Theorie und Therapie der Neurosen. Viktor E. Frankl
kam, „auf der Lauer“; denn sie wollte sich endlich einmal in ihrer Weiblichkeit bewähren und bestätigen. Eben damit war jedoch ihre Aufmerksamkeit aufgeteilt zwischen dem Partner und ihr selbst. All dies mußte aber auch schon den Orgasmus vereiteln; denn in dem Maße, in dem man auf den Sexualakt achtgibt, in ebendemselben Maße ist man auch schon unfähig, sich hinzugeben. – Ich redete ihr ein, ich hätte im Augenblick keine Zeit, die Behandlung zu übernehmen, und bestellte sie in 2 Monaten wieder. Bis dahin aber möge sie sich nicht weiter um ihre Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zum Orgasmus kümmern – die würde dann im Rahmen der Behandlung ausgiebig zur Sprache kommen – , sondern nur um so mehr während des Geschlechtsverkehrs ihre Aufmerksamkeit dem Partner zuwenden. Und der weitere Verlauf gab mir recht. Was ich erwartet hatte, trat ein. Die Patientin kam nicht erst nach 2 Monaten wieder, sondern bereits nach 2 Tagen – geheilt. Die bloße Ablösung der Aufmerksamkeit von sich selbst, von ihrer eigenen Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zum Orgasmus – kurz: eine Dereflexion – und die nur um so unbefangenere Hingabe an den Partner hatten genügt, um erstmalig den Orgasmus herbeizuführen.
Mitunter kann unser „Trick“ nur ausgespielt werden, wenn weder der eine noch der andere Partner eingeweiht ist. Wie erfinderisch man in einer solchen Situation sein muß, erhellt ein folgender Bericht, den ich Myron J. Horn – einem ehemaligen Studenten von mir – verdanke:
„Ein junges Paar suchte mich wegen der Impotenz des Mannes auf. Seine Frau hatte ihm wiederholt gesagt, daß er ein miserabler Liebhaber (,a lousy lover‘) sei und sie nunmehr gedenke, sich mit anderen Männern einzulassen, um endlich einmal wirklich befriedigt zu werden. Ich forderte die beiden nun auf, eine Woche hindurch jeden Abend mindestens eine Stunde lang nackt miteinander im Bett zu verbringen und zu tun, was ihnen behagt, das Einzige, das aber unter keinen Umständen zulässig ist, sei der Koitus. Eine Woche später sah ich sie wieder. Sie hätten versucht, meinten sie, meine Anweisungen zu befolgen, aber ,leider‘ sei es dreimal zum Koitus gekommen. Ich gab mich erzürnt und bestand darauf, daß sie sich wenigstens in der kommenden Woche an meine Instruktionen halten. Es vergingen nur wenige Tage, und sie riefen mich an, um abermals zu berichten, daß sie außerstande gewesen waren, mir zu folgen, vielmehr war es jetzt sogar mehrmals täglich zum Koitus gekommen. Ein Jahr später erfuhr ich dann, daß es bei diesem Erfolg auch geblieben war.“
Es ist aber auch möglich, daß wir nicht den Patienten, sondern seine Partnerin in unseren „Trick“ einweihen müssen. So geschah es im folgenden Falle.
Die Teilnehmerin an einem Logotherapie-Seminar, das Joseph B. Fabry an der Universität von Berkeley hielt, wandte unsere Technik unter seiner Führung auf ihren eigenen Partner an, der von Beruf Psychologe war und als solcher eine Sexualberatungsstelle leitete. (Ausgebildet worden war er von Masters und Johnson.) Dieser Sexualberater erwies sich nun selber und seinerseits als potenzgestört. „Using a Frankl technique“, – so wird uns berichtet – „we decided that Susan should tell her friend that she was under doctor’s care who had given her some medication and told her not to have intercourse for a month. They were allowed to be physically close and do everything up to actual intercourse. Next week Susan reported that it had worked.“ Dann gab’s aber einen Rückfall. Fabrys Studentin Susan war aber erfinderisch genug, um diesmal allein mit der Potenzstörung ihres Partners fertig zu werden: „Since she could not have repeated the story about doctor’s orders she had told her friend that she had had seldom, if ever, reached orgasm and asked him not to have intercourse that night but to help her with her problem of orgasm.“ Sie übernahm also die Rolle einer Patientin, um ihrem Partner die Rolle des praktizierenden Sexualberaters aufzudrängen und ihn so in die Selbst-Transzendenz zu lotsen. Damit wurde aber auch schon die Dereflexion herbeigeführt und die so pathogen gewesene Hyperreflexion ausgeschaltet. „Again it worked. Since then no more problem with impotence occurred.“
Gustave Ehrentraut, ein kalifornischer Sexualberater, hatte einmal einen Patienten zu behandeln, der seit 16 Jahren an Ejaculatio praecox litt.
