Eine Tote im Fluss. Wolfgang Breuer

Eine Tote im Fluss - Wolfgang Breuer


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gab er sich einen innerlichen Tritt, ‚auf jetzt!‘ Mit kleinen unsicheren Schritten ging er wieder zurück zur Fundstelle und wagte mit angehaltenem Atem einen erneuten Blick hinunter zu dem Körper im Gestrüpp. Noch lag die Frau so, wie sie aufgefunden worden war. Denn zunächst mussten der Gerichtsmediziner und der Staatsanwalt die Leiche gesehen haben.

      Die Spurensicherer hätten wahrscheinlich weniger Freude, dachte er. Denn rund um den Fundort war alles platt getreten, das Gebüsch unmittelbar drumherum auseinandergezerrt. Das war nicht verwunderlich. Denn Freiwillige hatten nach der Entdeckung eines reglosen Menschen im Wasser zunächst einmal versucht, ihm zu helfen, waren dann aber zurückgeschreckt, als sie das zerstörte Gesicht gesehen hatten. So wie Lukas auch.

      Es war eine sportliche junge Frau. Das konnte der Ermittler erkennen. Und ihre Sonnenbräune. Obwohl die graugelbe Leichenblässe durchschimmerte. Neben ihr kauerte, in Gummistiefeln, noch immer der Notarzt, der alle möglichen Eintragungen auf einem Klemmbrett vornahm. Lukas gesellte sich zu dem Mediziner und stellte sich vor. Der Mann schaute auf und lächelte den Kommissar an. „Ich kenne Sie“, stellte er nüchtern fest. „Stünzel vorletztes Jahr.“

      ‚Lieber Gott, natürlich‘, erinnerte sich Sven. Stünzel 2016. Daher kannten sie sich. Er sprang auf und ging ein paar Meter zur Seite. Nie würde er das vergessen. Weil er selbst zutiefst betroffen gewesen war, von dem Tod einer Studentin, die man in einem Viehanhänger gefunden hatte. Erst tags zuvor hatte er sich in eben diese Frau unsterblich verliebt. Er dachte damals, er würde den Schmerz niemals überwinden.

      „Ja, aber das hier“, wedelte der Arzt mit der freien Hand in der Luft herum, während er ihn verfolgte, „das hier ist wirklich extrem brutal. Ich habe viele verstümmelte Unfallopfer gesehen und auch Opfer von Explosionen. Aber es gibt auch für Mediziner immer wieder Momente, wo sie nicht mehr an Gottes Gnade glauben wollen. Jemandem das Gesicht regelrecht zu zertrümmern, das ist so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Was bezwecken die Täter damit?“

      Aber Sven hörte schon gar nicht mehr hin. Er war bei der Erinnerung an den Mord auf dem Stünzel innerlich ins Straucheln geraten. War das nötig, dass ihn ausgerechnet der Notarzt an diese furchtbare Zeit erinnerte?

      Natürlich, der hatte sich sicher nichts dabei gedacht. Weil er keine Ahnung hatte, wie sehr Sven von dem Fall damals persönlich betroffen war. Wie ein Tier hatte er gelitten. Und trotzdem hatte er, gegen den Rat der Kollegen, seinen Dienst weitergemacht. Gnadenlos gegen sich selbst. Denn allein, ohne Menschen in seiner Nähe, wäre er durchgedreht.

      Mehr oder weniger gewaltsam gegen sich selbst, kehrte er in die Gegenwart zurück. ‚Wir müssen dringend Zeugen befragen, bevor die hier wieder alle verschwunden sind.‘ Nur, wer sollte das machen? Der Kommissar war ein wenig hilflos. Er war gebunden, musste zunächst warten, bis Gerichtsmedizin und KTU da waren. Und überhaupt, wo blieb eigentlich der Staatsanwalt? Sven schaute auf seine Armbanduhr. 16:12 Uhr. „Wird langsam Zeit, dass wenigstens der Puhlmann hier antrabt“, knurrte er vor sich hin. „Der hat einen verdammt kurzen Weg von Raumland hierher.“

      „Jahaaaa, aber der hatte bis eben kein Auto“, erscholl postwendend die Aufklärung von seiner Rechten. Der Staatsanwalt war von hinten her gekommen und hatte sich zunächst einmal nach Ansprechpartnern von der Polizei umgesehen. „Grüße Sie, Herr Lukas. Was haben wir?“

      „Eine bitterböse Geschichte, Herr Staatsanwalt“, antwortete der ‚Freak‘, der überrascht zusammengezuckt war. „Ich grüße Sie auch. Kommen Sie, lassen Sie uns schnell dorthin gehen. Sind nur ein paar Schritte bis da vorn am Ufer. Aber machen Sie sich auf ein unschönes Bild gefasst.“

      Puhlmann blieb stehen und fasste Sven Lukas am Arm. „Wieso? Ist es so schlimm?“

      „Ja. Sehr! Der oder die Täter, die diese junge Frau, Alter geschätzt Mitte, Ende 20, umbrachten, haben sie verstümmelt. Ihr fehlt das Gesicht und sie hat Einstiche in der Brust. Grauenhaft, dieses Bild! Der Doc meint übrigens, dass sie schon länger im Wasser liegt.“

      Puhlmann schluckte. „Oh Gott. Und das am Sonntagnachmittag.“ Er holte tief Luft und meinte schließlich: „Naja, hilft ja nichts. Gehen wir.“

      Der Notarzt und ein Rettungssanitäter hatten die Leiche notdürftig mit einer Aluminiumfolie abgedeckt, deren Ecken am Uferbewuchs festgemacht waren. An der Lage der toten Frau, die noch immer im Wasser lag, durfte ja zunächst nichts verändert werden.

