Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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übertragen (vgl. Cic. Att. 16,5(3),1), wobei es sich um ein Papyrusblatt handelt, das sich durch eine besondere Breite auszeichnete.123 Hier wird also eindeutig ein ManuskriptHandschrift/Manuskript beschrieben, das für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt gedacht war und mutmaßlich breite Kolumnen aufwies. Schon oben habe ich auf eine Hss.Handschrift/Manuskript mit einer Chorstelle aus dem Orestes von Euripides verwiesen, die NotationenNoten für die musikalische Aufführung enthält.124 Es ist nun aufschlussreich, dass eben dieser berühmte PapyrusPapyrus Vindob. G. 2315 (um 200 v. Chr.) deutlich mehr Zeichen pro Zeile enthielt (vermutlich zwischen 25–30) und die Kolumnen mit rekonstruierbaren 15,5 cm deutlich breiter angelegt sind als die Kolumnen in den vermeintlichen Vorlesemanuskripten. Auch andere Papyri mit musikalischer NotationMusik weisen deutlich breitere Kolumnen auf als bloße Textmanuskripte.125 Dieser Befund ist zwar nicht neu, aber nur wenn man a priori davon ausgeht, dass die Textmanuskripte mit den kürzeren Kolumnen für performative Leseanlässe gestaltet waren, erscheint diese Diskrepanz besonders erklärungsbedürftig. So erübrigt sich insbesondere die widersprüchliche Interpretation von W. A. Johnson, der die schmalen Kolumnen in Hss. mit Prosatexten als kognitivkognitiv vorteilhaft für den VorleserVorleser interpretiert (s. o.), zugleich aber auch die breiteren Kolumnen in den Papyri mit musikalischer NotationNoten als kognitiv vorteilhaft für die Musiker erklären muss.126 Demgegenüber vermutet etwa L. Battezzato, dass der Vorteil der breiteren Kolumnen insbesondere darin bestand, bei der Aufführung häufige Zeilen- und (noch entscheidender) Kolumnensprünge zu vermeiden.127

      2) Sekundäre Markierungen durch Benutzer von Hss.Handschrift/Manuskript zeigen, dass Texte für den Vortrag präpariert wurden und die o. g. Merkmale als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ anscheinend nicht suffizient waren.128 Eindeutig sekundär (andere Tinte) sind z.B. die Markierungen in 46 (P.Beatty 2/P. Mich. inv. 6238), die nicht als AkzenteAkzent fungieren.129 Vielmehr handelt es sich um relativ regelmäßig gesetzte, vergleichsweise dicke und recht kurze Striche, die in einem relativ flachen Winkel von etwa 30° von links unten nach rechts oben verlaufen und über den Buchstabenlücken zwischen zwei Worten positioniert worden sind. Es liegt nicht nahe, diese sekundären Eintragungen als von einem Schreiber obligatorisch gesetzte Leseakzente zu beschreiben, die Stellen markieren, „wo ein LeserLeser bzw. ein VorleserVorleser kurz innehalten könnte“.130 Wahrscheinlicher ist m. E., dass es sich bei den Markierungen um die Eintragung eines Benutzers handelt, der das ManuskriptHandschrift/Manuskript für den Vortrag präpariert hat. Dafür spricht z.B., dass nur einzelne Briefe bzw. Briefpassagen markiert sind,131 die Markierungen, wenn sie gesetzt sind, in relativ regelmäßigen Abständen auftreten und weitgehend syntaktischen und inhaltlichen Gesichtspunkten folgen,132 also potentiell Stellen markieren, an denen verstehensfördernde PausenLese-pausen/-unterbrechung gemacht werden können bzw. an denen Luft geholt werden kann. Sehr ähnliche Markierungen finden sich darüber hinaus in 45, und zwar nur in Mk und ActAct, nicht aber in LkLk und JohJoh. Dieses Faktum als Beleg für die ursprünglich „westliche“ Reihenfolge der EvangelienEvangelium (Mt, Joh, Lk, Mk) heranzuziehen, wie T. C. Skeat es tut,133 ist fragwürdig und projiziert ein nicht weiter belegtes, lineares Bearbeitungsverfahren in den Befund hinein.134 Wahrscheinlicher ist angesichts des analogen Befundes in 46 die Annahme, dass ein Leser lediglich die Texte präpariert hat, die er vorlesen wollte.135 Ebenfalls sekundäre Markierungen finden sich in 37, die sich aber wegen des fragmentarischen Zustands der Hs. nicht systematisch auswerten lassen,136 aber häufig am Ende von Phrasen stehen oder im Kontext wörtlicher Rede auftreten, was zumindest auf Vorlesehilfen hindeutet. Ferner finden sich analoge sekundäre Markierungen lt. H. A. Sanders auch in 13 (P.Oxy. 4 657), in 17 (P.Oxy. 8 1078) und im LXXAT/HB/LXX-PapyrusPapyrus 967 (Rahlfs; P.Beatty 7 9–10; P.Köln Theol. 3ff.).137

