Demokratie unter Schock. Martin Debes
Willen der Parteispitze einen aussichtsreichen Listenplatz und zieht ins Parlament ein.
Es ist das Jahr, in dem die Thüringer CDU auf den Höhepunkt ihrer Macht gelangt. Sie hat bei der Wahl 51 Prozent der Stimmen erhalten und alle 44 Wahlkreise im Land gewonnen.
Es ist aber auch das Jahr, in dem die PDS mit 21,3 Prozent erstmals vor der SPD liegt. Es ist das Jahr, in dem der Jenaer Jura-Student Christian Carius als jüngster Abgeordneter ins Parlament einzieht. Es ist das Jahr, in dem der Jenaer Politikwissenschaftsstudent Mario Voigt als erster Ostdeutscher an der Spitze des Rings Christlicher Demokratischer Studenten (RCDS) steht. Und es ist das Jahr, in dem der 43-jährige Gewerkschaftsfunktionär Bodo Ramelow, der kurz zuvor in die PDS eingetreten war, Mitglied des Landtags wird.
Die erstmals mit absoluter Mehrheit regierende CDU hat besonders viele Ämter zu vergeben. Mohring ist erst 27, doch er erhält die wichtige Funktion des haushaltspolitischen Sprechers der Fraktion. Sofort profiliert er sich mit medial geschickt platzierten Sparforderungen und Reformvorschlägen. Seinen Parteifreunden, aber auch der politischen Konkurrenz wird rasch klar: Hier will einer nach ganz oben.
Für die CDU wird es eine Wahlperiode des Übergangs. Im Jahr 2000 gibt Bernhard Vogel den Parteivorsitz an Dieter Althaus ab, 2003 übernimmt der Jüngere auch die Staatskanzlei. Allerdings hat die Union damit auch ihren Zenit überschritten. Bei der Landtagswahl 2004 verliert sie unter Althaus deutlich. Nur weil Grüne und FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, kann sie mit 43 Prozent ihre absolute Sitzmehrheit im Parlament knapp verteidigen. Die Linke, die erstmals mit Ramelow als Spitzenkandidat angetreten ist, wächst auf 26,1 Prozent, derweil die SPD, die mit den Protesten gegen die Hartz-Reformen zu kämpfen hat, nur noch bei 14,5 Prozent landet.
Jetzt geht Mike Mohring den entscheidenden Karriereschritt: Er wird von Althaus zum Generalsekretär der Thüringer CDU berufen. Als er vier Jahre später, 2008, auch die Führung der Landtagsfraktion übernimmt, gilt er als Nummer 2 in der Landespartei – und als natürlicher Aspirant auf die Staatskanzlei. Der Ministerpräsident sitzt inzwischen im CDU-Bundespräsidium und scheint sich für einen Kabinettsposten in Berlin zu interessieren. Mohring muss bloß noch warten.
Doch plötzlich ist alles anders. Am Neujahrstag 2009, es ist 14.43 Uhr, fährt Dieter Althaus in der österreichischen Steiermark Ski. Er biegt mit etwa 40 Kilometern pro Stunde von der Piste „Die Sonnige“ in die Abfahrt „Panorama“ ab. So jedenfalls wird es später ein Gutachten feststellen. Althaus umkurvt ein Absperrnetz und fährt ein paar Meter bergauf, womöglich, um eine Pause einzulegen. Dabei kollidiert er frontal mit einer Frau, die ihm bergab entgegenkommt. Die 41-jährige Mutter eines kleinen Kindes stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Regierungschef, der im Unterschied zu ihr einen Skihelm trug, wird mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma ins künstliche Koma versetzt7.
Der tragische Unfall stürzt die Thüringer CDU, die ja immer noch allein regiert, in eine kollektive Überforderungssituation. Finanzministerin Birgit Diezel muss als Vize-Ministerpräsidentin und erste Stellvertreterin des Landesparteichefs die Geschäfte kommissarisch übernehmen. Sie und Mohring besuchen Althaus in Schwarzach im Krankenhaus. Danach verbreiten sie die Botschaft, dass der Ministerpräsident aufgewacht sei und sich auf dem raschen Weg der Besserung befinde.
Auch der Patient selbst will so schnell wie möglich wieder fit werden, körperlich und politisch. Er akzeptiert, dass ihn ein österreichisches Bezirksgericht wegen fahrlässiger Tötung zur Zahlung von 33.000 Euro verurteilt, da er auf der Piste die Regeln des Internationalen Skiverbands verletzte. Kurz darauf lässt er sich aus der Distanz einer Reha-Klinik am Bodensee zum CDU-Spitzenkandidaten für die Thüringer Landtagswahl wählen, die im Spätsommer 2009 stattfinden soll.
Der Fall Althaus gerät zu einem nicht enden wollenden Medienspektakel. Die öffentlichen und veröffentlichten Reaktionen bestehen mehrheitlich aus Unverständnis, ja Empörung. Die Führenden in der Thüringer CDU halten trotzdem stur zu ihrem Ministerpräsidenten, aus Loyalität und Freundschaft, aber auch, weil ihre Karrieren mit seiner Person verknüpft sind. Scheitert Althaus, sind auch sie gefährdet. Dieser Befund gilt insbesondere für den Nachfolgefavoriten Mohring.
