MORLOCK. Rolf Gröschner

MORLOCK - Rolf Gröschner


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      4. Treffpunkt „Grüner Baum“ in Fürth

      Bis Ende 1954 bot die Fürther Altstadt beliebte Treffpunkte für amerikanische Soldaten. Zu einem ihrer bevorzugten Lokale gehörte der „Grüne Baum“ in der Gustavstraße. Dort arbeitete Kunigunde als Kellnerin, von allen „Kuni“ genannt. Ein Abend im Frühsommer 1954 blieb ihr wegen einer ungewöhnlichen Begegnung in besonderer Erinnerung.

      „Ten beers, please!“ Zehn lärmende GIs umlagerten den Tresen, an dessen Zapfhahn Kuni mit großer Routine agierte. Den meisten der bierdurstigen Kehlen ging es dennoch nicht schnell genug: „Quickly, rapidly!“ Die Halbliterkrüge wurden ihr förmlich aus den Händen gerissen. Maßkrüge waren wegen mehrerer Schlägereien seit einigen Wochen nicht mehr in Gebrauch. Dichter Zigarettenrauch lag in der Luft. Er mischte sich mit dem Geruch verschütteter Biere und wurde in dieser Mischung in der Kleidung nach Hause getragen.

      Die beiden, die sich als einzige nicht vorgedrängt hatten, setzten sich an einen Tisch in der Ecke. Kuni fand sie schon deshalb sympathisch, weil ihr Interesse offenbar nicht nur dem Bier galt, sondern auch dem Gespräch miteinander. Es machte den Eindruck enger Vertrautheit unter Freunden. „Endlich mal anständige Amis!“, dachte sie.

      Der größere der beiden kam an den Tresen. Kuni begann wie gewohnt auf Englisch: „Would you like …“ „Sie können Deutsch mit mir reden.“ „Sehr gern. Was kann ich für Sie tun?“ „Gibt es auch ein kleines Bier?“ „Eigentlich nicht. Ich kann aber den Krug nur halb füllen – ein ‚Schnitt‘ sagen wir auch dazu.“ „Das ist sehr nett. Dann bitte zwei Schnitt.“

      Um viertel vor acht erschien Kunis beste Freundin Anni, die sie seit der ersten Volksschulklasse kannte. Ihr Erscheinen erregte unter den Soldaten allgemeine Aufmerksamkeit, die sie jedoch entschlossen ignorierte. Da montags schon ab 20 Uhr Feierabend war, wollten sie beide zusammen ins Kino gehen. Kuni hatte Anni ausnahmsweise gebeten, sie im Grünen Baum abzuholen, obwohl sie wusste, dass Annis Vater ihr verboten hatte, in die „amerikanisch verseuchte“ Fürther Altstadt zu gehen.

      „Ich bin gleich fertig, gedulde dich noch einen Augenblick. Übrigens: In der Ecke sitzt ein gutaussehender GI, der sogar Deutsch spricht.“ Annis prüfender Blick wurde mit einem selbstbewussten Lächeln und einem erhobenen Krug erwidert. Kuni hatte das Gefühl, dass Annis naturrote Haare auch bei ihm Gefallen gefunden hatten. Als der große Gutaussehende aufstehen wollte, drückte ihn sein Freund mit irritierender Entschiedenheit wieder auf den Stuhl.

      „Stay seated!“, pfiff er ihn in militärischem Ton zurück. Sichtlich betreten stierte der so Angeschnauzte vor sich hin. „Sorry“. „Never mind“, flüsterte der andere kleinlaut. „Let’s have another beer“, schlug der Kleinere versöhnlich vor. Er gab Kuni ein Handzeichen mit zwei gestreckten Fingern.

      Als sie die Krüge auf den Tisch stellte, spürte sie zwischen den beiden eine angespannte Atmosphäre. Schon nach wenigen Minuten verließen sie das Gasthaus. Der Kleine deutete beim Hinausgehen auf den Tisch mit den zurückgelassenen Dollarscheinen.

      Seit ihrer Kindheit erlebte Anni einen psychisch labilen Vater, der zu unberechenbaren Wutanfällen neigte, vor allem, wenn man seine Verbote missachtete. Aber sie ließ sich nicht von seinem spürbaren Hass auf alles Amerikanische anstecken. Dennoch musste sie all ihre Bedenken und Skrupel überwinden, um Kuni wieder im Grünen Baum abzuholen. Sie spürte aber auch, dass das Lächeln des Unbekannten und der für sie zum Gruß erhobene Krug Eindruck auf sie gemacht hatte. Schon beim Betreten des Gastraums wurde sie von Kuni begrüßt. Als diese bemerkte, dass Anni den Raum sondierte, lächelte sie vielsagend und deutete mit dem Kopf in die hintere Richtung. Die beiden Freunde saßen am selben Tisch wie gestern und hatten ihr Kommen bemerkt.