      Die durchschnittliche Buchstabenzahl von ca. 27–32 BuchstabenBuch-stabe pro Zeile in 46 und im Schnitt ca. 45–50 Buchstaben pro Zeile in 45 übersteigt im Übrigen deutlich die von Johnson angegebenen Werte von 15 bis 25 Buchstaben für literarische Texte, die s. E. auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt optimal zugeschnitten wäre (s. o.). Der Befund in 46 und noch mehr in 45, deren Kolumnenbreite eher den PapyriPapyrus mit musikalischer NotationNoten entspricht, spricht daher zusätzlich gegen diese Annahme.

      Aus dem Befund von sekundären Markierungen durch LeserLeser in den besprochenen Hss.Handschrift/Manuskript ist auch nicht zu schließen, dass die meisten performersBiblical Performance Criticism keine Markierungen eingetragen hätten.138 Dies setzt wiederum a priori voraus, dass die erhaltenen Manuskripte grundsätzlich für gottesdienstlicheGottesdienst bzw. performative Lesungen gedacht gewesen sind.

      Es ist festzuhalten: Nur wenige der erhaltenen Hss.Handschrift/Manuskript gehören eindeutig in einen performativen Zusammenhang. Viele der diskutierten Indizien deuten sogar darauf hin, dass ein Großteil der frühen Hss. eher für die individuelle, primär visuellvisuell konzipierte Lektüre verwendet wurden.139 Damit stehen insgesamt auch viele der Kriterien zur Disposition, nach denen S. D. Charlesworth die neutestamentlichen PapyriPapyrus in privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat und offizielle unterteilt.140 Offen bleibt jedoch, inwiefern der regional auf Ägypten beschränkte Befund, zeitlich auf das 1. Jh. und die erste Hälfte des 2. Jh. übertragen werden kann (also auf die Autographen bzw. auf frühe Sammlungen/EditionenEdition) und ob daraus Schlussfolgerungen über den Charakter und das Aussehen der Hss. gemacht werden können, die in den Zentren der östlichen und westlichen Mittelmeerwelt (insbesondere Rom und Ephesus) entstanden und gelesen worden sind. Immerhin stammen die Papyri ja aus den trockenen Gebieten des ägyptischen Hinterlandes und schon die Frage des Zusammenhangs zu Alexandria ist nicht einfach zu beantworten.

      In jedem Fall problematisch erscheint es mir allerdings, davon auszugehen, dass die Autographen bzw. die Hss.Handschrift/Manuskript des „AusgangstextesAusgangstext“ bzw. früher Sammlungen oder EditionenEdition in „reiner“ scriptio continuaSchriftscriptio continua geschriebenSchriftGeschriebenes waren.141 Muss man nicht vor dem Hintergrund antiker Schreiberpraxis und dem Hss.-Befund in seiner ganzen Breite insgesamt davon ausgehen, dass auch diese Hss. ein gewisses Maß an Strukturmarkern, diakritischenDiakritika Zeichen o. ä. aufwiesen? Allerdings ist die Form dieser Manuskripte mit großer Sicherheit nicht mehr rekonstruierbar, da die Schreibgewohnheiten von Paulus bzw. eines „Paulussekretärs“, der VerfasserAutor/Verfasser der EvangelienEvangelium, von den Verfassern der zahlreichen PseudepigraphenPseudepigraphie, aber auch von mutmaßlichen Redaktoren usw. nicht mehr zu erheben sind und der Befund in den neutestamentlichen Hss. zu heterogen ist, um daraus sichere Schlussfolgerungen zu ziehen.

      4.4 Zwischenfazit und die Frage nach der Repräsentation von Klang in der Schrift

      Für antike LeserLeser war das Lesen von Texten in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht mit besonderen kognitivenkognitiv Schwierigkeiten verbunden. Eine vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend


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