Demokratie unter Schock. Martin Debes
Birgit Keller übernimmt das Bau- und Verkehrsministerium, das nun auch für Landwirtschaft und Forst zuständig ist.
Im strategischen Zentrum der Regierung steht Staatskanzleichef Benjamin Immanuel Hoff, der zusätzlich als Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Kultur amtiert. Er gilt als linkes Wunderkind: 1990, da ist er noch Schüler, tritt er in Berlin in den sozialistischen Jugendverband ein und gelangt so in die PDS. Mit 19 wird er erstmals ins Abgeordnetenhaus der Hauptstadt gewählt. Nebenher studiert er Sozialwissenschaften und promoviert30.
Im Jahr 2006, fast parallel zur Gründung der Partei Die Linke, wird Hoff im zweiten rot-roten Berliner Senat Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. 2009 beruft ihn Ramelow in Thüringen in sein Schattenkabinett. 2011 erlebt Hoff in Berlin mit, wie Rot-Rot nach Fehlentscheidungen und inneren Konflikten die Mehrheit verliert. Inzwischen ist er, der nebenbei eine Honorarprofessur an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin übernommen hat, ein überzeugter Realpolitiker. Mit dem Linksaußen-Flügel seiner Partei kann er genauso wenig anfangen wie dieser mit ihm.
Der Staatskanzleichef betrachtet Thüringen als Modellversuch. Sein Ziel ist, frei nach Antonio Gramsci, eine linke Hegemonie in Deutschland. In einem Buch, das er 2014 veröffentlicht, klingt schon im Titel eine alte Doktrin Lenins an: „Die Linke: Partei neuen Typs?“31 Darin entwirft Hoff das Bild einer Organisation, die über eine kulturelle Hoheit in der Gesellschaft zur politischen Herrschaft gelangt. Zugleich distanziert er sich jedoch von den totalitären Tendenzen Gramcis, ja, er kehrt ihn sogar strategisch um.
Es ist die Linke-Vorsitzende Katja Kipping, die Hoff im Vorwort des Buches besorgt fragt: „Du meinst, Rot-Rot-Grün muss nicht von Anfang an als ‚hegemoniales Projekt‘ angelegt sein – als ein Projekt mit dem gemeinsam geteilten Anspruch, grundlegend andere politische Weichenstellungen vorzunehmen.“ Dies sehe sie anders: „So offen die Realisierbarkeit eines solchen Projektes weiterhin ist, so unklar bleibt meines Erachtens, wie ein Politikwechsel auf andere Art und Weise, etwa im Sinne eines ‚business as usual‘, aus der Regierung heraus durchsetzbar sein soll.“32
Doch genau das ist, aus Sicht Hoffs, das Kernziel der Thüringer Koalition. Im Alltag linker Regierungspolitik, aus der Selbstverständlichkeit eines linken Ministerpräsidenten heraus, soll die geistig-moralische Hegemonie erlangt werden. Dies ist auch der strategische Ansatz von Ramelow. Die Linie führt über die „Erfurter Erklärung“ bis zurück zum „Erfurter Programm“ der SPD von 1891. Darin stand: Die Arbeiterklasse könne „den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein“ – dies aber über freie Wahlen sowie den friedlichen Kampf um soziale und gesellschaftliche Rechte.
Am 6. Dezember 2014, einen Tag nach der Wahl, trifft sich Ramelow in Elgersburg mit dem Bundesvorstand der Linken. In dem Dorf am Rande des Thüringer Wald besitzt die Partei eine Immobilie aus KPD-Zeiten, die nun als Hotel dient. Nachdem der Sekt mit Katja Kipping und ihrem Co-Vorsitzenden Bernd Riexinger getrunken ist, sagt er zu ihnen: „Ich bin der Ministerpräsident aller Thüringer.“ Denn er halte es mit Bernhard Vogel: Zuerst komme das Land, dann die Partei, dann die Person. An diese Reihenfolge sollten sie sich gewöhnen.
Ramelows Einschätzung ist realistisch genug. Mit linker Ideologie wird die Koalition weder zusammenhalten noch Wahlen gewinnen. Ohne die „Augenhöhe“ gegenüber den kleineren Partnern von SPD und Grünen, von der Ramelow ohne Unterlass redet, ist die knappe Mehrheit im Landtag gefährdet. Ohne den Nimbus der Überparteilichkeit würde er seine bürgerlichen Wähler verlieren.
Und dann ist natürlich das Ego. Ramelow sieht sich inzwischen selbst als historische Figur. „Meine Wahl besiegelt das Ende der DDR.“33
Es wird schmutzig
Während die Linke im Dezember 2014 die Macht übernimmt, strebt der Machtkampf in der Thüringer Union auf sein schmutziges Finale zu. An dem Tag, an dem Ramelow sich von seiner Partei in Elgersburg emanzipiert, veröffentlicht der „Spiegel“ vorab die Zitate aus der internen Beratung des CDU-Fraktionsvorstands, die Anfang November mutmaßlich heimlich mitgeschnitten wurde. Die Aufnahme ist offenbar erst jetzt an das Magazin durchgestochen worden.
