Theorie und Therapie der Neurosen. Viktor E. Frankl
der Dimension der Zeit.13
Kehren wir nunmehr zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, so können wir die Neurose definieren als eine psychogene Erkrankung, aber mehr als dies, als eine primär psychogene Erkrankung. Zumindest gilt diese Definition von der Neurose im eigentlichen Sinne – also nicht von Pseudoneurosen – oder, wie wir auch sagen können, von der Neurose im engeren Wortsinn.
Wenn wir aus unserem Schema 4 das rechte untere Feld sozusagen herausvergrößern, dann ergibt sich, daß es sich bei den Organneurosen – als psychogenen phänosomatischen Erkrankungen – jeweils um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich handelt. Wenn wir nun diesem Fall einer echten (Organ-) Neurose gegenüberstellen Pseudoneurosen, also Neurosen nicht im eigentlichen Wortsinn, sondern in einem weiteren Sinne, dann hätten wir zunächst zu unterscheiden zwischen „Auswirkung“ und bloßer „Auslösung“. (Diese Unterscheidung zwischen Auswirkung bzw. Verursachung einerseits und andererseits bloßer Auslösung ist nicht nur wichtig in bezug auf Neurosen, sondern auch auf Psychosen: die Psychosen als somatogene [phänopsychische] Erkrankungen können unter Umständen – trotz dieser ihrer prinzipiellen Somatogenese – sehr wohl auch vom Psychischen her ausgelöst sein.)
Es gibt nämlich auch Erkrankungen, die vom Seelischen her nur eben ausgelöst sind – und nicht eigentlich verursacht, somit nicht eigentlich seelisch bedingt, nicht psychogen im engeren Wortsinn. Erkrankungen nun, die vom Seelischen her nicht verursacht, sondern bloß ausgelöst sind, bezeichnen wir als psychosomatische Erkrankungen (Abb. 6).
Auch ist es möglich, daß es sich wohl um eine echte Auswirkung handelt, aber nicht – wie im Falle der echten Organneurose – um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich, vielmehr umgekehrt um eine Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich. Wie wir bereits wissen, sind solche Erkrankungen – unserem Schema 4 gemäß phänopsychisch und somatogen – ex definitione Psychosen; im besonderen Zusammenhang, in dem wir nunmehr von solchen phänopsychisch-somatogenen Erkrankungen sprechen, handelt es sich jedoch vorwiegend um Funktionsstörungen vegetativer und endokriner Art, die mitunter monosymptomatisch verlaufen und deren Monosymptom eben ein psychisches ist, und in diesem Zusammenhang wäre es natürlich ausgeschlossen, solche Erkrankungen als psychotisch zu qualifizieren. (Vergleiche jene Fälle, die Hans Hoff im Auge hat, wenn er von „angeborenen oder erworbenen Anomalien der vegetativen Reaktionen“ spricht, bei denen „der Patient nach der sympathischen oder parasympathischen Richtung ausschlägt“ und bei denen „Anomalien des innersekretorischen Drüsenkonzeptes eine Rolle spielen“.) Wir sehen also bewußt von Psychosen ab, und wir dürfen dies auch, da wir ja bloß von Neurosen und Pseudoneurosen oder von Neurosen im engeren und weiteren Sinne zu sprechen haben. Nun, neurosenähnliche Zustände, bei denen es sich um die Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich handelt, bezeichnen wir als funktionelle Erkrankungen.
Abb. 6
Auf die soeben andeutungsweise besprochenen „funktionellen“ Auswirkungen (vegetativer und endokriner) somatischer Funktionsstörungen im psychischen Bereich pflegt nun der betreffende Patient irgendwie psychisch zu reagieren. Es handelt sich dann also um psychische Rückwirkungen auf ursprünglich somatische Störungen. Und diese Rückwirkungen, diese Reaktionen, bezeichnen wir als reaktive Neurosen. Wobei wir allerdings ergänzend bemerken müssen, daß es sich bei den reaktiven Neurosen auch um neurotische Reaktionen auf etwas Psychisches handeln kann, das nicht – eben im Sinne funktioneller Erkrankungen – somatogen ist, sondern psychogen.
Nun kann es sein, daß gleichsam „hinter“ einer reaktiven Neurose bzw. einer neurotischen Reaktion ein Arzt steht, insofern, als der Anlaß zur neurotischen Reaktion eine unbedachte oder bedenkenlose Äußerung des Arztes war. In diesem Falle – sozusagen einer Untergruppe der reaktiven Neurosen – sprechen wir von iatrogenen Neurosen.
Und es kann sein, daß gleichsam „jenseits“ der Psychogenese einer psychogenen Neurose (nunmehr sprechen wir gar nicht mehr von bloßen Organneurosen) die eigentliche Ursache der Erkrankung nicht im psychischen Bereich zu suchen ist, sondern in einem Bereich, der wesentlich über dem psychischen hinausliegt: im noëtischen Bereich, im Bereich des Geistigen. In solchen Fällen, wo letztlich ein geistiges Problem, ein Gewissenskonflikt oder eine existentielle Krise der betreffenden Neurose ätiologisch zugrunde liegt, sprechen wir von noogener Neurose.14
Beim geistigen Bereich handelt es sich um jene Dimension, die wir bisher außer acht gelassen haben, als wir vom Somatischen und Psychischen als je einer Dimension des Menschseins – und möglichen menschlichen Krankseins – sprachen; zum vollen Menschsein – zu dessen „Ganzheit“ (siehe oben) – gehört diese dritte, die geistige Dimension aber nicht etwa nur mit hinzu als eine eigene Dimension, sondern sie ist sogar die, wenn auch nicht einzige, so doch eigentliche Dimension des Menschseins insofern, als sich der Mensch als solcher überhaupt erst konstituiert in jenen (geistigen) Akten, in denen er sich sozusagen aus der somatischpsychischen Ebene heraus in die geistige Dimension erhebt.
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