Demokratie unter Schock. Martin Debes

Demokratie unter Schock - Martin Debes


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sich die Geschehnisse nicht ohne die handelnden Personen und deren Vorgeschichte erklären. Denn dies ist eine Fortsetzungsserie, mit mindestens zwei Prequels, die in den Jahren 2009 und 2014 spielten. Das Sequel dürfte nach der kommenden Landtagswahl folgen.

      Der menschliche Faktor ist groß in diesem kleinen Land, in dem sich niemand wirklich aus dem Weg gehen kann. Die landespolitische Kaste, einschließlich aller Landesbischöfe, Hochschulrektoren, Oberbürgermeister und Landräte, passt mühelos in einen mittleren Saal, wobei sich die Mehrzahl parteiübergreifend duzt.

      Im Folgenden wird versucht, die politischen und persönlichen Linien darzustellen, die zum 5. Februar 2020 führten. Dies nimmt einen gewissen Raum in Anspruch, bevor dann die eigentlichen Ereignisse um die Wahl von Thomas Kemmerich geschildert werden. Doch dieser Raum ist nötig: Vieles wird nur mit dem Wissen um die gemeinsame Vergangenheit der Beteiligten vollständig verständlich.

      Ein Beispiel: Die Idee eines linken Ex-Ministerpräsidenten, seine christdemokratische Amtsvorgängerin als Platzhalterin in die Staatskanzlei zu bugsieren, wirkt ohne Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit der beiden geradezu bizarr. Ebenso wenig lässt sich die Implosion der Thüringer CDU ohne die in Jahrzehnten gewachsene Feindschaft der Männer an ihrer Spitze erklären.

      Aber auch sonst ist von dem, was im Herbst 2019 und im Winter 2020 in Thüringen geschah, längst nicht alles erzählt. Dieses Buch leuchtet die Ereignisse auch an jenen Stellen aus, die bislang im Dunkeln oder im Halbschatten blieben. Die konspirativen Treffen, die geheimen Absprachen, die privaten Textnachrichten, die internen Protokolle, die verborgenen Motivlagen: Erst diese Informationen und Details lassen ein annähernd vollständiges Bild der Ereignisse entstehen.

      In Zentrum der Handlung steht die Thüringer CDU, die seit ihrer Neugründung im Jahr 1990 nur die Position der Macht gekannt hatte. Umso tiefer war ihr Fall, als sie im Jahr 2014 erstmals in die Opposition musste. Sie betrieb Realitätsverleugnung und versäumte es, sich ernsthaft strategisch und inhaltlich neu aufzustellen. Dies trug neben objektiv widrigen Umständen dazu bei, dass die Partei nach der Landtagswahl 2019 endgültig zwischen Linke und AfD eingeklemmt wurde. Den letzten verbliebenen Bewegungsspielraum nahm ihr die Berliner Parteizentrale.

      Ansonsten ist das Versagen – das sich nochmals bei der abgesagten Neuwahl im Juli 2021 zeigte – vornehmlich maskulin. Es waren vor allem Männer und ihre Alpha-Egos, die in Erfurt miteinander rangen. Bodo Ramelow, Mike Mohring, Thomas Kemmerich und Björn Höcke sind Solitäre, die immer dann, wenn es darauf ankam, vor allen anderen auf sich selbst hörten. Auch der Umstand, dass drei von ihnen – Ramelow, Höcke und Kemmerich – aus dem Westen Deutschlands stammen, verdient zumindest Erwähnung. Denn ob sie dies nun wollten oder nicht: Mit ihrer Prägung und Sozialisation hatten sie die ideologischen Rituale und politischen Kämpfe der alten Bundesrepublik in das sogenannte neue Land Thüringen gebracht.

      Eine Anmerkung noch. Dieses Buch stellt keine politikwissenschaftliche Abhandlung dar, sondern den journalistischen Versuch, ein politisches Drama zu schildern. Jenseits dessen ist in Thüringen Politik selbstverständlich mehr als die Summe persönlicher Machtkämpfe. Auch hier besteht das demokratische Geschäft hauptsächlich aus harter, zuweilen ehrenamtlicher Arbeit, aus dem Ringen um den nächsten, unbefriedigenden Kompromiss und ja: aus dem Willen, es richtig zu machen.

      Doch das, was nach der Landtagswahl 2019 geschah, überforderte alle Beteiligten. Es mag sein, dass die These, mit der Christopher Clark den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärte, viel zu groß für das kleine Thüringen ist. Aber gefühlt passt sie zu den Geschehnissen von Erfurt: Die etablierten Parteien versuchten, eine neuartige Situation mit den alten, überkommenen Regeln zu bewältigen. Dabei stolperten sie, Schlafwandlern gleich, in eine schwere Regierungskrise. Die Einzigen, die im entscheidenden Moment hellwach wirkten, waren die Abgeordneten der AfD.