      An Anni gerichtet, rief der Gutaussehende mit den braunen Augen und den buschigen Augenbrauen laut genug, um das Gebrüll der anderen GIs zu übertönen: „Wollt ihr euch zu uns setzen?“ Kaum war die Einladung ausgesprochen, stand der andere abrupt auf und drängte an Anni vorbei zum Ausgang.

      „Was hat er denn?“, fragte sie irritiert. „Robert ist anfangs immer etwas scheu. Das gibt sich aber mit der Zeit.“ Zögernd nahm Anni Platz auf dem frei gewordenen Stuhl. „Ich bin Mike“, stellte er sich vor, indem er sich kurz erhob. Anni gefiel diese Art alter Höflichkeit. Sie versuchte, auf Englisch zu antworten. „My name is Anni“. „Bleiben wir doch bei deiner Sprache. Pardon, ist Duzen o. k.?“, fragte er nach.

      „Kein Problem. Woher hast du dein gutes Deutsch?“, wollte Anni wissen. „Meine Familie stammt aus Deutschland und wir sprachen zuhause häufig Deutsch.“

      „Soll ich noch etwas bringen, bevor ich hier Schluss mache?“, mischte sich Kuni ein. „Nicht nötig, wir gehen ja gleich“, gab Anni kurz zurück. Sie hatte am Tonfall bemerkt, dass Kuni ihr die Plauderei mit Mike offenbar nicht gönnte oder wegen des anstehenden Kinobesuches drängte.

      Leicht verlegen versuchte Mike, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. „Ich habe dich erst gestern hier gesehen. Aber du scheinst die Bedienung zu kennen.“ „Ja, Kuni ist meine beste Freundin.“ Sie schaute sich forschend nach Kuni um. „Wir kennen uns schon sehr lange.“ Bevor Mike weiter fragen konnte, erklärte sie: „Wir wohnten früher nur einen Steinwurf voneinander entfernt, also in der gleichen Straße.“

      Kuni hatte bereits bei ihren Gästen abkassiert und signalisierte Anni, dass sie gleich gehen könnten. „Kommst du morgen wieder?“, beeilte sich Mike, bevor Anni aufstand und den Stuhl zurechtrückte. „Vielleicht“, kam über ihre Lippen, begleitet von einem schelmischen Blick, der ihm „wahrscheinlich“ signalisieren sollte.

      Als Mike wie vorher seinen Anstand bewies und sich erhob, indem er beide Arme militärisch an den Körper anlegte, merkte sie, dass er einen ganzen Kopf größer war als sie. Sie schätzte ihn auf gut eins neunzig. „Worauf wartest du noch?“, forderte sie Kuni auf. Beim Hinausgehen drehte sich Anni noch einmal um. Mike freute sich sehr über diese kleine Geste, worüber er im gleichen Augenblick erschrak. Noch nie zuvor hatte ihn ein weibliches Wesen interessiert. Spontan fiel ihm der Vers ein, den er von seinem Großvater kannte: ‚Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust‘. Zwei Seelen, die auseinander drängten.

      Am nächsten Tag ließ Anni auf sich warten. Als sie schließlich den stickigen Gastraum betrat, entdeckte sie Mike und seinen Freund gut gelaunt miteinander plaudernd. Mike hatte schon lange den Eingang im Auge behalten. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie erblickte. Noch bevor er entsprechende Worte fand, übernahm diesmal sein Freund die Einladung.

      Mike schien ihm ihren Namen genannt zu haben, denn er sagte „Anni, would you be so nice to join us?“ Fragend blickte sie zu Mike. Er nickte einladend. „Gibt es etwas zu feiern?“, fragte sie, indem sie auf dem dritten Stuhl Platz nahm, den Mike bisher tapfer gegenüber anderen GIs verteidigt hatte.

      Der Kleine erhob sich und stellte sich förmlich vor: „I’m Robert, Robert Brown. Oh yes, you’r right, there is something to be celebrated.“ Offensichtlich hatte Robert ihre Frage verstanden. „It’s Mike‘s birthday“.

      „Willst du dich nicht setzen?“, ermunterte Mike sie, indem er den Stuhl in Position brachte. „Na dann – alles Gute!“, wusste sie nur zu sagen. Sofort orderte Mike ein drittes Bier. „Oder möchtest du etwas anderes?“, ergänzte er. Anni schüttelte nur den Kopf. Ihre roten Backen fielen ihm auf. Als er sie darauf ansprach, ließ sie wissen: „Ich musste heute länger arbeiten. Damit ich nicht allzu spät komme, habe ich mein Fahrrad genommen. Da komme ich immer ins Schwitzen.“ Mike konnte sein Lachen nicht unterdrücken. Da musste sie auch kichern und Robert fiel mit ein. „Noch ein Bier bitte!“ bestellte er auf Deutsch. Kuni war noch zu beschäftigt, um sich schon jetzt zu ihnen zu gesellen.

      Die heitere Stimmung veranlasste Mike zu persönlicheren Fragen. Robert hörte angestrengt zu. Möglicherweise verstand er doch einiges, was die beiden


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