Zuerst wurde der Fall verhaltenstherapeutisch angegangen, aber auch nach 2 Monaten stellte sich kein Erfolg ein. „I decided to attempt Frankl’s paradoxical intention“, heißt es dann weiter. „I informed the patient that he wasn’t going to be able to change his premature ejaculation, and that he should, therefore, only attempt to satisfy himself.“ Als Ehrentraut dem Patienten dann noch empfahl, den Koitus so kurz wie nur möglich dauern zu lassen, wirkte sich die paradoxe Intention so aus, daß die Dauer des Koitus auf das Vierfache verlängert werden konnte. Zu einem Rückfall kam es seither nicht.
Ein anderer kalifornischer Sexualberater, Claude Farris, überließ mir einen Bericht, aus dem hervorgeht, daß die paradoxe Intention auch in Fällen von Vaginismus anwendbar ist.
Für die Patientin, die in einem katholischen Kloster erzogen wurde, war die Sexualität ein strenges Tabu. In Behandlung kam sie wegen heftiger Schmerzen während des Koitus. Farris wies sie nun an, die Genitalgegend nicht zu entspannen, sondern die Scheidenmuskulatur möglichst zu innervieren, so daß es ihrem Mann unmöglich wird, in die Scheide einzudringen. Eine Woche später erschienen die beiden abermals, um zu berichten, daß der Koitus das erste Mal in ihrem Eheleben schmerzfrei gewesen war. Rezidiv war keines zu verzeichnen. Das Bemerkenswerte an diesem Bericht ist aber der Einfall, die paradoxe Intention einzuschalten, um Entspannung zustande zu bringen.
In diesem Zusammenhang soll auch ein Experiment von David L. Norris, einem kalifornischen Forscher, erwähnt werden, in dessen Rahmen die Versuchsperson Steve angewiesen wurde, sich möglichst zu entspannen, was sie auch versuchte, aber ohne Erfolg, da Steve zu aktiv auf dieses Ziel lossteuerte. Norris konnte das sehr genau beobachten, da die Versuchsperson in einen Elektromyographen eingespannt war, der ständig auf 50 Mikro-Ampere ausschlug. Bis Steve von Norris erfuhr, daß er es in seinem ganzen Leben nicht dazu bringen werde, sich wirklich zu entspannen. Da platzte Steve heraus: „Soll die Entspannung der Teufel holen. Ich pfeif auf Entspannung.“ Und da schnellte auch schon der Zeiger des Elektromyographen auf 10 Mikro-Ampere hinunter. „With such speed“, berichtet Norris, „that I thought the unit had become disconnected. For the succeeding sessions Steve was successful because he was not trying to relax.“
Etwas Analoges gilt auch von den diversen Methoden, um nicht zu sagen Sekten, der Meditation, die heute nicht weniger „in“ ist als die Entspannung. So schreibt mir eine amerikanische Psychologieprofessorin: „I was recently trained in doing Transcendental Meditation but I gave up after a few weeks because I feel I meditate spontaneously on my own, but when I start meditation formally I actually stop meditating.“
Neurosenlehre und Psychotherapie
... tu laborem et maerorem consideras, ut ponas ea in manibus tuis.
Grundriß der Neurosenlehre
I Neurosenlehre als Problem
Zur Definition und Klassifikation neurotischer Erkrankungen
Den Ausdruck „Neurose“ hat Cullen geprägt (1777). Es würde aber irreführen, wollte man sich, was eine Definition der Neurose anlangt, auf die Definition von Cullen verlassen. Denn seither hat dieser Begriff, wie Quandt und Fervers hervorheben, einen Bedeutungswandel durchgemacht. Und man könnte sagen, daß sich die verschiedenen Bedeutungen mit der Zeit übereinanderkopiert haben. So ist es zu verstehen, daß sowohl Bumke als auch Kurt Schneider überhaupt für die Abschaffung des Ausdrucks „Neurose“ eingetreten sind. Auch Kloos wäre bereit, dafür zu plädieren, hält er doch den Begriff für nur allzu verschwommen und im übrigen auch ganz und gar entbehrlich; doch fügt er selber hinzu, daß sich der Ausdruck anscheinend als unausrottbar erweist.
Im allgemeinen zeigt sich, daß es im einschlägigen Schrifttum zwei Tendenzen gibt, was die Grenzziehung des Neurosenbegriffs anlangt: eine inflationistische und eine deflationistische. Was letztere betrifft, ist ihr markantester Vertreter Werner Villinger, der sich gegen eine Überdehnung des Begriffs, also gegen eine Ausweitung seines Umfangs, ausspricht. Auf der anderen Seite stünde ein Autor wie Rümke, der die Grenzen so weit zieht, daß er die Neurose überhaupt nicht für eine Krankheit, für keine nosologische