Janowitz. Rolf Schneider

Janowitz - Rolf  Schneider


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Automobil hielt in Tabor. Kraus stieg aus, der Mietchauffeur fuhr weiter, da er den Tank füllen wollte. Kraus betrat ein Kaffeehaus, das er von früheren Aufenthalten kannte, er suchte sich einen Platz und bestellte einen Mokka. Der Kellner, klein, glatzköpfig und agil, war offenbar Tscheche, erkennbar an seinem Akzent. Ein paar Tische entfernt saßen zwei Offiziere, über ihnen, an der Wand, hing ein Bildnis des greisen Kaisers Franz Joseph.

      Kraus dachte daran, dass Tabor so etwas wie ein Standort des tschechischen Nationalbewusstseins war. Hier hatten sich die radikalsten Anhänger des böhmischen Reformtheologen Jan Hus versammelt, unter Führung des einäugigen Jan Žižka, auf den der erste der Prager Fensterstürze zurückging. Hatte er, Kraus, eine Beziehung zum tschechischen Nationalbewusstsein? Er war in Böhmen geboren, in Gitschin, freilich schon als Dreijähriger mit den Eltern nach Wien gezogen, seither hatte er durchgängig in Wien gelebt. Die Tschechen waren eine österreichische Volksgruppe unter anderen, sie vertraten autonomistische Ansprüche, denen man nachgeben konnte oder nicht, jedenfalls bedrohten sie damit das ohnehin höchst fragile Gefüge des Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Immerhin gab es auch Tschechen, die sich mit den obwaltenden Zuständen konfliktlos abfanden und es dabei zu ansehnlichen Karrieren brachten. Die Nádherný von Borutín aus Janowitz gehörten zu ihnen.

      Erzherzog Franz Ferdinand, der soeben ermordete Thronfolger, hatte eine Aristokratin aus Böhmen geehelicht. Das böhmische Konopischt war sein Vorzugsaufenthalt gewesen. Er hatte sich für eine stärkere Unabhängigkeit der Tschechen eingesetzt, den sogenannten Tripelausgleich, wodurch Böhmen eine vergleichbare Autonomie erhalten sollte wie Ungarn. Das Vorhaben war in Wien auf höhnische Ablehnung gestoßen und hatte Franz Ferdinands ohnehin kümmerliches Ansehen weiter beschädigt. Sein Tod in Sarajevo war am kaiserlichen Hof auf kaum mehr als allerhöflichste Betroffenheit gestoßen.

      Kraus mochte den toten Erzherzog. Er sah in ihm einen ungestümen altösterreichischen Boten, der eine kranke Zeit wecken wollte, auf dass sie nicht ihren Tod verschlafe, während diese nunmehr den seinen verschlief. So formuliert es der umfangreiche Nachruf im letzten Heft der »Fackel«. Franz Ferdinand war die Hoffnung dieses Staats für alle, die da glauben, dass gerade im Vorland des großen Chaos ein geordnetes Staatsleben durchzusetzen sei.

      Er blickte zum Fenster. Auf der Scheibe saßen Fliegen, dahinter war der Turm der Marktkirche. Die beiden Offiziere riefen nach dem Kellner, sie nannten ihn Herr Jaroslav, die Offiziere benötigten neuen Veltliner.

      Radikale Anhänger des Jan Hus hießen Taboriten, nach der Stadt, in der Kraus sich jetzt aufhielt. Unter den ansonsten eher sanftmütigen Böhmischen Brüdern vertraten sie die Sache der Gewalt und suchten schließlich halb Mitteleuropa militärisch heim. Kraus hasste den Krieg. Von den Böhmischen Brüdern wusste er nicht viel, er hatte sich, das war jetzt drei Jahre her, in der Wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen lassen, nachdem er zwölf Jahre zuvor aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten war. Warum er dies getan hatte? Der gesellschaftliche Opportunismus, der den von ihm verabscheuten Heinrich Heine in die Konversion getrieben hatte, ließ sich bei ihm ausschließen. Dass er auch an der katholischen Kirche zweifelte, begann in jenem Augenblick, da er ihr beitrat. Es war möglich, dass er sie eines vielleicht gar nicht fernen Tages wieder verließ. In der »Fackel« stand: Ein Mediziner, der fromm ist? Er kann bestreiten, dass die Kirche einen guten Magen hat. Aber dass im Weihwasser Bakterien vorkommen, muss er unbedingt zugeben. Freilich hatte er dies vier Jahre vor seiner Taufe geschrieben.

      Er blieb einmal geäußerten Ideen nicht unerschütterlich treu. Er verhielt sich darin nicht viel anders als in der Beziehung zu vormals geschätzten Personen. Er bekannte sich dazu. Er achtete durchaus auch Menschen, deren Überzeugungen er nicht teilen mochte, bei denen er gleichwohl Brillanz und Genialität erkannte. Das galt etwa für Otto Weininger. Ein Frauenverehrer stimme den Argumenten von dessen Frauenverachtung mit Begeisterung zu, hatte er einst dem Autor geschrieben, nach der Lektüre von »Geschlecht und Charakter«. Was faszinierte ihn an dem Mann, der sich umgebracht hatte, da er die eigene jüdische Existenz nicht länger ertrug? War es dessen Antisemitismus? Dem er, Kraus, seinerseits anhing, irgendwie? Die Juden, hatte Weininger gesagt, hielten nie etwas für echt, unumstößlich, heilig und unverletzbar, daher seien sie überall frivol und bewitzelten alles. Dem Juden Heinrich Heine hatte er, Kraus, Vergleichbares nachgeredet, der umfangreiche Aufsatz zum Thema war in jenem Jahr erschienen, da er sich hatte taufen lassen.