Und so kehrt der Ministerpräsident schon gut drei Monate nach dem Unfall in die Staatskanzlei zurück. Sichtlich angeschlagen spricht er im April 2009 davon, „ganz der Alte“ zu sein. Aber nicht nur er verkennt die Lage. Die gesamte Landesspitze der CDU macht sich etwas vor. Sie führt mit einem Ministerpräsidenten, der rechtskräftig für den Tod einer jungen Mutter verantwortlich gemacht wird, einen merkwürdig tümelnden Wohlfühlwahlkampf. Althaus lässt sich in einer obskuren Zeitschrift sogar als Opfer der Tragödie inszenieren. Und er will keinerlei persönliche Schuld anerkennen, da er sich ja, wie er ständig wiederholt, nicht an den Unfall erinnern könne.
Die Niederlage ist unausweichlich. Bei der Wahl am 30. August 2009 verliert die CDU die absolute Mehrheit im Landtag und stürzt auf 31,2 Prozent ab. Der Machtverlust droht. Denn der einzige mögliche Partner – die SPD – verhandelt ernsthaft mit Ramelows vormaliger PDS, die inzwischen zu „Die Linke“ geworden ist, und den Grünen, die erstmals seit 15 Jahren wieder im Parlament sitzen. Die drei Parteien sind in der Dekade gemeinsamer Opposition gegen die absolut regierende Union zusammengewachsen, bei Volksbegehren, Demonstrationen und Debatten im Landtag. Jetzt kommen sie gemeinsam auf eine solide Mehrheit von 52,1 Prozent.
An diesem Umstand ändert auch der Wiedereinzug der FDP nichts. Die Partei, die wie die Grünen anderthalb Jahrzehnte in der außerparlamentarischen Opposition verbringen musste, hat dank eines fulminanten Bundestrends 7,6 Prozent erreicht. Einer der sieben liberalen Abgeordneten ist Unternehmer, er besitzt eine Friseurkette, führt in Erfurt den Kreisverband der Partei und amtiert als Präsident aller Karnevalclubs der Landeshauptstadt. Er heißt Thomas Kemmerich.
Doch für die erste rot-rot-grüne Koalition in der deutschen Geschichte gibt es eine Hürde: Es ist die Frage, wer Ministerpräsident wird. Die Sozialdemokraten hatten sich in einem Mitgliederentscheid darauf festgelegt, nicht als Juniorpartner mit der Linken zu koalieren. Jetzt wollen sie als deutlich kleinerer Partner den Ministerpräsidenten stellen – oder, falls die Linke nicht zustimmt, lieber mit der Union regieren.
Die Pastorin
Die CDU hat also die Möglichkeit, sich an der Macht zu halten – aber offenkundig nicht unter Althaus. Denn mit ihm will SPD-Landeschef Christoph Matschie nicht einmal reden. Er verlangt nach einem neuen Ansprechpartner. Auch deshalb tritt der Ministerpräsident, der sich zudem erstmals offener Kritik in der eigenen Partei ausgesetzt sieht, überstürzt von allen Ämtern zurück. Er verschwindet ins heimische Eichsfeld und unterlässt es dabei, seine Nachfolge im Sinne Mohrings zu regeln. Dank des Chaos, das er damit produziert, kann sich eine Frau durchsetzen, die viele immer wieder unterschätzt hatten.
Die einstige Pastorin Christine Lieberknecht war seit 1990 alles Mögliche gewesen, Kultusministerin, Staatskanzleiministerin, Landtagspräsidentin, Fraktionschefin, Sozialministerin. Doch in die Nähe des Regierungsvorsitzes gelangte sie nie. Hier standen stets genügend Männer vor ihr.
Hinzu kam ihr Image als Intrigantin. Noch in den letzten Monaten der DDR, im Spätsommer 1990, hatte Lieberknecht dafür gesorgt, dass CDU-Landeschef Willibald Böck, der auf Platz 1 der Landesliste stand, nicht als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf ziehen durfte. Statt ihm inthronisierte sie den Zweitplatzierten Josef Duchač als Ministerpräsidenten – nur um ein gutes Jahr später einen erfolgreichen Putsch gegen ihn anzuführen. Seitdem galt sie als Verräterin.
Doch nun, im Herbst 2009, nach dem Spontanrücktritt von Althaus, ergibt sich ihre Chance. Man kann Lieberknechts späteren Beteuerungen glauben, dass sie das höchste Regierungsamt nie wirklich anstrebte. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass sie es sich seit Langem zutraute und darauf hinarbeitete. Unumstritten ist jedenfalls: Als Finanzministerin Diezel, die als stellvertretende Partei- und Regierungschefin wieder Althaus vertritt, ihr nach einem Geheimtreffen die Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt anbietet, greift sie entschlossen zu.
Die beiden Frauen lassen zu diesem Zeitpunkt noch offen, wer den Vorsitz der CDU übernehmen soll. Lieberknecht drängt Diezel, die