Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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Zeichen in den neutestamentlichen Hss. nimmt das sog. StaurogrammStaurogramm ein (), das ebenfalls früh bezeugt ist (in 45, 66, und 75, also spätestens für die erste Hälfte des 2. Jh.) und zu Beginn innerhalb der Nomen-sacrum-analogen Abkürzung des Substantives σταυρός (), ferner z. T. auch des Verbes σταυρόω (z.B. 75 42vo 25, Lk 24,7Lk 24,7 ) verwendet wurde.109

      Gerade beim StaurogrammStaurogramm ist es sinnfällig, dass es sich dabei um ein ikonographischesLese-ikonographie Zeichen für die Kreuzigung handelt.110 Aber auch die Nomina sacra insgesamt sind Phänomene die nur visuellvisuell wahrgenommen werden können und es erschließt sich nicht, dass sie eine Funktion für ein vermeintliches „lautes“ VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der neutestamentlichen Texte gehabt haben sollten. Eine solche These findet sich z.B. bei C. M. Tuckett, der – einer bestimmten Vorstellung der LesepraxisLese-praxis im frühen ChristentumChristentum in den Befund projizierend – formuliert: Nomina sacra „may have functioned primarily as reading aidsLese-hilfe (reading aid) to assist some who were perhaps not as proficient as others to read the text more easily.”111 Gerade angesichts der Schwierigkeiten des Lesens von scriptio continuaSchriftscriptio continua würden die Nomina sacra „key“ words herausheben: „the intent may been simply to enable the reader to get his/her bearings a little more easily when reading the text, to identify one or two key words in a passage and make the necessary mental adjustments (e.g. by fixing on at least one point where there was a word break) more easily.”112

      Diese These ist nicht zuletzt deshalb fragwürdig, da sie Schwierigkeiten moderner LeserLeser mit der Entzifferung der scriptio continuaSchriftscriptio continua ins frühe ChristentumChristentum projiziert, die sich am Quellenbefund nicht belegen und sich aus Sicht der modernen LeseforschungLese-forschung nicht halten lassen (s. o.). Zudem würde die Auswahl der Wörter unter der Voraussetzung der These äußerst kontingent erschienen, da a) in unterschiedlichen Texten unterschiedliche „key“ words in Frage kämen und b) Namen, die Lesern, weil sie aus dem griechischen Endungssystem herausfallen, tatsächlich Schwierigkeiten bereiten haben, mit einem ApostrophApostroph markiert wurden, wie die Auswertung der hebräische Namen oben gezeigt hat. Hier wäre zu fragen, warum zwei unterschiedliche Markierungssysteme nebeneinander verwendet worden sind. Viel eher sind die Nomina sacra in einem weiteren Sinne einem Phänomen von Elementen in antiken Hss.Handschrift/Manuskript und InschriftenInschriften zuzuordnen, die bewusst für die visuellevisuell Wahrnehmung gestaltet worden sind und in der Forschung zum Lesen in der Antike als eigene Evidenz häufig unberücksichtigt bleibt. Hierzu gehören z.B. AkrostichaAkrostichon, BuchstabenBuch-stabe- und Alphabetspiele, PalindromePalindrom, das Phänomen der IsopsephieIsopsephie, Figurengedichte,113 ferner auch bildliche Darstellungen und kleinere Zeichnungen.114 Daraus folgt insgesamt: Durch die Nomina sacra bekommen die neutestamentlichen, aber auch andere frühchristliche Schriften einen unverwechselbaren „typographischen“ Charakter, in dem die christliche Identität zu Ausdruck kommt und durch den sie bis heute sehr einfach zu identifizieren sind.115

       ad d) Die Breite der Kolumnen

      Zuletzt ist noch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Breite der Kolumnen in antiken Hss.Handschrift/Manuskript und ihrer Verwendung zu besprechen. Diesbezüglich hat Johnson postuliert, die literarischen PapyriPapyrus der Kaiserzeit seien für performative Lesungen im Kontext von Veranstaltungen der sozialen ElitenElite konzipiert gewesen. Dabei rekurriert er insbesondere auf seine systematische Untersuchung des Befundes literarischer Papyri in Oxyrhynchos,116 den er auf der Grundlage kognitionspsychologischerKognitionswissenschaften Erwägungen, die er vor allem aus der oben besprochenen Untersuchung von P. Saenger übernimmt,117 folgendermaßen auswertet: Die durchschnittliche Breite literarischer Texte auf RollenRolle (scroll) war mit 15 bis 25 BuchstabenBuch-stabe so schmal gestaltet,

