Demokratie unter Schock. Martin Debes
„Versöhnen statt Spalten“
Am 4. Dezember 2014 unterzeichnen Linke, SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag. Er sieht wenig Umstürzendes vor: ein kostenloses Kindergartenjahr, mehr Geld für den dritten Arbeitsmarkt und die Gebietsreform, die unter anderem am Widerstand Mohrings in der vergangenen Wahlperiode schon in ihren Anfängen gescheitert war. Dass der Verfassungsschutz fast alle V-Leute abschalten soll, ist ein Zugeständnis an die Linken, derweil insbesondere die Grünen, die auch den Migrationsminister stellen, einen Winterabschiebestopp für Geflüchtete erstritten haben. Die SPD hat durchgesetzt, dass sie neben dem Innen- und dem Wirtschaftsministerium auch das Finanzressort erhält und dass keine neuen Schulden aufgenommen werden sollen.
Eine Konterrevolution sieht anders aus. Aber es geht auch nicht darum, was ist. Es geht darum, was war – und was sein könnte. So wie das Trauma der NS-Diktatur die Auseinandersetzung um die AfD bestimmt, wirken die Traumata von Teilung und DDR beim Streit um die Linke nach.
Und so versammelt sich der Protest am Vorabend der Ministerpräsidentenwahl ein letztes Mal vor dem Landtag. Etwa 2000 Menschen sind gekommen, diesmal hat die CDU offiziell mit zu der Demonstration aufgerufen. Wieder brennen Kerzen, auf Plakaten steht „Rettet Thüringen vor Blutrot, Rot und Grün“, einige Protestler rufen „Stasi raus!“ Wie einen Monat zuvor auf dem Domplatz handelt es sich um eine Mischung aus einstigen Bürgerrechtlern, CDU-Leuten, AfD-Anhängern, sogenannten normalen Bürgern – und einigen Dutzend polizeibekannter Rechtsextremisten.
Der nächste Tag. Das Parlamentsgebäude im Süden von Erfurt ist umstellt von Übertragungswagen. Alle wichtigen nationalen Medien sind vertreten, dazu Al Jazeera, der schwedische Rundfunk und das türkische Fernsehen. 315 Journalisten haben sich akkreditiert25.
Der medial-politische Komplex hat das Haus besetzt, ballt sich auf der Tribüne, im Plenarsaal, in der Lobby, der Kantine, den Gängen, den Innenhöfen. Alle sind gekommen, Ex-Minister, geschäftsführende Kabinettsmitglieder, frühere Abgeordnete. Der vormalige Bürgerrechtler Matthias Büchner, der am Abend noch demonstriert hat, hält seinen langen grauen Bart in die Kameras. Der linke Bundestagsfraktionsvorsitzende Gregor Gysi, der eigens aus Berlin angereist ist, eilt zwischen seinen Personenschützern über den Flur. Mohring gibt Interviews im Akkord.
Ramelows dritte Frau, die aus dem oberitalienischen Parma stammt und den Namen Germana Alberti vom Hofe trägt, sitzt gemeinsam mit seiner ersten Frau und dem ältesten Sohn auf der Tribüne, derweil Dutzende Teleobjektive auf sie gerichtet sind. Schließlich betritt der Kandidat der Linken den Saal, auch alle anderen 90 Abgeordneten nehmen ihre Plätze ein. Vorher geht Christine Lieberknecht noch demonstrativ auf Ramelow zu, der ihr ebenso demonstrativ entgegenläuft. Sie gibt ihm ihre rechte Hand, mit der linken umfasst sie seinen Arm. Beide lächeln.
Punkt 10 Uhr eröffnet Landtagspräsident Carius die Sitzung. Tagesordnungspunkt 1: Wahl des Ministerpräsidenten. Die Abgeordneten werden namentlich aufgerufen. Einer nach dem anderen geht zu den Kabinen am Rande des Saals und wirft seinen Stimmzettel ein.
Danach wird ausgezählt. Schließlich referiert Carius als Sitzungsleiter das Ergebnis. 91 Stimmen, davon eine ungültig, eine Enthaltung, 44 Nein und 45 Ja.
Es reicht nicht.
Aus der AfD-Fraktion ist Klatschen zu hören, sonst bleibt es sehr ruhig. Mohring versucht, möglichst gelassen zu blicken. Bisher geht sein taktischer Plan auf.
Der 2. Wahlgang. Namentliche Aufrufe, Kabinengänge, Auszählung. Carius liest vor: 91 Stimmen, davon eine ungültig, 44 Nein und 46 Ja. Das ist sie, die absolute Mehrheit. Ramelow ist gewählt. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Republik. Der dritte Wahlgang fällt aus. All die Debatten über die Verfassung, über einen unabhängigen Kandidaten und über die AfD: Sie waren umsonst.
Zumindest für dieses Mal.