      Als die Folie weggenommen wurde, um dem Staatsanwalt freien Blick zu gewähren, verschlug es auch ihm den Atem. „Gütiger gerechter Gott“, stieß er hervor, „warum lässt Du so etwas zu?“ Die umherstehenden Polizeibeamten schauten sich verwundert an.

      Sven sah, wie dem sonst so taffen Mann Tränen in die Augen stiegen. Dennoch hafteten seine Blicke fest an der Toten. Was mochte der Staatsanwalt jetzt wohl denken?

      Puhlmann verharrte einen Moment mit gefalteten Händen, als spreche er ein stilles Gebet. Dann wandte er sich zu Lukas um und fragte mit belegter Stimme: „Wer hat sie gefunden?“

      „Zwei Jungs. Die haben die Leiche beim Spielen entdeckt und die Leute im Haus dort vorne alarmiert. Die beiden werden gerade von Sanitätern und ihren Eltern betreut. Ich denke, wir sollten zunächst einen Arzt nach ihnen sehen lassen, bevor wir mit ihnen reden.“

      „Sehr gute Idee, Herr Lukas, machen Sie das. Und gehen Sie behutsam vor. Am besten im Beisein der Eltern.“

      „Natürlich, Herr Staatsanwalt.“

      „Ach, noch etwas, Herr Lukas. Meine Reaktion eben wird Sie gewundert haben.“

      „Nein, warum?“, wehrte der ‚Freak‘ ab.

      „Ach kommen Sie, ich hab‘s doch gemerkt. Es ist ja auch absolut unüblich, dass sich ein Staatsanwalt derart auf persönliche Gefühle einlässt.“

      „Ich bitte Sie, Herr Puhlmann. Muss Ihnen denn in Ihrem Job jede Form von Menschlichkeit abhandenkommen?“

      „Nein. Natürlich nicht. Nur werden wohl die meisten Kollegen ihre Gefühlsregungen nicht in dieser Deutlichkeit zeigen. Aber wissen Sie, … ich habe eine Tochter etwa im Alter der Toten. Sie studiert in den USA und ist demzufolge weit weg von uns. Als ich diesen malträtierten Körper sah, musste ich zwangsläufig daran denken, was wäre, wenn wir als Eltern die Nachricht bekämen, die nun die Eltern dieser jungen Frau bekommen werden. Allein dieser Gedanke macht mich fertig. Verstehen Sie? Zumal Morde in den USA ja gewissermaßen an der Tagesordnung sind.“

      „Oh ja, ich verstehe Sie sehr gut“, antwortete Sven. Irgendwie fühlte er plötzlich eine Nähe zu dem Mann, der ihm und seinen Kollegen im Dienst schon des Öfteren echte Probleme gemacht hatte.

      Es war gerade halb fünf am Nachmittag, als der Mercedes 500 CL mit Reinhard und Desiree Klinkert vor der Doppelgarage in der Stedenhofstraße zum Stehen kam. Der Motor des Wagens knackte unter der enormen Hitze. Und die Lüfteranlage mühte sich brausend um Kühlung.

      Es dauerte einen Moment, bis im Innenraum der mondänen Limousine Bewegung einsetzte. Nach diesem Höllenritt vom Lago Maggiore bis nach Arfeld wirkten die Knochen und Gelenke der Insassen trotz komfortabelster Sitze fast wie eingerostet. Gerade einmal zwei kurze Tankstopps mit Pipi-Pause und jeweiligem Fahrerwechsel hatten sie sich gegönnt. Denn sie wollten auf jeden Fall noch rechtzeitig daheim sein und mit ihrer Tochter auf deren 24. Geburtstag anstoßen.

      Ursprünglich war ihre Rückkehr erst für Dienstag geplant. Aber dann hatten sie sich doch überlegt, Hanna zu überraschen und vielleicht in zwei Wochen noch einmal ‚runter zu fahren‘, wie sie ihre Italien-Trips nannten.

      Noch bevor sie ausstiegen, nahm Desiree beide Hände hinter den Kopf und streckte ihren gertenschlanken Körper. Während ihr Mann seine Schultern vor und zurück rollte und den Rücken durchdrückte. Altes Ritual, gefühlt tausendmal von beiden vollführt. Erst dann stiegen sie aus, um gleich noch ein, zwei Dehnübungen neben dem Daimler zu absolvieren.

      Es war still vor dem respektablen Anwesen der Klinkerts. Ein villenähnliches Haus, das das Unternehmerehepaar auf den Grundmauern eines alten Gehöftes hatte bauen lassen.

      Sebastian


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