      No, es liegt halt Pulverdampf in der Luft!, rief einer der beiden Offiziere. Er lachte dazu und hob sein Weinglas, die beiden Männer waren offenbar angetrunken. Die Aussicht auf einen Krieg schien sie zu beflügeln, sie waren Soldaten, Krieg war ihr Geschäft. Die Mordtat von Sarajevo konnte zu weiterem Blutvergießen führen, nicht bloß am Balkan; auf einem Tisch neben Kraus lagen mehrere eingespannte Zeitungen aus, die zwei deutschsprachigen Blätter Prags, auch ein tschechisches Journal, und natürlich, Kraus sah es voller Verachtung, die Neue Freie Presse aus Wien. Er sah Schlagzeilen, die von österreichischen Drohungen gegenüber Serbien handelten. Würde es zu einem militärischen Angriff führen? Gab es keine Diplomatie mehr? War die Politik ratlos oder blindwütig? Politik, hatte er einmal geschrieben, sei das, was man mache, um nicht zu zeigen, was man sei und was man selbst nicht wisse.

      Hinter dem Fenster, sah er, hielt sein Automobil. Er rief nach dem Kellner, um seinen Mokka zu bezahlen. Als er aufstand, brachen die beiden Offiziere unvermutet in angetrunkenes Gelächter aus.

      Sie waren eine halbe Stunde im Park unterwegs gewesen. Der Dichter schien erschöpft, offenbar hatten ihn sein Prag-Aufenthalt und die anschließende Fahrt nach Janowitz angestrengt. Auf den Wegen zwischen den Blumenrabatten hatte er Sidonies Hand ergriffen, um sie nicht mehr freizugeben, die seine war sonderbar kraftlos und etwas feucht. Sidonie fand die Berührung zudringlich, was ihr gleichwohl gefiel, sie zog ihre Hand nicht zurück.

      Unter der Tür sagte Rilke, er wolle sich jetzt auf sein Zimmer begeben, um einen Brief zu vollenden. Der Brief, sagte er, gehe an Clara Westhoff, seine Frau.

      Ah, sagte Sidonie, Sie sind noch verheiratet? Wollten Sie sich nicht scheiden lassen?

      Es ergab sich nicht, sagte er. Ich fühle Verpflichtungen. Auch wegen Ruth, unserer Tochter. Sie wissen, wie hochbegabt Clara ist, denken Sie nur an die schöne Büste, die sie von Ihnen geschaffen hat. Sie ist eine Künstlerin durch und durch. Leider sehe ich die beiden zu selten, Clara und Ruth. Clara hat Verständnis dafür. Sie weiß, ich besitze unstete Nerven. Immerfort treiben mich Schmerzen, Neugierde, Unruhe, Sehnsüchte, auch Frauen. Sie treiben mich hierher. Wie kann ich zugleich bei Clara sein und bei Ihnen?

      Hier sind Sie jedenfalls stets willkommen.

      Er lächelte matt. Er liebkoste ihre Hand, verbeugte sich etwas und wandte sich der Treppe zu. Sie suchte sich einen Korbsessel und setzte sich neben ein Fenster. Sie griff nach dem Roman, den sie sich jüngst hatte schicken lassen, »The Man of Property« von John Galsworthy, der Autor, hatte sie gelesen, galt in Großbritannien als ein bedeutendes Talent. Sie blätterte in dem Buch, las ein paar Sätze und ließ es sinken.

      Die Porträtbüste, die Rilkes Frau von ihr verfertigt hatte, war in Paris entstanden, auf Rilkes Drängen hin. Clara Westhoff war eine kräftige Frau mit vorspringendem Kinn, großen Händen und tiefer Stimme, der Dichter wirkte zierlich und unscheinbar neben ihr. Sidonie dachte an die Sitzungen im Atelier der Bildhauerin, die über viele Stunden gingen und in denen sie sich möglichst wenig bewegen sollte. So wie zuvor auch bei Max Švabinsky. Die Erinnerung an den Maler war nicht sehr angenehm. Er hatte ihr geschmeichelt, er hatte ihr geschrieben, er war zu Besuch nach Janowitz gekommen, zusammen mit einer ältlichen Person, die seine Ehefrau war. Er hatte von Sidonie Skizzen angefertigt, anschließend das große Porträt begonnen und sie berührt, flüchtig zunächst, dann intensiver, immer wieder, was ihr anfangs peinlich gewesen war, ehe es sie zu schmeicheln begann. Schließlich wurde sie seine Geliebte.

      Für Švabinsky war es ein erotisches Abenteuer, deren er mehrere hatte. Vielleicht dachte er, dass sie es ähnlich nahm, aber sie nahm es nicht so, vielmehr brachte sie in die Beziehung ein hohes Maß an Gefühl, Zuneigung und Anhänglichkeit ein. Sie legte sich eine Wohnung zu in Prag. Sie traf den Geliebten heimlich, Švabinsky, ein verheirateter Mann, hatte bei der gutbürgerlichen Gesellschaft Prags, in der und von der er lebte, auf seinen


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