Demokratie unter Schock. Martin Debes

Demokratie unter Schock - Martin Debes


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einem Semester.

      Der Mensch und Politiker Ramelow lässt sich ohne all diese Erfahrungen nicht erklären, ohne den Tod des Vaters, ohne die schulischen Versagensängste, ohne den kaputten Rücken. Der unbändige Wille, es sich und allen anderen zu beweisen, gepaart mit einer großen Verletzlichkeit: Das alles wird in seiner Jugend geprägt.

      Hinzu kommt der Einfluss von Marburg, einer Universitätsstadt, die in den 1970er- und 1980er Jahren ein besonders linkes und radikales Studentenmilieu beherbergt. Die von der SED finanzierte Deutsche Kommunistische Partei, die in der restlichen Bundesrepublik eine Splitterpartei ist, gilt als wichtige Stimme in der Stadt und in der Gewerkschaftsszene.

      Eberhardt Dähne, ein örtlicher Funktionär der Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV), sitzt für die DKP im Stadtrat.28 Als Ramelow in die Gewerkschaft eintritt, wird der Kommunist zu seinem Mentor, gemeinsam engagieren sie sich gegen den Radikalenerlass, der DKP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst fernhalten soll. In dieser Zeit beginnt sich auch der Verfassungsschutz für den aktivistischen Filialleiter zu interessieren.

      Es dauert nicht lange, bis Ramelow hauptamtlich in die Gewerkschaft wechselt – und den wohl wichtigsten Schritt in seinem Leben vollzieht. Im Herbst 1990 zieht er nach Erfurt, um als Landesvorsitzender die Thüringer HBV aufzubauen. Der Mann aus Marburg macht den wilden Osten zu seinem Revier: Als Macher, der die alte Konsum-Genossenschaft der DDR mit ihren hunderten Lebensmittelgeschäften abwickelt und als Kämpfer, der gegen die Schließung der nordthüringischen Kaligruben streitet.

      Ramelows Privatleben hat dramatische Episoden. Er heiratet dreimal, seine beiden Söhne aus erster Ehe, Victor und Philip, erkranken an Krebs, so wie seine Mutter und sein Schwiegervater. Auch aus diesen Erfahrungen heraus tritt Ramelow wieder in die evangelische Kirche ein, die er als junger Mann im Protest verließ.

      Politisch nähert Ramelow sich der PDS an, tastend, in vorsichtigen Schritten. 1994 spricht er auf der zentralen Maifeier der Partei in Erfurt. 1997 gehört er zu den Hauptinitiatoren der Erfurter Erklärung, die für eine Politikwende und ein rot-rot-grünes Bündnis wirbt, und die auch Schriftsteller wie Günter Grass oder Walter Jens unterzeichnen. Später wird Ramelow die Erklärung zum Vorläuferdokument von Rot-Rot-Grün erklären, einem Modell von „drei Parteien auf gleicher Augenhöhe“, mit „mehr Demokratie und weniger Parteibuch“.29

      Warum wird er nicht Sozialdemokrat? Immerhin ist er Gewerkschafter und vertritt linke SPD-Positionen. Ein Grund ist schlichter Trotz. „Bei der Einstellung in die Gewerkschaft lag immer der Aufnahmeschein der SPD dabei“, sagt Ramelow. „Das stieß mich ab.“ Was ihn noch störte: Der Radikalenerlass und der Korruptionsskandal um den DGB-Wohnungsbaukonzern „Neue Heimat“ in den 1980er Jahren, in den viele sozialdemokratische Gewerkschafter verwickelt waren. Zumal, als Ramelow den Einstieg in die Politik erwägt, haben sich die linken Hoffnungen auf die rot-grüne Politikwende unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder zerschlagen. In Thüringen regieren die Sozialdemokraten sowieso unter Führung der CDU.

      Dass sich Ramelow schließlich vor der Landtagswahl 1999 für die PDS entscheidet, hat aber auch machtpolitische Gründe. Die SPD würde ihm, dem Quereinsteiger aus dem Westen, kaum Platz 2 auf der Landesliste freiräumen – so, wie es die PDS gerne tut. Das Wahlergebnis wird für die Partei zum Triumph. Sie wächst auf 21,3 Prozent und überholt erstmals die SPD.

      Ramelow wird sofort einer der Stellvertreter von Fraktionschefin Gabi Zimmer. Als diese ein Jahr später zur Bundesvorsitzenden aufsteigt, übernimmt er ihren Posten im Landtag. Er ist fortan die unbestrittene Nummer 1 der PDS in Thüringen, die jeweiligen Parteivorsitzenden arbeiten ihm zumeist ohne Murren zu. Fünf Jahre später, 2004, steigert die PDS ihr Ergebnis nochmals um 4,8 Punkte auf 26,1 Prozent. Dies ist das höchste Ergebnis, dass die Partei bis dahin jemals in Deutschland erreichte. Nur weil gleichzeitig die SPD nochmals verliert und die Grünen knapp an der 5-Prozent-Hürde scheitern, reicht es nicht für eine rot-rot-grüne Mehrheit gegen die CDU.

