand erpressen. Und zwar jemand, der deine telefonische Strafanzeige mitgehört oder abgehört haben muss. Nur so kann er wissen, dass du von einem Cadillac berichtet hast, den ich ja unmittelbar nach dem Schuss gesehen habe und der dir dann bei seiner Rückfahrt, fast wie bei einer späteren Kontrollfahrt am Tatort vorbei, aufgefallen ist.“
Georg war sprachlos. Der kriminalistische Scharfsinn seiner Frau nötigte ihm jetzt größten Respekt ab. Zwingend erschien ihm vor allem die Annahme des abgehörten Telefonats. Georg wusste es aus dem Bericht eines von ihm geschätzten Nachrichtenmagazins: In der ‚amerikanisch besetzten Zone Bayern‘ – auf den Autokennzeichen mit einem B unter einem A abgekürzt – gehörte es für die Besatzungsmacht gewissermaßen zum guten Ton, die deutsche Polizei durch Abhörmaßnahmen zu überwachen. „Elisabeth, du hast ganz sicher Recht: Die Amerikaner müssen mein Telefonat mit dem Landeskriminalamt abgehört haben! Aber was haben die Amis mit der Sache zu tun?“
Elisabeth fühlte sich wie die Kommissarin in ihrem Lieblingskrimi: „Wo hast du denn den Zettel her?“ „Er steckte zwischen den Zehnmarkscheinen in meiner Geldtasche.“ „Also hat jemand gewusst, wann und wo dein Dienst heute Vormittag beginnen würde. Und genau dies hast du gestern telefonisch bekanntgegeben. Ich habe mich deshalb darüber gewundert, weil es mit unserer Strafanzeige nichts zu tun hatte.“
„Und warum habe ich nicht bemerkt, dass meine Tasche geöffnet und der Zettel hineingesteckt wurde?“ „Es gibt genug Trickdiebe, die so fingerfertig sind, dass sie dir unbemerkt eine Uhr vom Handgelenk klauen.“ Da fiel ihm die eigenartige Begegnung im Celtis-Tunnel ein, die er seiner Frau anschaulich erzählte. „Im Rückblick kommt mir die Sache sehr gewollt vor“, resümierte er. „Das war sie auch: Der Kontakt verschaffte jemand die Gelegenheit, den Zettel in deine Geldtasche zu schmuggeln.“ Georg wurde plötzlich leicht schwindelig. In welche Sache waren sie da verwickelt? Hätte Elisabeth doch besser keinen Schuss gehört. Wie gerne würde er den Film, der in seinem Kopf ablief, zurückspulen. Und wie schön wäre es, wenn er dem Regisseur in Gedanken einfach zurufen könnte: „Lou mer mei Rouh!“
Angesichts der gefühlten Bedrohungslage verharrten beide schweigend am Küchentisch. Wie sollten sie nun mit der Drohung umgehen? Sie nahmen sie jedenfalls nicht auf die leichte Schulter. Elisabeth löste sich als erste aus der gedanklichen Umklammerung. In ihr reifte eine Idee: „Wir korrigieren unsere Aussage folgendermaßen: Es darf nicht mehr protokolliert werden, dass es sich um einen Cadillac oder überhaupt um eine amerikanische Automarke handelte.“ Georg war erleichtert: „Damit erfüllen wir die Bedingung unseres vermutlich amerikanischen Erpressers. Wir sollten besser hinzufügen: ‚Die beobachtete lindgrüne Limousine könnte auch ein deutsches Fabrikat gewesen sein, etwa ein Mercedes-Benz 300.‘ Schließlich war der Wagen schon zu weit weg.“ Jetzt durfte es ein Bier sein.
Am nächsten Morgen rief Georg beim Landeskriminalamt an, ließ sich mit der Ermittlungsabteilung verbinden und erklärte dem seit gestern bekannten Beamten die Änderung der Aussage vom Cadillac zum Mercedes-Benz 300. „Das haben Sie sich gerade noch rechtzeitig überlegt, bevor das gesamte Protokoll an die Staatsanwaltschaft übermittelt wird. Vergessen Sie nicht, zur Unterschrift zu erscheinen.“
Staatsanwalt Büchner war aus hartem Holz geschnitzt. „Sie können Ihre Strafanzeige erst unterschreiben,