Demokratietheorien. Rieke Trimcev
Unabhängigkeit gegen das hegemoniale Bestreben der Visconti verteidigen musste, die seit 1277 Mailand beherrschten, gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Königreich zu errichten strebten und die Autonomie der meisten Städte im Norden und vieler in Mittelitalien beendeten. Italien als Ganzes war seinerzeit durch Parteikämpfe zerrissen. Seit dem Ende der Staufer waren die italienischen Stadtrepubliken in permanente Kriege miteinander verstrickt, aus denen die Pentarchie der fünf großen Signorien oder Principati Florenz, Mailand, Venedig, Rom und Neapel hervorgegangen war. Italien wurde ferner zum Objekt der Begierde der um Vorherrschaft in Europa kämpfenden Großmächte. Die italienischen Städte mussten fürchten, in den Konflikten zwischen Habsburgern, Frankreich und Aragon zerrieben zu werden, und sich folglich nicht nur gegeneinander verteidigen, sondern auch gegen die drohende Fremdherrschaft zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlasste die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio humana und trieb sie auf die Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie – wieder einmal – in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Im Bemühen um Abwehr der Fremdherrschaft und Aufrechterhaltung der republikanischen Ordnung aktualisierten die humanistischen Denker der Frührenaissance in Florenz die antike Partizipations- und Selbstverwaltungsidee.
In allen Feldern von Kunst und Wissenschaft wurde die griechisch-römische Antike zum Orientierungsmuster und gegen die Werte und Prinzipien der jüdisch-christlichen Tradition geltend gemacht. Durch Rückbesinnung auf die griechische Polis bzw. die römische Republik, d. h. auf Aristoteles und/oder Cicero, wurde der Florentiner Republikanismus oder Bürgerhumanismus (Hans Baron) begründet, der die antiken Bürgertugenden beschwor und das Ideal einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft freier, gleicher und wehrhafter Aktivbürger entwickelte. In einer Radikalisierung und Politisierung der humanistischen Positionen Francesco Petrarcas (1304-1374) erinnerten Coluccio Salutati, Leonardo Bruni, Leon Battista Alberti, Matteo Palmieriu. a. an die Sitten der Väter, die einst Roms Größe erwirkten, und begründeten gegen das Einheits- und Hegemoniestreben der Visconti die libertas Italiae, die Freiheit der republikanisch verfassten Stadtstaaten. Sie erneuerten die klassische Überzeugung, die Persönlichkeit des Individuums gelange erst durch die Teilnahme am Leben der polis und res publica zu moralischer und intellektueller Reife, ein vollkommenes Leben bestehe in der Verbindung von intellektueller Muße und ehrenhafter Tätigkeit in einer wohlgeordneten Republik.2 Es entwickelte sich folglich ein ethischpolitischer Diskurs, der dem politischen Engagement der Bürger Eigenwertigkeit zuschrieb. Die politische Ordnung beruht nicht auf göttlicher Gnade, sondern auf der virtù, der Tugend der Bürger, die ihren Lebenssinn einerseits in der Kontemplation, andererseits in der Interaktion mit ihresgleichen suchen. Die Selbstverwirklichung des aus den Banden der Herkunft emanzipierten Individuums kann demnach nur gelingen, wenn es sich als aktiver Teil der Bürgerschaft begreift.
Zwar verblasste der Optimismus im Lauf des 15. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs mächtiger Adelsfamilien, die das politische Leben der Bürgerschaft unterdrückten und die Republik in die Signorie, die monokratische Herrschaft einzelner Männer, transformierten, doch lebte der republikanische Gedanke und der durch ihn entfachte Tugenddiskurs fort. Im 16. Jahrhundert wurde er durch Niccolò Machiavelli (1469-1527) erneuert und zur Inspirationsquelle der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionäre.3 Verharrten die frühen Humanisten noch im Rahmen der christlichen Weltanschauung, die sie durch die alten Wertvorstellungen zu erweitern und zu beleben suchten, so betonte Machiavelli die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Welten, um die Synthese aufzusprengen und der „verweiblichten“ christlichen Ethik die „männliche“ der alten Römer entgegenzustellen, d. h. die Politik aus der religiösen Bevormundung und den von ihr erzeugten Skrupeln zu befreien. Gegen die Maximen der christlichen Sozialethik – Gottes- und Nächstenliebe, Leben in Demut und Bescheidenheit, Barmherzigkeit und Feindesliebe, Verachtung der irdischen Güter, Glaube an ein Leben nach dem Tod usw. – stellte er den heidnischen Wertekanon, der sich auf die Jetztzeit konzentriert und die klassischen Tugenden der Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit sowie vor allem Stärke und Standhaftigkeit, Disziplin und Vaterlandsliebe propagiert. Getrieben von der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen und nach Befreiung des von fremden Mächten belagerten Italiens entwarf Machiavelli die Maximen einer Politik, die keine Rücksicht nimmt auf die Gebote der christlichen Ethik und die Bedürfnisse der Einzelnen und Familien, sondern sie dem Interesse des Staates unterordnet. So wurde er zum Begründer der Staatsraison, dem Leitstern der frühneuzeitlichen Politik.