      Spätestens jetzt ist Ramelow ein Star in der PDS. Als Kanzler Schröder im Jahr 2005 die Neuwahl des Bundestags einleitet, gewinnt die ein Jahr zuvor gegründete WASG, die bisher nur ein obskures Sammelbecken enttäuschter Ex-Sozialdemokraten war, mit dem Übertritt des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine an Dynamik. Ramelow stellt sich nach kurzem Zögern mit an die Spitze jener, die aus der SPD-Abspaltung und der PDS eine neue Partei formen wollen. Als Fusionsbeauftragter organisiert er erst eine gemeinsame Wahlliste und später die Gründung der Linkspartei. Und er kandidiert erfolgreich für den Bundestag, wo er die Funktion eines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden übernimmt.

      Die Linke will endlich die gesamtdeutsche Partei sein, welche die PDS nie sein konnte, weil an ihr das Stigma der SED-Vergangenheit und der Ruf einer reinen Ostvertretung haftete. Der Imagewandel gelingt, dank Hartz IV, Gysi und Lafontaine und ihres Vollstreckers aus Erfurt.

      Doch Ramelow kommt nie wirklich in Berlin an. Weil er den Zusammenschluss mit harten Ansagen und gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen vorantreibt, macht er sich Feinde. Und er reibt sich an den Parteivorsitzenden Lafontaine und Gysi. Bald wächst der Druck aus Berlin und Erfurt, sich wieder daheim als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2009 zur Verfügung zu stellen. Der Wahlkampf wird auf Ramelow zugeschnitten, der seinen kleinen Ohrring ablegt und fast nur noch im Anzug auftritt. Obwohl die Linke nochmals hinzugewinnt und die Regierungsübernahme einer rot-rot-grünen Koalition greifbar nahe liegt, und obwohl Ramelow auf das Ministerpräsidentenamt verzichtet, entscheidet sich die SPD unter Christoph Matschie für die Koalition mit der CDU.

      Der Linke versucht sich als pragmatischer Oppositionsführer, der trotz allem die Verbindung zur regierenden SPD pflegt und gleichzeitig seine Partei strategisch wie personell neu aufstellt. Er entschlackt das Programm und organisiert den Generationswechsel. Im November 2013 übernimmt die 34-jährige Susanne Hennig-Wellsow den Landesvorsitz, ihr Stellvertreter wird der 40-jährige Steffen Dittes. Schon aus Altersgründen gehörten beide nie der SED an. Auch wenn sie eine Nähe zur autonomen Szene besitzen: Sie stehen für den Regierungsanspruch der Partei, die in Ostdeutschland ohnehin deutlich pragmatischer auftritt als im Westen.

      Doch die Enttäuschung von 2009 hängt Ramelow lange nach, zuweilen scheint er monatelang aus dem politischen Geschehen abzutauchen. Die Popularität der Ministerpräsidentin in ihren ersten Amtsjahren, die Erholung der CDU, der Aufstieg der AfD, die auch Proteststimmen von der Linken abzieht: Das alles lässt in den Umfragen die rot-rot-grüne Mehrheit erodieren, eine Wechselstimmung ist nicht mehr zu erkennen.

      Das ändert sich im Vorwahljahr. Ab dem Sommer 2013 führt das personelle Missmanagement Lieberknechts dazu, dass die CDU in den Umfragen geradezu abstürzt. Ramelow wirkt fokussiert, er führt einen erfolgreichen, komplett auf sich zugeschnittenen Wahlkampf – an dessen Ende es ein Foto-Finish gibt: Es reicht nach der Wahl im September 2014 im Landtag mit genau einer Stimme Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Hätte die CDU nur ein paar tausend Wählerstimmen mehr erhalten: Ramelow wäre zur historischen Fußnote geschrumpft.

      KAPITEL 2

      ROTES LAND

      Doch nun, mit seiner Wahl am 5. Dezember 2014, hat sich der Linke Bodo Ramelow einen Platz in den Geschichtsbüchern erobert. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik, an der Spitze der ersten rot-rot-grünen Koalition.

      Sein Kabinett besteht aus Mitgliedern dreier Parteien und jeweils zur Hälfte aus Männern und Frauen. Ein Drittel der Ministerinnen und Minister stammt ursprünglich aus Westdeutschland, ein Drittel wurde in Sachsen und Berlin angeworben, ein Drittel ist konfessionslos. Finanzministerin Heike Taubert und Innenminister Holger Poppenhäger gehörten schon Lieberknechts Kabinett an. Neu ist Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee, der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Bundesverkehrsminister der SPD, der es mit knapp 60 noch einmal in der Provinz versuchen will – und der fünf Jahre zuvor schon mal als möglicher Thüringer Ministerpräsident gehandelt worden war.

      Bei den Grünen hat die bisherige Fraktionschefin Anja Siegesmund das gestutzte Umweltressort übernommen, der Richter Dieter Lauinger führt das um Migration und Verbraucherschutz


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