Der Tenor des Artikels: Mohring habe versucht, Ramelow mit Hilfe der AfD zu verhindern. Das „Thüringer Komplott“ besitze „Sprengkraft weit über das kleine Bundesland hinaus“34, schreiben die Journalisten Melanie Amann und Peter Müller. Die Rollen sind klar verteilt. Mohring ist der Mann, der mit Hilfe Höckes Ministerpräsident werden wollte und so zitiert wird: „Wenn sie [Angela Merkel] will, dass Ramelow nicht MP wird, brauchen wir die AfD, ob’s ihr passt oder nicht.“ Lieberknecht wird als Mahnerin dargestellt, die den Fraktionschef per SMS warnte: „Lieber Mike, für jeden Tag, den ich Deinen Namen zu früh nenne, haben wir eine deutschlandweite AfD-Debatte am Hals.“
Höcke tritt in dem Artikel als Zeuge der Anklage auf: „[Er] sagt, dass die Gespräche mit der CDU mehr als ein flüchtiger Flirt waren. ‚Es gab ein Treffen und danach regelmäßige Telefonate.‘ In den Gesprächen habe Mohring keinen Hehl daraus gemacht, dass er von der ‚Doktrin einer totalen Blockade gegen die AfD‘ wenig halte. Stattdessen hätten er und Mohring ‚gemeinsam die Lage analysiert‘ und alle Optionen durchgesprochen, wie sich ein Ministerpräsident Ramelow verhindern ließe.“
Für Mohring könnte der Zeitpunkt dieser Veröffentlichung kaum ungünstiger sein. Der CDU-Bundesparteitag, auf dem er wieder für den Bundesvorstand kandidiert, steht unmittelbar bevor. Kurz darauf soll der Landesparteitag stattfinden, auf dem er sich zum Landeschef wählen lassen will.
Der Fraktionschef vermutet die Abhöraktion eines engen Ex-Mitarbeiters, mit dem er sich verstritten hatte und der gerade seinen letzten Arbeitstag absolviert hat. Er erstattet Strafanzeige gegen Unbekannt, Beamte des Landeskriminalamts filzen den Sitzungsraum, in dem der Vorstand tagte, später durchsuchen sie auch die Wohnung des Verdächtigten. Aber die Aufnahme wird nicht gefunden.
Mohring beginnt nun zu verstehen, dass er diesen Stellungskrieg nicht gewinnen kann. Er muss sich, zumindest vorerst, mit jenen arrangieren, denen er abgrundtief misstraut. Am Tag nach der Durchsuchung der Fraktion sitzt er mit Noch-Generalsekretär Voigt im Wohnhaus von Landtagspräsident Carius in Sömmerda und bietet seinem Feind den Stellvertreterposten an. Christian Hirte wird als zweiter Stellvertreter nominiert. Der Rechtsanwalt aus Bad Salzungen sitzt seit 2008 im Bundestag und ist keinem innerparteilichen Lager eindeutig zuzuordnen. Dritte Stellvertreterin soll die frühere Parlamentschefin Diezel werden, die ihren Wahlkreis nicht wieder gewinnen konnte.
Damit wird der Generationswechsel endgültig vollzogen. An der Spitze stehen nicht mehr jene, die aus ihrem Beruf heraus von der Wende 1989 in die Politik gewürfelt wurden, sondern jene, die sich schon während des Studiums bewusst für eine politische Karriere entschieden haben. Mohring ist knapp 43 Jahre alt, Voigt 37. Hirte und Carius sind 38. In einer gemeinsamen Stellungnahme heißt es: „Wir müssen die Situation als Chance sehen, einen gemeinsamen Aufbruch zu starten“35. „Vertrauen und Geschlossenheit“ seien „unerlässlich“.
Am Tag nach dem Burgfrieden beginnt in der Kölner Messe der Bundesparteitag der CDU. Die Vorsitzende Angela Merkel attackiert die Sozialdemokraten, mit denen sie im Bund regiert, für ihren Wechsel in Thüringen. Die Wahl Ramelows sei eine „Bankrotterklärung“, ruft die Kanzlerin. Dass sich diese „stolze linke Volkspartei“ in die Juniorrolle begebe, werfe die Frage auf: „Wie viel kleiner will die SPD sich eigentlich noch machen?“36
Mohring versucht, in seiner Bewerbungsrede darauf aufzubauen. Ein Votum für ihn werde seine Landespartei im Kampf gegen Ramelow stärken. „Helfen Sie, dass wir gemeinsam die rote Fahne auf der Staatskanzlei wieder abhängen können, damit Thüringen wieder gut regiert wird“, ruft er.37
Doch Mohring wird für sein angeblich versuchtes Komplott abgestraft. Er bekommt das zweitschlechteste Ergebnis aller Kandidaten und fliegt aus dem Vorstand. Wenig später sagt Bundestagsfraktionschef Volker Kauder in seiner Rede: „Wir haben einen klaren Beschluss, dass wir mit der AfD nicht zusammenarbeiten.