In aller Stille. Wolfgang Breuer
Jule Homrighausen winkte ab, schniefte in ein Taschentuch und schaute sofort wieder herüber zu dem Mann auf der Straße, der gerade auf eine Notfalldecke und ein Kissen gebettet worden war. Abermals dröhnten Martinshörner in der Odebornstadt.
„Der ist mir einfach auf die Haube geflogen. Unglaublich. Auf einmal kam er angeflogen.“ Die BMW-Fahrerin berichtete mit weit aufgerissenen Augen von einem Erlebnis, das keiner so recht glauben mochte.
„Er kam angeflogen?“ Jule musste einen gewaltigen Schock abbekommen haben. Da war sich Hannes sicher.
Er kannte die Frau von Kindesbeinen an, war gemeinsam mit ihr zur Schule gegangen. Bis zur Mittleren Reife. Dann war sie in eine kaufmännische Ausbildung eingestiegen. Er hatte noch das Fachabitur nachgelegt, wollte Sozialpädagoge werden. Damit war er allerdings grandios gescheitert, drohte gar total abzurutschen. Nach Jahren der Um- und Neuorientierung und mindestens einem Dutzend unterschiedlichster Jobs, hatte er schließlich die zündende und gleichermaßen lukrative Idee vom Schnellimbiss, an dieser Entlastungsstraße der B 480. Seine Eltern hatten ihm Wagen und Ausstattung finanziert. Keine sonderlich belastende Hypothek. Denn der Imbisswagen wurde zum Selbstläufer.
Der erste Rettungswagen traf ein. Und kurz darauf der Wagen mit dem Notarzt. Eilig machten sich die Besatzungen daran, den Schwerverletzten auf der Straße grob zu untersuchen, zu intubieren, Infusionen und EKG-Elektroden zu legen und ihm eine Halskrause zu verpassen. Mit äußerster Vorsicht betteten sie den Mann auf eine Art aufgeblasene Unterlage, aus der augenblicklich die Luft abgelassen wurde. So passte sich das Teil der Körperform an, was den Transport bei eventuellen Wirbelsäulenverletzungen bedeutend risikoärmer und für den Verletzten erträglicher machte.
Hannes Schöler hatte ihn längst erkannt. Trotz seiner blutenden Wunden. Der Mann auf der Trage war der vermeintliche Pole, der vor seinem Imbiss mit dem Messer gedroht hatte. ‚Mein Gott, hat es den übel erwischt’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Aber wo war der Mann, nachdem er den Imbiss verlassen hatte? Und von woher kam er „geflogen?“’ Vergeblich versuchte er, etwas von den Gesprächen des Rettungsteams mitzubekommen. Er wollte etwas über den Zustand des nach wie vor Regungslosen wissen, der jetzt in den Krankentransporter gehievt wurde. Dann schloss sich die Tür des rot-weißen DRK-Wagens hinter den Helfern.
Schon hörte man das nächste Martinshorn. Ein Polizeifahrzeug kam zügig heran, ein weiteres positionierte sich an der Odebornbrücke vor der Gunsetal. Die Limburgstraße wurde gesperrt, der Verkehr nach oben über die Ederstraße umgeleitet. Am anderen Ende an der Emil-Wolf-Straße hatten sie wohl ähnliches gemacht. Außer einem zweiten Rettungswagen kam nämlich von dort nichts mehr.
Während Frau Homrighausen behutsam zum anderen Sanka geführt wurde, versuchten zwei Polizisten, sich ein Bild von dem Unfall zu machen. Doch niemand der Umherstehenden hatte den Polen beobachtet. Keiner war auffindbar, der zur Wahrheitsfindung hätte beitragen können.
„Die Fahrerin sagt, er sei einfach angeflogen gekommen und auf ihr Auto gekracht.“ Hannes hatte sich sachte an die Beamten heran geschoben und sein Wissen preisgegeben, um sie nicht ganz ahnungslos zu lassen. Denn aus den Krankenwagen war ja zunächst nichts zu erfahren. Auch für die Männer in blau nicht.
