Demokratietheorien. Rieke Trimcev
Auf Seiten des Wochenschau Verlages danken wir Dr. Tessa Debus und Dr. Birgit Wolter, die auch diese 10. Auflage engagiert begleitet haben, für die bewährte Zusammenarbeit.
Greifswald und Mainzim August 2021
Anmerkungen
1 1 Ernst Fraenkel: Akademische Erziehung und politische Berufe (1955). In: Ders.: Gesammelte Schriften Band 6. Baden-Baden 2011, S. 341-372, Zitat S. 348.
2 2 Vgl. Michael Th. Greven: Zukunft oder Erosion der Demokratie? (2010) In: Ders.: Die Erosion der Demokratie. Wiesbaden 2020, S. 155-178, Zitat S. 168.
3 3 Vgl. Hubertus Buchstein: Demokratiepolitik. Theoriebiographische Studien zu deutschen Nachkriegspolitologen. Baden-Baden 2012, S. 11-14.
Klaus Roth
Die Fundamente unseres Politikdenkens wurden von den alten Griechen gelegt, die im Rahmen der antiken Polis erstmals in der Weltgeschichte die Selbstbestimmung und -verwaltung autarker Bürgerschaften unter Mitwirkung breiter Schichten der Bevölkerung praktizierten und im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert direkte oder unmittelbare Demokratien realisierten.1 Die von ihnen erfundene Politik basierte auf der Trennung des Öffentlichen vom Privaten, auf der Abdrängung der wirtschaftlichen Angelegenheiten in die Privatsphäre der Familien und auf der Verselbstständigung und Auslagerung eines spezifischen Handlungsfeldes aus dem natürlichen Lebenszusammenhang. Ihr Ziel und Zweck (telos) war die – als Selbstzweck gedachte – Interaktion der freien Bürger, das Miteinander-Reden und Handeln, der geregelte Streit, die Verfolgung gemeinsamer Ziele durch kollektives Handeln, die Konstitution und Organisation familienübergreifender Kollektive und ihrer Beziehungen zueinander. Ihr Resultat war die historisch einmalige Organisation von Bürgergemeinden (Poleis), von staatsfreien Verbands- und Handlungseinheiten, die über den Familien und den natürlichen Abstammungs- und Kultgemeinschaften, den Phylen und Phratrien, angesiedelt waren, wirtschaftlich und politisch unabhängig waren und von der Gesamtheit aller freien Bürger (männlichen Geschlechts) konstituiert und verwaltet wurden. Folge der Entstehung der Polis und des Politischen war die Durchbrechung der altaristokratischen Kette von Schuld und Sühne, Hass und Gewalt, Rache und Gegenrache, die Eindämmung der Fehden und die Zivilisierung der Menschen, die in der Politik einen friedlichen und rationalen Umgang miteinander erlernten.2
Infolge der Erfindung des Politischen bildete sich für die freien Bürger eine Art Doppelleben aus: Neben oder oberhalb des „häuslichen“ Lebens entwickelte sich das „politische“ Leben. Im Haus, im eigenen Oikos, sorgte jeder für sich und seine Familie, in der Polis hingegen für das Wohl der Stadt und für die Interessen der Gesamtheit. Mit den wirtschaftlichen Belangen wurde zugleich die Herrschaft in den Oikos verlagert. Die Politik ereignete sich im Zusammentreffen Freier und Gleicher, die durch keinerlei Befehls-Gehorsams-Beziehungen miteinander verbunden waren. Diese hatten ihren Ort in der vorpolitischen Sphäre der Familie, im Oikos, der alles umfasste, was zum antiken „Haushalt“ gehörte. Hier herrschten die Hausvorsteher als Despoten über ihre Frauen, Kinder und Sklaven.3 Der politische Bereich hingegen wurde von freien und rechtlich gleichgestellten Bürgern konstituiert. Voraussetzung dafür und für das Engagement breiter Bürgerschichten war die Existenz von Sklaven, die für die Subsistenz zu sorgen hatten. Funktionsbedingung der Polis und der Politik war ferner der Ausschluss von ortsansässigen Fremden (Metöken) sowie von Frauen, denen jegliches Bürgerrecht verweigert wurde. Frauen hatten – als Mädchen, Gattinnen und Mütter – ihre Pflichten im Oikos zu erfüllen. Sie wurden von allen öffentlichen Plätzen und Angelegenheiten ferngehalten.
