Eine Tote im Fluss. Wolfgang Breuer
sein Smartphone wie einen Diskus in den Hang unterhalb von Minas Haus geschleudert. „Ausgerechnet heute, ausgerechnet, wo ich allein den Bereitschaftsdienst machen muss, finden die eine Leiche in der Eder. Das ist doch zum Kotzen!“
Mina war inzwischen hellwach und fragte interessiert nach:
„Weiblich oder männlich?“
„Weiblich. Muss ziemlich übel aussehen.“
„Ach, Herrjeh. Und vermutlich auch keine Ahnung, wer das war.“
„Natürlich nicht. Es ist gerade mal 45 Minuten her, dass sie gefunden wurde.“ Ohne weitere Worte sammelte er seine Klamotten ein, um sich drinnen kurz zurechtmachen und anziehen zu können.
Sven, den seine Kollegen wegen seines Hangs zu jeder Form von moderner Elektronik auch ‚Freak‘ nannten, wohnte seit gut drei Monaten bei dieser ausgesprochen attraktiven Frau, die er im Januar erst kennengelernt hatte. Beide hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Und das mitten in den Ermittlungen zu einem zweifachen Mord in Berghausens Wäldern.
Diese tolle Frau hatte einer Freundin während des Orkans ‚Friederike‘ mehr oder weniger das Leben gerettet und ihr tapfer zur Seite gestanden, als deren Mann spurlos verschwunden war. Und das hatte den Kommissar derart begeistert, dass er die Dame unbedingt kennenlernen wollte. Da war es dann passiert.
Sven verbot es sich, noch weiter in Gedanken abzugleiten. In null Komma nix war er gewaschen, angezogen und zur Abfahrt bereit. Auf dem Weg zum Wagen kam er noch mal im Garten vorbei, verabschiedete sich von Mina mit ein paar Küssen und fragte beiläufig: „Wie komme ich denn von hier auf dem schnellsten Weg nach Arfeld?“
Das zu erklären, war nun wirklich kein Hexenwerk für die junge Hebamme, die heute ausnahmsweise einmal freihatte. „Immer talwärts, über Alertshausen bis Elsoff. Dort biegst Du rechts ab und fährst Richtung Schwarzenau. Und dort wieder rechts ab nach Arfeld.
Es war exakt 15:38 Uhr, als der Kommissar von Schwarzenau her an der Ederbrücke am Ortsrand von Arfeld ankam. Die Zufahrt hinüber zum Gersbachweg war mit Flatterband der Polizei abgesperrt. Aber einer der Beamten hob die Plastikbarriere an, um ihn samt Wagen passieren zu lassen. Es war der Kollege Finkbeiner von der Schutzpolizei.
„Grüß' Dich, Dirk“, rief Lukas ihm zu, als er langsam anfuhr. „Kannst Dir sicher auch was Besseres vorstellen, als hier in der brüllenden Hitze zu stehen.“
„Das kannste aber glauben. Ich koche im eigenen Saft“, antwortete der und hob zur Bekräftigung des Gesagten die Arme. Große dunkle Flecken zeichneten sich unter seinen Achselhöhlen im Uniformhemd ab.
Es bedurfte keiner großen Mühe zu erkennen, wo die bedauernswerte Frau gefunden worden war. Denn zur Linken stand eine dichte Menschentraube rechts der Eder, die zum Flussufer hindrängte, aber von mehreren, ebenfalls schwitzenden Polizeibeamten zurückgehalten wurde.
„Darf ich mal durch?“, versuchte Sven sich ganz knapp am Wasser einen Weg durch die Menge zu bahnen. Doch er wurde ziemlich barsch von einem Mann abgeblockt, der ein Kreuz hatte wie ein viertüriger Kleiderschrank.
„Ey“, motzte der, „hie weard net gedrängelt, Kearle. Sunst gätts Arja.“
Sven hatte nicht alles von dem Satz verstanden. Wohl aber mitbekommen, dass da Ärger drohe, wenn er sich nicht füge.
„Passen Sie mal auf“, tippte er die Schrankwand an und zückte seinen Dienstausweis. Doch der machte offenbar keinen Eindruck bei dem Hünen. Der schaute nicht mal hin.
„Hie bleiweste stenn. Sunst gätts Hiwwe. Fremde wie Dü honn hie suwesu nix ze süche.“
Ein feixender Nachbar war gerne bereit, das ins Hochdeutsche zu übersetzen. „Hier sollste stehen bleiben. Sonst gibt‘s Haue. Fremde wie Du hätten hier sowieso nix zu suchen, sagt er.“
„Das werden wir ja sehen. Machen Sie bitte Platz. Ich bin von der Polizei.“
„Ja, ja. Und ich bin der Kaiser von China“, echote es aus der Gruppe, begleitet von einem nun wirklich unpassenden Gelächter.