„Ja wie …, kam einfach angeflogen. Was meinte sie denn damit?“ Polizeihauptmeister Jürgen Winter hatte bei seiner Frage den Kopf etwas schief gehalten und schaute eher ungläubig aus der Dienstwäsche. Polizeiobermeister Pattrick Born nicht minder. „Will sie damit etwa sagen, dass ihr der Mann von der Seite her auf die Haube gesprungen ist? Kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Im Übrigen gibt es bestimmt sicherere Arten sich umzubringen.“
„Ich habe nicht die mindeste Ahnung, was Frau Homrighausen damit sagen wollte. Sie zeigte sich nur völlig entsetzt über das Geschehene. Wir hatten auch keine Gelegenheit, ausführlicher darüber zu reden.“
„Aha, Homrighausen heißt die Dame. Kennen Sie auch ihren Vornamen?“
„Na klar. Jule …, genauer gesagt Juliane. Geboren irgendwann im Juli 1969.“
„Prima, danke. Sie kennen die Frau offenbar näher.“
„Nicht näher. Aber schon länger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
Der Pommeskocher ließ seine Blicke wandern und blieb dabei schließlich an der demolierten BMW-Haube kleben. „Wissen Sie was?!? Wenn ich mir das hier anschaue, dann muss der Pole tatsächlich geflogen gekommen sein. Aber nicht von der Seite, sondern von schräg oben.“
„Wie kommen Sie denn darauf“, wollte Winter wissen. „Und woher wissen Sie, dass der Mann Pole ist?“
„Also, das mit der Nationalität war die Vermutung eines Fernfahrers, mit dem der da drin – er zeigte mit seinem rechten Daumen über die Schulter Richtung Notarztwagen – aneinander geraten war. Weil der Mann bei mir nicht bezahlt hatte, rief er ihm auf Polnisch nach, dass er mir noch Geld schulde. Und der hat tatsächlich reagiert. Auf meine Aufforderung in Deutsch vorher nämlich nicht.“
„Und warum sind die beiden aneinander geraten?“
„Naja, der Frank Drescher, so heißt der Trucker, hatte ihn von hinten ein wenig heftig am Hemdkragen gezupft. Darauf hin hat der …, der ääääh Pole, sein Messer gezogen und den Drescher bedroht. Ist aber nix passiert. Und gezahlt hat er schließlich auch. Sogar mit sattem Trinkgeld“, grinste Schöler die beiden Polizeibeamten an.
Pattrick Born machte sich unentwegt Notizen in ein kleines DIN-A6-Blöckchen und sah dabei ein wenig aus wie der amerikanische Schmuddelkommissar Columbo. Nicht etwa, weil er ebenfalls in vergammeltem Trenchcoat und verstrubbeltem Haar in der Gegend herumlaufen würde. Nein, er hielt nur Block und Stift in ähnlicher Manier, lächelte dabei stets nett und hatte einen ähnlich leichten Silberblick wie der US-Fernsehkollege.
„Wo ist denn der Drescher jetzt?“ Jürgen Winter hatte das gefragt und sich dabei über die Kühlerhaube des Unfallwagens gebeugt.
„Auf dem Weg nach Krakau – mit seinem Truck. Vielleicht ’ne Viertelstunde, eher 20 Minuten weg.“
„Haben Sie zufällig eine Handynummer von ihm?“
„Nein. Aber ich kann Ihnen die Autonummer geben. Ist ’n Brummi von der „Regupol“. Der kann noch nicht weit sein. Ich schätze mal, der fährt gerade über Sassenhausen das Laasphetal runter und dann über Biedenkopf, Marburg auf die Autobahn.“
Born schrieb mit und ließ sich die Nummer geben, mit der er spornstreichs zum Streifenwagen ging, um diesen Drescher möglichst bald ausfindig zu machen.
„Moment mal“, Hannes Schöler schluckte, „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Drescher den Polen, oder was immer er ist, auf den vorbeifahrenden BMW geschmissen hat. Der war doch längst weg, als das passiert ist. Außerdem hatte er gar keinen Brass auf den.“
„Haben Sie denn gesehen, ob sich die beiden noch mal getroffen haben, bevor Drescher losfuhr?“
„Nee, konnte ich ja nicht. Die Kutscher gehen ja immer, von mir aus gesehen, um die Böcke herum auf die andere Seite und laufen an der Fahrbahn lang zu ihren Führerhäusern. Der Parkstreifen ist ja breit genug.“
„Na also. Wer sagt Ihnen denn dann, dass da nichts passiert ist? Aber, wie immer, wir brauchen eine Aussage von diesem Fahrer“, erklärte Winter und wandte sich wieder dem BMW zu. „Erklären Sie mir lieber mal, warum Sie meinen, dass der Mann von oben herunter auf das Auto geflogen ist.“
„Will ich Ihnen gerne zeigen und erklären. Schauen Sie her. In der Mitte der Haube ist eine tiefe Delle, fast wie eine Kuhle. Das deutet auf einem senkrechten oder fast senkrechten Fall hin. Der Einschlag in der Scheibe war wahrscheinlich der Kopf. Bei der Vollbremsung wurde er dann noch vorne abgeworfen. Wäre der Mann von der Seite her in den Wagen gesprungen oder geflogen, hätte ihn das Auto wie über einen Keil aufgeladen und eventuell sogar über die Scheibe nach hinten geschleudert. Der Einschlag würde nach meiner Meinung deutlich schwächere Spuren hinterlassen. Die dafür aber quer über die Motorhaube.“
„Alle Achtung“, staunte Jürgen Winter,