      “that the whole line could be taken in by the parafovealparafoveal preview vision, and approximated the amount of text typically read by the eye ahead of the voice. The result was that the line beginnings themselves provided natural points for the ocular fixation, and the ‚decoding‘ of the letters could proceed regularly on a line-by-line basis.”118

      Das Problem von Johnsons Argumentation ist hier weniger, dass die zugrunde liegenden Überlegungen P. Saengers auf überholten Forschungspositionen basieren (s. o.). Denn es geht ja hier weniger um die Frage der WorterkennungWort-erkennung in der scriptio continuaSchriftscriptio continua als um den Vorteil schmalerer Kolumnen für den Leseprozess, der – unabhängig von der Frage nach der lautlichen Realisierung – unbestritten ist.119 Das eigentliche Problem besteht darin, dass er die kognitionspsychologischen Vorteile, die für den Leseprozess aus den relativ schmalen Kolumnen erwachsen, ohne weitere Nachweise und Argumentation mit dem performativen VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt verknüpft. Eine solche Vereindeutigung ist aber auf der Grundlage des Befundes in den Hss.Handschrift/Manuskript (s. o.) nicht möglich und projiziert eine postulierte Form der LesepraxisLese-praxis in den Befund hinein. Noch viel schwerer wiegt allerdings, dass die kognitionspsychologischen Vorteile der kürzeren Kolumnen grundsätzlich für andere Modalitäten des Lesens genauso gelten. Dies hat L. Battezzato zuletzt überzeugend nachgewiesen – für die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vielleicht sogar umso stärker. Zunächst bestätigt Battezzato anhand einer Auswertung stichometrischerStichometrie Daten den Befund Johnsons zu den durchschnittlichen Zeilenlängen und zeigt, dass ausgehend von einer älteren Praxis eine Entwicklung zu kürzeren Zeilen in der römischen Kaiserzeit feststellbar ist.120 Anhand antiker Referenzierungspraxis121 und von PapyriPapyrus, die eindeutig nicht für performative Lesezwecke geschriebenSchriftGeschriebenes worden sind, zeigt er dann aber, dass die relativ schmalen Kolumnen auch für eine Form des fast reading/scanning, also für diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich-selektiveUmfangselektiv Zugriffe, also informationsentnehmendes, individuell-konsultierendes Lesen konzipiert sind.

      Battezzato verweist auf P.Berol. inv. 9782, einen Kommentar zu Platons Theaitetos aus dem 2. Jh., der in schmalen Kolumnen (Ø 15 BuchstabenBuch-stabe) geschriebenSchriftGeschriebenes ist, in dem die ZitateZitat aus dem zu kommentierenden Text graphisch (DipleDiple und ParagraphoiParagraphos) klar gekennzeichnet sind und das sogar Zeichnungen enthält (P. H ro col. 2). Zudem verweist er auf P.Oxy. 47 3329, ein Fragment des Lexikons von Diogenianos, und auf P.Ant. 1 28, der Fragmente medizinischerMedizin Schriften von Hippokrates enthält.122 Ergänzen könnte man z.B. noch P.Oxy. 15 1809 (Ø 19 Buchstaben), ein Fragment, das um 100 entstanden ist und umfangreiche Marginalscholien zu Plat.Platon Phaid. 102e enthält, also definitiv als Arbeitsmanuskript verwendet wurde und vermutlich sogar ursprünglich als ein Arbeitsexemplar konzipiert worden ist, worauf die schmalen Kolumnen und der großzügige Platz um den Text herum sprechen.

      Dass relativ schmale Zeilen und die oben diskutierten sog. „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ nicht in einem besonderen Interdependenzverhältnis zu performativen LesepraktikenLese-praxis stehen, wird sodann deutlich, betrachtet man die distinkten Merkmale derjenigen überlieferten Hss.Handschrift/Manuskript, die eindeutig performativen Zusammenhängen zugeordnet werden können.

      1) Einen expliziten Gegenbeleg finden wir in einem BriefBrief von CiceroCicero, Marcus Tullius an Atticus, der letzteren dazu auffordert, sein mit Überarbeitungen und KorrekturenKorrektur (s. auch Evaluation) versehenen Entwurf (ἀρχέτυπον) für eine


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