Sven knirschte leise mit den Zähnen. Derbe schubste er den Großen nach rechts und ging gleichzeitig in eine Verbalattacke über. „Was soll denn dieser Scheiß hier? Machen Sie jetzt mal Platz! Ich bin dienstlich hier!“
Da kam unvermittelt dessen linke Pranke herüber, die ihn am Oberarm erwischte und ziemlich durchschüttelte. Doch darauf war Sven Lukas bestens vorbereitet. Ohne großen Kraftaufwand entglitt er dem Zugriff durch eine plötzliche Körperdrehung und fasste gleichzeitig mit beiden Händen nach der Riesenpfote, die er blitzartig in den gefürchteten Polizeigriff bog. Der Riese jaulte auf und ging nach vorn auf die Knie.
„Alles, was Sie nun an Schmerzen haben werden, können Sie selbst bestimmen. Ich bin von der Polizei, ich muss hier durch und will nicht von Ihnen bei der Arbeit behindert werden. Ist das bei Ihnen angekommen?“ Während der Frage bog er die ergriffene Hand noch ein wenig in Richtung Unterarm. „Jahaaaa!“, knödelte deren Besitzer und japste nach Luft.
Also konnte der ‚Freak‘ den knienden Hünen gefahrlos wieder loslassen und sich einfach an ihm vorbeiwurschteln. Der Brecher hatte genug und war obendrein noch blamiert bei seinen Kumpels.
Unproblematisch war das Passieren des Absperrrings der uniformierten Kollegen. Die ließen ihn selbstverständlich mit einem Kopfnicken durch. „Hätt‘ste auch besser gemacht, Großer“, hörte er hinter sich den Typen, der ihm gerade eben noch feixend Wittgensteiner Platt ins Hochdeutsche übersetzt hatte. ‚Tja‘, dachte Sven, ‚Freunde muss man sich erarbeiten.‘
Langsam und mit gebotenem Respekt näherte sich der Kommissar dem Ederufer, wo eine Gruppe von drei Schutzpolizisten den Blick auf die Fundstelle verdeckte. Außerdem bot dichter Uferbewuchs eine natürliche Deckung. Für die Gaffer war diese Stelle nicht einsehbar. Und das war auch gut so.
Denn als der Kommissar die letzten Schritte auf die Beamten zuging, drehte sich der mittlere von ihnen um und machte ihm gegenüber eine abwehrende Handbewegung. Es war Rüdiger Mertz, der kopfschüttelnd zu verstehen gab, Lukas möge auf das Schlimmste vorbereitet sein. Der ‚Freak‘ nickte und ging nach vorn.
„Oh mein Gott“, zuckte er erschreckt zurück und sog zischend die Atemluft zwischen den Zähnen ein. Als könne die dadurch entstehende Kühle maßgeblich zur Stabilisierung seines Magenzustandes beitragen. „Was, um alles in der Welt, ist denn das für eine grauenhafte Unsäglichkeit. So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Das ist ja …, das ist …“, schnappte er nach Luft, „ich finde dafür gar keine Beschreibung.“
„Das geht uns allen so“, pflichtete ihm Mertz bei und legte ihm den rechten Arm um die Schulter. „Das müssen Wahnsinnige gewesen sein, die das gemacht haben.“
Sven bekam sich nur schwer wieder unter Kontrolle. Was er dort in wenigen Sekunden gesehen hatte, sprengte alles, was seine Vorstellungskraft fassen konnte. Im Ufergebüsch hatte sich ein nahezu nackter weiblicher Körper verfangen, dessen Gesicht nicht mehr vorhanden war. Eingedrückt, zerfetzt, zerstört. Im Brustkorb waren zwei Stichwunden zu sehen, nahezu der ganze Körper wies Risswunden auf.
„Der Leichnam müsse schon seit Tagen im Wasser gelegen haben, sagte der Arzt. Wahrscheinlich von Anfang an hier in der Eder. Demzufolge wurde er von weiter oben hierher abgetrieben. Zwei Jungs haben ihn beim Spielen gefunden und die Leute dort drüben alarmiert.“ Dabei zeigte Rüdiger auf ein alleinstehendes Haus. „Jetzt sitzen sie bei den Sanitätern im Wagen und werden nach dem Schock betreut. Ihre Eltern sind auch dabei. Nette Menschen.“
„Gut so. Lassen wir den Buben und ihren Eltern einen Moment Zeit. Was läuft sonst?“, wollte Lukas schwer atmend und schluckend wissen.
„Wir sind gerade dabei, einen Suchtrupp zu organisieren“, berichtete Kommissar Mertz. „Er soll die Uferbereiche ederaufwärts absuchen nach der Stelle, wo der Mord passiert ist oder zumindest die Leiche ins Wasser geworfen wurde.“
„In Ordnung“, antwortete Sven trocken und starrte gedankenverloren geradeaus. Er fühlte sich wackelig