Im Principe (1513), in den Discorsi (1513-1522) sowie in seiner Geschichte der Stadt Florenz (1520-1525) unternahm Machiavelli eine schonungslose Analyse der geschichtlichen Lage. Darin wurde Selbstbehauptung anstatt Selbststeigerung zum Ausgangspunkt und Grundprinzip der politischen Theorie, womit zugleich die empirisch-analytische, d. h. die nicht- oder anti-normativistische Politikbeobachtung einsetzte, wie sie noch heute die Politikwissenschaft dominiert. An die Stelle teleologischer Prämissen trat die Frage nach Regel- und Gesetzmäßigkeiten. Zweck des Politischen sollte nur mehr die Sicherung des Friedens, die Freiheit Italiens und seine staatliche Einheit sein. Alle Mittel, die diesem obersten Ziel dienen konnten, mussten recht sein. Zwar war Machiavelli ein Anhänger der Republik, doch hatte er als junger Mann den mit seiner Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen jämmerlich scheiternden Versuch Savonarolas miterlebt, eine direktdemokratische Ordnung in Florenz zu etablieren (1494-1498), und daraus den Schluss gezogen, unter den gegebenen Bedingungen sei eine kraftvolle Monarchie vorzuziehen. Zur Herstellung des Friedens und um dem allgemeinen Sittenverfall zu begegnen, schien es ihm deshalb geboten, dem Fürsten Zugeständnisse zu machen, ihn aus der Bindung an Recht und Gesetz zu entlassen und allein auf seine Tüchtigkeit und seinen Verstand zu vertrauen, seine virtù und ragione, durch die er die Notwendigkeit und das Glück bezwingen kann, die ehernen Geschichtsmächte necessità und fortuna.
Damit begründete der Florentiner jene Politiktradition, die bis heute unter dem pejorativen Titel Machiavellismus zusammengefasst und als skrupellose Machtpolitik oder „Dämonie“ perhorresziert wird. Machiavelli selbst war jedoch kein Machiavellist, sondern verzehrte sich in der patriotischen Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen Italiens und seiner Befreiung von französischer, deutscher und päpstlicher Fremdherrschaft. Durch seine so motivierten theoretischen Leistungen wurde er zum bahnbrechenden Klassiker des politischen Denkens und zum Ausgangspunkt zweier gegensätzlicher politischer Strömungen. Seine theoretische Neuerung liegt in der Emanzipation des Politikdenkens von den überkommenen religiösen und moralisch-sittlichen Einbindungen. Er schuf eine Terminologie, die es erlaubte, politische Interessen (wieder) in ihrer autonomen Logik wahrzunehmen und ihr gemäß zu definieren und auch zu verfolgen. Diese Einsicht verpflichtete ihn aber keineswegs auf die Tradition des Etatismus (Staatsraison), wie er sie in seinem Principe begründete. Vielmehr konnte sich die aus der religiösen Obhut entlassene Politik durchaus auch republikanisch entfalten – das zeigen die Discorsi, mit denen Machiavelli den Florentiner Bürgerhumanismus beerbte und eine anti-etatistische Denkschule begründete, die den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in der Amerikanischen und Französischen Revolution erreichte und heute von einigen Autoren wiederbelebt wird. Zwar hatte der gelernte Jurist nur geringe philosophische Kenntnisse, doch gerade dies verschaffte ihm die Distanz, die den radikalen Bruch mit der Tradition und einen Neuanfang ermöglichte. Indem er die christliche Ethik verwarf, gewann Machiavelli eine Position, von der aus die Phänomene der politischen Welt nicht mehr heilsgeschichtlich verklärt erscheinen mussten, sondern in ihrem Eigensinn begriffen werden konnten.
Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangte – von völlig verschiedenem Ausgangspunkt her und fast in konträrem Interesse – Machiavellis Zeitgenosse Martin Luther (1483-1546), der die virulente Kritik an der Papstkirche radikalisierte und die Religion aus dem Quellgrund des christlichen Glaubens erneuern wollte. Ihre Symbiose mit der Politik musste aufgelöst werden! In der Vermischung von Weltlichem und Geistlichem erblickte Luther das Grundübel seiner Zeit, das ein für alle Mal zu beseitigen war. Ausgehend vom urchristlichen Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe begründete er die Notwendigkeit einer prinzipiellen Trennung von Religion und