      KAPITEL 1

      THÜRINGER VERHÄLTNISSE

      Gut vier Monate vor dem Tag, an dem Thomas Kemmerich im Landtag als Ministerpräsident vereidigt wird, sitzt der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring auf einer großen Dachterrasse in Erfurt. Dunkelheit hat sich über die Stadt gelegt, hinter ihm beleuchten Scheinwerfer die spitzen Türme des Doms und der Kirche St. Severi. Es ist sehr spät geworden an diesem 27. Oktober 2019.

      Mohring ist blass, beinahe grau im Gesicht. Einige Freunde aus seiner Landespartei stehen neben ihm, reden leise auf ihn ein. In der Nähe haben sich Mitglieder der Band aufgebaut, die für den Abend bestellt wurde. Sie tragen a cappella die Verse von Paul McCartney vor: „Blackbird fly, blackbird fly, into the light of a dark black night.“ Amsel flieg, in das Licht einer dunklen, schwarzen Nacht. „All your life, you were only waiting for this moment to be free.“ Schon dein ganzes Leben wartest du auf diesen Moment, um frei zu sein.

      Der Mann, dem sie Trost singen, hat tatsächlich sein halbes Leben auf diesen einen Abend hingearbeitet, auf dieses eine Ziel, auf das Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen. Hier, in einem schicken Neubau, der stolz „Dompalais“ genannt wird, wollte Mohring die Rückkehr seiner CDU an die Macht feiern, die sie fünf Jahre zuvor an die erste und einzige linksgeführte Regierung Deutschlands verloren hatte.

      Doch nun ist er nicht frei, sondern in einer extrem komplizierten Situation gefangen. Und er muss den Medien die größte Niederlage seiner Partei in der Geschichte Thüringens erklären. Denn die Thüringer CDU, die seit 1990 immer die meisten Stimmen erhielt, ist bei der Landtagswahl an diesem Sonntag um fast 12 Prozentpunkte auf 21,7 Prozent abgestürzt. Nachdem sie schon 2014 die Regierungsmacht verlor, hat sie nun die vollständige Demütigung erlitten.

      Hingegen konnte die Linke, die mit Bodo Ramelow seit fünf Jahren den Ministerpräsidenten stellt, nochmals leicht zulegen. Mit 31 Prozent ist sie erstmals stärkste Partei in einem deutschen Parlament. Gleichzeitig hat die AfD unter Björn Höcke ihre Stimmenanteile mehr als verdoppelt. Sie ist jetzt mit 23,4 Prozent die zweitstärkste Partei im Parlament – vor der CDU.

      In der Summe kommen Linke und AfD auf 54,4 Prozent der Stimmen und 51 der 90 Mandate im Landtag. Gegen diese beiden Parteien kann also keine Mehrheit gebildet werden: Auch dies ist eine bislang nie dagewesene Situation in der Bundesrepublik.

      Dennoch birgt die Situation für die CDU noch eine Restchance auf die Macht. Denn die Linke hat auf Kosten ihrer beiden Partner SPD und Grüne hinzugewonnen. Die Sozialdemokraten büßten ein Drittel ihrer Stimmen ein und erreichen nur noch 8,2 Prozent. Die Grünen schafften es mit 5,2 Prozent gerade so in den Landtag. Damit fehlen der Koalition, die zuvor mit knapper Mehrheit regieren konnte, plötzlich vier Stimmen im Landtag.

      Allerdings ist eine bürgerliche Allianz noch weiter als das Linksbündnis von einer Mehrheit entfernt. Zwar hat es die FDP unter ihrem Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich zurück in den Landtag geschafft. Doch jede ohne Linke oder AfD ausdenkbare Koalition, ob nun Jamaika (Schwarz-Rot-Gelb), Kenia (Schwarz-Rot-Grün) oder Simbabwe (Schwarz-Rot-Gelb-Grün), befände sich in der Minderheit.

      Für Mohring persönlich gibt es nur zwei Wege, diesem Dilemma zu entkommen. Der erste wäre sein Rücktritt. Der zweite: Er muss die überkommenen Regeln neu interpretieren oder gar brechen, um eine Neuwahl des Landtags zu vermeiden. So könnte er, vielleicht, politisch überleben.

      Dass er abtritt, schließt Mohring kategorisch aus. Er, der Sohn eines Maurers und einer Verkäuferin, ist nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Er, der Mann, der erst Monate zuvor eine Krebserkrankung durchstand, wird sich nicht einfach in diese Niederlage fügen.

      Der Aufsteiger

      Die Politik ist Mohrings Leben, mit ihr hat er den größten Teil seiner 48 Lebensjahre verbracht. Er kennt kaum etwas anderes. Seinen Einstieg markiert der Herbst 1989, als er mit 17 das FDJ-Amt hinter sich lässt und in seiner Geburtsstadt Apolda die Demonstrationen gegen die DDR-Obrigkeit mitorganisiert. Kurz vor seinem Abitur, im Frühjahr 1990, zieht Mohring für das „Neue Forum“ in den örtlichen Kreistag ein. Nachdem der Zivildienst absolviert und das Jura-Studium in Jena begonnen ist, wechselt er 1994 in die CDU, an deren Spitze Ministerpräsident


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