Nach Gratulationen und Vereidigung tritt Ramelow ans Rednerpult. Er verweist auf das geteilte Land, auf die großen Emotionen, appelliert an Fairness, an Anstand. Dann zitiert er den Sozialdemokraten und Altbundespräsidenten Johannes Rau: „Versöhnen statt spalten“. Dies, sagt der Ministerpräsident, werde sein Handlungsprinzip sein. Es folgt viel parteiübergreifender Dank, an die Chefs der früheren Regierungsfraktionen, aber vor allem an Christine Lieberknecht. Sie habe, sagt er, mit ihrer Regierung „Akzente gesetzt“.
Das Versöhnungspathos steigert sich aber noch. Ein väterlicher Freund, sagt Ramelow, sei an diesem Tag in den Landtag gekommen, der damals von der Staatssicherheit ins Gefängnis gebracht wurde, nach Bautzen. „Er hat mich mitgenommen zu dem Ort, wo er im Blut gelegen hat.“ Dann kommt die Botschaft, die der Ministerpräsident setzen will: „Lieber Andreas Möller: Dir und allen deinen Kameraden kann ich nur die Bitte um Entschuldigung überbringen.“
Seine Wahl, sagt Ramelow, werde jetzt von einigen als historischer Moment bezeichnet. Doch dies stimme nicht. Der wahre historische Moment, den habe es schon vor 25 Jahren gegeben, am 4. Dezember in Erfurt, als die erste Bezirksverwaltung der Stasi friedlich besetzt wurde.
Der Gang, der vom Plenarsaal zum Fraktionsgebäude führt, ist verstopft von Journalisten, Fotografen, Kameraleuten, Beamten und sonstigen Interessierten. In einem Nebenraum, abgeschirmt vom Trubel, stehen die Menschen zusammen, die gerade die politische Macht in Thüringen übernehmen. Sie sind, für eine kurze Weile, unter sich. Urkunden werden verteilt und Blumensträuße. Es gibt Sekt.
Dann treten sie, es sind je fünf Frauen und Männer, hinaus in das gleißende Licht der Scheinwerfer vor eine blaue Wand, an der, ganz oben rechts, „Freistaat Thüringen“ steht. Das hier ist sie also: die erste rot-rot-grüne Landesregierung, die es je in der Bundesrepublik gab.
Ein Mann, er steht in der Mitte, tritt nach vorne ans Mikrofon und sagt: „Mein Name ist Bodo Ramelow. Sie werden mich noch öfter sehen.“
Ein Widerspruch namens Ramelow
Die Regierung, die nun ihre Arbeit beginnt, ist ohne diesen Ministerpräsidenten nicht denkbar. Ohne ihn hätte seine Landespartei nie diesen Wahlsieg erreicht. Ohne ihn hätten die Verhandlungen kein erfolgreiches Ergebnis gehabt. Ja, ohne ihn gäbe es wohl nicht einmal die Linkspartei in dieser Form.
Gleichzeitig ist der Mann ein einziger Widerspruch. Ein Westdeutscher, der in Ostdeutschland eine Heimat fand. Ein gläubiger Protestant in einer atheistischen Partei. Ein Gewerkschafter, der wie ein Unternehmer denkt.
Geboren wird Bodo Ramelow am 16. Februar 1956 in Niedersachsen, in Osterholz-Scharmbeck. Er hat drei Geschwister, als er elf Jahre alt ist, stirbt der Vater an Gelbfieber, er hatte die Krankheit aus dem Krieg mitgebracht. Für Ramelow ist dies das zentrale Trauma seiner Kindheit. Der Vater sei in seinen Armen gestorben, sagt er später. „Die Dimension war für mich unbegreiflich.“26
Seine Mutter ist eine geborene Fresenius, ihr Urahn Johann Philipp Fresenius taufte Johann Wolfgang Goethe. Doch der große Name zählt nichts, sie muss als Hauswirtschafterin die Familie allein ernähren. Ihr Sohn Bodo bereitet ihr Sorgen. Seine drei Geschwister lernen Instrumente, er kann es nicht. Das Schreiben fällt ihm schwer, in der Schule bekommt er auf Diktate Fünfen. Dass er Legastheniker ist, ahnt niemand. Die Mutter ist überfordert, sie schlägt ihn, auch mit der Peitsche27. Ramelow wird rückblickend von „Gewaltorgien“ sprechen.
Nach dem Abschluss der Hauptschule lernt er bei der Kaufhauskette Karstadt in Gießen Einzelhandelskaufmann – wo übrigens zur selben Zeit der Jura-Student Volker Bouffier aushilft. Die beiden können nicht ansatzweise ahnen, dass sie sich später als Ministerpräsidenten wiederbegegnen werden.
Ramelow ist 19, als endlich die Legasthenie diagnostiziert wird. Er holt die Mittlere Reife nach und erwirbt die kaufmännische Fachhochschulreife. Er will Weinbau studieren, doch während des vorgeschriebenen Praktikums in der Pfalz plagen ihn nach der Weinlese Rückenprobleme. Der Arzt verschreibt ihm ein Korsett und redet ihm die Önologie aus: Mit dieser Wirbelsäule könne er nicht in der Landwirtschaft arbeiten. Und so beginnt Ramelow, in Gießen Betriebswirtschaft zu