Mit den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) wurde in Athen – und in der Folge in zahlreichen weiteren griechischen Gemeinwesen – die Aristokratie entmachtet, allgemeine Rechtsgleichheit (Isonomie) als Vorstufe der Demokratie und eine auf der Partizipation aller freien Bürger basierende politische Ordnung institutionalisiert. Der alte Adel verlor seine Vorherrschaft und musste sich fortan mit den unteren Volksschichten auseinandersetzen und arrangieren. Die politische Macht (kratos) geriet in die Hände des „gemeinen Volkes“ (demos), das seine erlangte Freiheit zur politischen Selbstbestimmung, zur öffentlich-diskursiven Willensbildung, zur strengen Kontrolle und zeitlichen Begrenzung der durch Los besetzten Ämter und zur kollektiven Verwirklichung gemeinwohldienlicher Projekte nutzte.4 Zwar existierte die alte, vom Adel dominierte Ordnung zunächst neben der neuen fort, doch wurden ihr wichtige Funktionen entzogen. Der Areopag, der alte Adelsrat, blieb zuständig für die Blutgerichtsbarkeit und für die Aufsicht über die Beamten, doch verlor er auch diese Rolle noch, als ihn die Bürgerschaft unter Führung des Ephialtes 462/61 v. Chr. gänzlich entmachtete, zahlreiche Areopagiten ermordete oder verjagte und in der Folge alle Ämter demokratisch besetzte und kontrollierte. Künftig wurden alle Entscheidungen in der Volksversammlung getroffen, die nun alleine die Oberhoheit ausübte. Durch den Sturz des Areopags wurde der Weg frei zu einer radikalen Demokratie, die in der Zeit des Perikles ihre größten Triumphe feierte und eine kulturelle Blüte ermöglichte, die späteren Zeiten als nie wieder erreichtes Vorbild erschien. Die Gestaltung des Gemeinschaftslebens wurde zur Aufgabe und Pflicht aller Bürger, die ferner an der Selbstverwaltung partizipieren mussten und ihren Beitrag zur Schaffung von Ordnung zu leisten hatten. Durch das Losprinzip und durch die Begrenzung der Amtsdauer wurde gesichert, dass möglichst viele Bürger mindestens einmal im Leben ein politisches Amt übernehmen konnten oder mussten.5
War die Polis einerseits ein Ort der Entspannung und des Zeitvertreibs, der Eintracht und des „ewigen Gespräches“, so war sie andererseits eine Stätte des Streits und der erzwungenen Dienstleistung. Anstatt dem Bürger Freiheits- und Rückzugsrechte zu gewähren, verpflichtete sie ihn zu den unterschiedlichsten Aktivitäten und nahm ihn vollauf in Dienst.6 Wer sich dem politischen Leben verweigerte, verlor seine Bürgerrechte, wurde als „Idiot“, als Eigenbrötler betrachtet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.7 Trotz (oder wegen?) dieser Militanz wurde das politische Engagement im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Athen zum Lebensmittelpunkt der freien Bürger männlichen Geschlechts.8 Infolge des Ionischen Aufstandes (500-494 v. Chr.) und der Perserkriege (490-479 v. Chr.) festigte sich die Bürgeridentität. Die Politik avancierte zu einem eigenständigen und autonomen Betätigungsfeld, dem eine höhere Dignität zugesprochen wurde als der Sphäre der materiellen Produktion und Reproduktion, der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz. Allerdings entwickelten die Athener zugleich einen ungezügelten, von keiner humanistischen Moral gebremsten Machtinstinkt, der sie zu einer rücksichtslosen Politik gegenüber ihren Partnern im Attischen Seebund verleitete. Dadurch kam es zum Bruch mit Sparta, der den mörderischen Bruderkrieg zwischen beiden Städten auslöste und den Niedergang der demokratischen Polis einleitete.